Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Elftes Kapitel.

»Botanisches.« – Von den Qualen der Eifersucht. – Das Maifest. – Seltsamer Heimweg.

Blüten und Blumen im Lande. In allen Nestern junge Vögel. Die Alten mit Halmen im Schnabel oder mit Futter. Seltener als vor Wochen eine girrende Liebesweise, nur manchmal von den Ästen traumverlorenes Zwitschern, das wie ein Wiegenlied klingt. Ende Mai.

Es ist großer Übermut in der Welt. Die Hasen humpeln durchs hohe grüne Kornfeld, fett zum Platzen; jetzt in der Schonzeit zu traben, fällt ihnen niemals ein. Das Mäuschen setzt sich dreist in die Sonne; die Eidechse jagt im hohen Graswald nach bunten Fliegen.

Die Kinder lärmen über die Maßen. Die Burschen und jungen Mädel haben liebehungrige Augen.

Der Wald allein bleibt der ernste Hausvater – er stellt alles an seinen Platz. Die Fichten und Tannen, die dem Wintersturm trotzten, stellt er auf die Grate, Bergrücken und Felsen, die kühlen, keuschen Buchen aber an die schattige Nordseite; an der Sandgrube stehen ein paar Föhren, die lichthungrig, himmelsbegierig nach Sonne lechzen und nicht verstehen, wie den Erlen und Weiden unten an den Tümpeln und Bachläufen wohl sein kann bei Fröschen und Kaulquappen. »Versumpftes Gelichter« denken die ernsten Föhren von den trinklustigen Erlen und Weiden; »langweilige dürre Gespenster« urteilen die Erlen und Weiden über die Föhren in magerem Sand.

Von unserem Dorf nach der Kreisstadt führt eine Eichenallee. Gott weiß, wer vor hundert oder zweihundert Jahren auf die gute Idee kam, an diese Talstraße Eichen zu pflanzen. Die Eiche gilt als die Königin des Waldes, weil sie so stark, so schön und vor allen Dingen »so ungeheuer nützlich« ist. Die Eiche thront aber nicht auf der Höhe; sie geht in schöner heiliger Elisabeth-Treue durchs Tal; sie will bei denen sein, die unten in der Tiefe marschieren müssen.

Ich ging manchmal mit Balthassar auf der Thalstraße spazieren. Er ist ein guter Mensch und störte mich nicht, wenn ich in Entzücken geriet über eine Linde, die wie eine edle Mutter ein Häuslein schützte vor Sturm und Blitz, die schnell aufschießt, Schönheit ist, Schutz und heilsame Blüte für mancherlei Weh gewährt und schnell stirbt. Die weiche Linde ist die Mutter unter den Bäumen.

Ich kenne auch die Ahorne, die ein wenig feierlich sind und bei denen man nach Trauben unter dem Weinlaub suchen möchte. Auch die Pappeln kenne ich, die wie schlanke Zypressen ragen und so traurig rauschen, daß man unter ihnen heimliche, alte Gräber vermutet. Und auch die Birken liebe ich, die immer im weißen Kleid sind und immer leise beben wie nervöse Prinzeßchen.

Wenn ich einen Baum nicht kannte und Balthassar fragte, so antwortete er: »Espe«. Ich glaubte es ihm, da ich nie eine Espe gesehen habe.

In einem guten Buch, das ich zu Hause habe, las ich, daß von tausend Keimlingen, die der Wind im Walde aussät, wohl einer zu einem Baume wird; die anderen, auch wenn sie noch so lebensstark sind, sterben aus Mangel an Licht. Nur der Günstling, den der Wind an einen sonnigen Platz trug, der gedeiht. Er gedeiht, auch wenn er der schwächste unter seinen tausend Brüdern war; die anderen neunhundertneunundneunzig in den Schatten gesäten sieht der Mutterstamm im Frühling sterben.

Ich sprach mit Erika Isenloh darüber, als wir zu Balthassars Maifest nach der »Allen Försterei« gingen.

»So ist eigentlich im Mai ein größeres Sterben im Walde als im Herbst,« sagte ich.

»Ja, ein viel größeres!«

Und dann setzte sie hinzu: »Es ist wie überall in der Welt. Wenn Sie tausend Gedanken haben, kommt wohl auch nur einer zur Reife – wer weiß, ob es gerade der beste ist! – Und von tausend Talenten in der Welt wird auch nur eines groß. Weil den andern die Sonne fehlt, die Gunst des Schicksals.«

Wir wanderten neben einander her.

»Sehen Sie diese prächtige Espe!« sagte ich und wies auf einen stattlichen Stamm.

»Es ist eine Ulme!« antwortete sie.

»Aber Herr Balthasar hat mir gesagt, es sei eine Espe.«

»Ja,« lachte sie, »das kann er weder als Amtsvorsteher noch als Lokalschulinspektor dekretieren, daß eine Ulme eine Espe sein soll. Drüben auf der andern Seite steht eine Espe, die werde ich Ihnen mal gelegentlich zeigen. Die Espe ist eine Zitterpappel, die Ulme eine Rüster.«

»Ich staune, daß Sie bei Ihrer Jugend so bewandert sind. Haben Sie denn das alles in der Schule in Breslau lernen können?«

»Nein, aber bei einem Oberförster. Sie wissen ja, daß mein Vater zeitig gestorben ist; da habe ich alle Ferien beim Onkel Oberförster verlebt. Nun, der kannte sich im Walde aus.«

»Aber das rein Menschliche – das werden Sie vom Oberförster nicht gelernt haben. Sie sind über Ihre Jahre ernst und welterfahren, Fräulein Erika.«

Es zuckte leicht in ihrem Gesicht.

»Wie soll ich sagen? – Es heißt ja wohl immer: Schule des Lebens. Ich bin – wie man das so nennt – auf der ›Presse‹ des Lebens gewesen. Da muß man schnell lernen – oder man geht unter.«

Ich wußte, daß das Leben dieses früh vaterlos gewordenen Mädchens nicht leicht gewesen war, und sagte:

»Ich glaube, daß Sie trotz der ›Presse‹ alle Prüfungen des Lebens besser bestehen werden als manche, die eine lange bequeme Schule durchmachten und sich den Luxus leisten konnten, oft sitzen zu bleiben, um dann doch wieder vorwärts geschoben zu werden.«

Sie zuckte die Achseln.

»Wer weiß.«

Werner Lohmann holte uns ein, klimperte auf einer Laute, jodelte, machte einen Witz und lachte aus hellem Gesicht.

Da lachte auch Erika Isenloh und wandte sich ihm zu.

Ich aber wurde stumm, hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge und hatte ein wehes Herz. Erst zürnte ich dem leichtfertigen Maler, der so oberflächlich war und doch so sieghaft leicht dahersprang, dann spottete ich meiner selbst.

Worüber hatte ich mich mit diesem jungen Blut unterhalten? Über den Unterschied zwischen Ulmen und Espen. Und über die Schule des Lebens. Die Karikatur eines Lustspiel-Professors könnte es nicht dümmer machen als ich. Naturgeschichte und Philosophisterei, das ist gerade das rechte, wenn einer auf ein Mädelherz aus ist.

Hubertus, du bist alt. Hast deine Zeit verpaßt, verpraßt, vertändelt. Nun ist's zu spät. Nun bist du steif und feierlich geworden, salbungsvoll und langweilig. Such dir eine Korona, wo du mit solchen Talenten wirken kannst, aber bleibe den jungen Mädchen fern. Bei denen bildest du, auch wenn sie noch so artig zu dir sind, doch nur eine unglückliche oder gar lächerliche Figur.

Junge Mädel! Die wollen lachen, kälbern, vergnügten Unsinn schwatzen, mit possierlicher Ritterlichkeit umgeben sein, unsinnig umschmeichelt werden und immer wieder lachen – und immer wieder schwatzen.

Das kannst du nicht, Hubertus!

Du bist kein Blütenträger mehr, du bist einer aus dem Hochsommer. Aber beim Mai darfst du nicht nach reifem Hafer schnubbern – du altes Roß!

Ich hörte zu, was dieser junge Werner Lohmann zu Erika sprach. Wenn man das aufgeschrieben und dann bei nüchternem Verstand durchgelesen hätte, man wäre erstaunt, daß jemand eigentlich immerfort über nichts sprechen kann, daß sich eine Unterhaltung in so gräßlicher Oberflächlichkeit führen läßt. Ach, ich kannte das ja von den gesellschaftlichen Konversationen aus der Großstadt her. Da habe ich auch manchmal gedacht: O, wenn dieser ganze Stuß stenographisch aufgeschrieben würde und unter Namensnennung veröffentlicht werden müßte, das gäbe eine unerträgliche Blamage!

Aber solange das Plapperwasser melodisch rinnt, ist es vergnüglich und erquicklich. Wie beneidete ich diesen Werner Lohmann um seine bewegliche Borniertheit!

Balthassar holte mich ein. Der sprach nun wenigstens sachlich zu den Fragen des Tages. Ich blieb mit ihm etwas zurück.

»Also, den Kantor und seine Frau habe ich eingeladen, dann die Isenloh und leider auch den Maler Lohmann. Das mußte ich, weil er der Sohn meines Herrn ist. Dann wollte ich auch die Elisabeth Ranke einladen, obwohl sie eigentlich nicht ganz gesellschaftsfähig ist. Herr Lehmann bestand darauf. Aber Fräulein Isenloh bestand ihrerseits darauf, daß Elisabeth Ranke nicht eingeladen würde, ja, sie machte ihr eigenes Erscheinen davon abhängig, daß das nicht geschehe. Da gab Lohmann nach.«

»Sie – die Erika Isenloh – wollte nicht, daß die Elisabeth Ranke eingeladen werde – warum nicht?«

»Was weiß ich? Wahrscheinlich eifersüchtig. Wegen dem Windhund da!«

Mir wurde brühheiß.

»Ja, und die Isenloh läßt sich doch auch nicht mit der Elisabeth zusammen malen. Entweder allein oder gar nicht, hat sie gesagt.«

»So – so!«

Wir stampften nebeneinander her. Nach einer Weile sagte Balthassar:

»Wissen Sie, ich glaube, aus unserem Maifest wird nichts Gescheites. Ein neugeborenes Känguruh kann noch so klein sein, wenn sich eifersüchtiges Weibsvolk reinmischt, ist der Spaß aus. Nach der ›Traube‹ habe ich ja auch eine Einladung geschickt. Ich habe geschrieben: ›Derjenige Zwilling, der sich nicht mit dem herrschaftlichen Stiefelwichser Timm kompromittiert hat, ist zu meinem Maifest freundlich eingeladen‹. Welche, Herr Hubertus, meinen Sie, wird nun kommen, das Mielchen oder das Malchen?«

»Wahrscheinlich gar keine.«

»Sie meinen doch nicht, daß sie beide – o, das wäre furchtbar, das wäre ja furchtbar!«

So gingen wir beiden eifersüchtigen Gesellen mit schwerem Herzen durch den prangenden Maienwald.

Vor uns lachten Werner Lohmann und Erika Isenloh.


Es wurde wirklich nicht viel aus unserem Maifest. Die Frau Försterin hatte sehr gut für alles Leibliche gesorgt und Balthassars Bowle war vom besten Stoff. Aber eine rechte Stimmung kam nicht auf. Es war eine von jenen Gelegenheiten, wo man sich im voraus sagt: heute wollen wir uns aber mal ordentlich amüsieren, und die sich dann als Fehlschläge erweisen. Trauer und Freude lassen sich auf kein Programm setzen. Bei manchem Begräbnis wird mehr gelacht, als bei mancher Hochzeit.

Walter Lohmann hielt eine Rede über das Känguruh und seine Nachkommenschaft. Ich glaube – wenn ich nicht so verbiestert gewesen wäre, hätte ich diese Rede witzig gefunden. Der Maler mimte einen alten Professor und sprach ungeheuer unsinniges Latein. Der Kantor und seine Frau, auch Erika und die Frau Försterin lachten – Balthassar und ich – wir grinsten nur. Denn wir waren eifersüchtig, und so konnten wir keine Objektivität aufbringen.

Von den Mädeln aus der »Traube« war keine erschienen.

»Also – doch!« knirschte Balthasar. »Also beide!«

Was ging mich das an? Wir sangen: »Der Mai ist gekommen« und »Drauß ist alles so prächtig«, aber ich mußte mir Gewalt antun, mitzusingen, und Balthassar schwieg und starrte vor sich hin.

Als wir geendet hatten, sagte der Kantor: »Sie sind ein recht unfroher Wirt, Herr Balthassar! Was ist eigentlich los?'

»Man kann nicht immer fidel sein. Es ist nur gewissen Leuten gegeben, ständig den Hanswurst herauszubeißen.«

»Damit meint er mich,« lachte der Maler laut auf; »mit dem ständigen Hanswurst meint er mich. Herzlichen Dank, Herr Balthassar!«

»Ich meine, wen ich will,« grollte Balthassar, »im übrigen möge sich niemand die Laune verderben lassen. Dazu sind wir ja schließlich nicht hierhergekommen. Man kann manchmal nicht für sich selber. Ich zum Beispiel mußte jetzt an den alten Krügel denken, der im Gefängnis sitzt und dort zum Gotterbarmen das Heimweh hat. Und dieser Mann ist so gewiß unschuldig, wie wir dahier sitzen.«

Schweigen. Dann sagte jemand:

»Wer mag es gewesen sein, der die Bianka erschlug?«

Balthassar entgegnete ernst: »Jemand, an den niemand denkt.«

»Wissen Sie es?«

Balthasar zuckte die Achseln und rief nach neuem Wein.

Der Maler meinte: »Nun sind wir von dem kleinen Känguruh auf die Mordtat gekommen. Die Deutschen werden ja bekanntlich immer tragisch, wenn sie lustig sein wollen. Gut, daß ich damals nicht in der Gegend war; denn daß sonst ich es mit der Bianka gewesen wäre, ist klar. Nicht wahr, Herr Balthassar?«

Balthassar antwortete nicht. Die Stimmung wurde sehr schlecht. Da sagte Erika zu Werner Lohmann:

»Nun bitte, singen Sie doch das Lautenlied vom Känguruh, von dem Sie mir erzählten, daß Sie es gedichtet haben.«

»Sehr gern,« sagte der Maler sofort wieder frohgelaunt; »ich wartete längst auf die ehrenvolle Aufforderung, meine Dichtung und Komposition vorzutragen. Sie müssen nämlich wissen, verehrte Herrschaften, daß Werner Lohmann nicht bloß Maler, sondern daß er auch Dichter und Komponist ist, sozusagen ein Universalgenie. Werner Lohmann eignet sich zu allem, bloß nicht zum Totschlagen, es sei denn zum Totschlagen von Zeit und Geld. Und nun los mit der Kunst!«

Er klimperte auf seiner Laute und sang dann mit schallender Stimme:

»Nun höre du und staune du,
Was ich dir sage bloß:
Es ist ein kleines Känguruh
Nur wie ein Käfer groß –

Huh, huh,
Känguruh,

Nur wie ein Käfer groß.

Und daß es gar so kleine ist,
Das kleine Känguruh,
Das ist bloß eine Teufelslist
Von diesem Erzfilou,

huh, huh,
Känguruh,

Von diesem Erzfilou.

Denn würd' es wie ein Löwe sein,
Da hätt' es seine Plag',

Da ging es nämlich gar nicht rein
In Mutters Mantelsack.

Huh, huh,
Känguruh,

In Mutters Mantelsack.

So merke dir, mein lieber Christ,
's ist alles, wie's gebührt,
Auch wenn's einmal dein Hirngenist
Gar nimmermehr kapiert.

Huh, huh,
Känguruh,

Gar nimmermehr kapiert.

Doch wär' ein eitler Käfer wo,
Der sagte sich: »Nanu?
Jetzt krieg' ich meine Jungen so,
So groß wie'n Känguruh –

Huh, huh,
Känguruh,

So groß wie'n Känguruh –

Der Käfer hätte sich verpatzt,
Er wär' ein Dummrian,
Der Käfer wäre ganz verratzt,
Er hätte Größenwahn.

Huh, huh,
Känguruh,

Er hätte Größenwahn!

Und die Moral von der Geschicht':
Ein Großer ist mal klein,
Ein Kleiner aber niemals nicht,
Der kann kein Großer sein!

Huh, huh,
Känguruh,

Der kann kein Großer sein!

Dieses Lied wurde von sämtlichen Zuhörern kritisiert. Balthassar sagte: »Quatsch mit Soße«; die Frau Kantor: »Ach, ich weiß nicht ...!« – die Frau Förster: »Zum Piepen!« – der Herr Kantor: »Huh, huh, Känguruh!« – ich: »Ein ganz nettes Lautenlied!« – und Erika Isenloh: »Es ist famos, es ist geradezu reizend!«

Werner Lohmann erhob sich, verneigte sich und sagte: »Ich danke für den allgemeinen stürmischen Beifall, meine Herrschaften!«

Ach, es war kein Wunder, wenn die Herzen der Mädchen diesem frohsinnigen hübschen Burschen zuflogen.

Es wurde festgestellt, daß auch Erika Laute spielen kann und daß auch ich von dieser simplen und doch so anmutigen Kunst etwas verstehe. Der Mann, der die Laute wieder entdeckte, den klingenden Genossen alter deutscher Wanderherrlichkeit, soll gepriesen sein! Dieser Meinung waren alle am Tische. Nun sollte auch ich etwas vortragen. Ich bin kein Sänger. Und so sang ich und sprach ich – rezitativisch – meine Reime und schlug einige Akkorde dazu.

Tanderadei,
Im Lande ist Mai,
Der Mai hat einunddreißig Tage.
Warum? Warum? Daß ich dir's sage:
Gingen dreißig Jungfräulein,
Blond und schwarz, all' sittsam fein,
Durch den prangenden Maienwald,
Alles Jugend und Wohlgestalt.
Kamen durch den grünen Tann
Einunddreißig junge Mann.
Ei, lachte der Mai,
Alle herbei,
Jeden Tag ein Hochzeitsfest,
Jeden Tag neu Liebesnest!
Ging nun jeden Tag die Feier,
Violin' und Flöt' und Leier,
Dreißig mal, dreißig mal
Freudenfest im Freudental! –
Am einunddreißigsten dann
Ein einsamer Mann,
Stand ich allem –
Wollte keine mein Liebchen sein –
Im Mai –
Tanderadei!

Auch dieses Lied wurde von den Zuhörern kritisiert.

»Ach, wie traurig!« sagte die Frau Kantor. – »Schön!« sagte ihr Mann. – »Wie war das?« erkundigte sich die Försterin; »nicht wahr, es waren für die einunddreißig Herren nur dreißig Damen und da blieb einer übrig?« – »Sehr richtig,« grollte Balthassar; »und darum heißt es, sich von den Windhunden den Rang nicht ablaufen lassen!« – »Ja, der einunddreißigste soll man nicht sein im Mai, lieber der erste,« sagte Werner Lohmann.

Erika Isenloh schwieg. Mir tat es eigentlich leid, daß ich das Lied gesungen hatte.

Erika nahm nun die Laute und sang mit reiner Stimme voller Wohllaut einige bekannte Frühlingslieder, auch das mir besonders liebe »Rosenstock, Holderblüh«. Alles wurde munter, die gedrückte Laune verschwand, selbst Balthassar spornte die junge Sängerin zu immer neuer Liedergabe an. Am Schluß sang Erika das Lied von den Schutzengeln in der Mainacht.

Wißt Ihr, Ihr Leute, im Mai, im Mai
Da haben einmal die Schutzengel frei,
Da dürfen sie einmal ausspazieren
Und sich auf eigene Art amüsieren.

Und wißt Ihr, Ihr Leute, wie sie das tun? Nun? Nun?

Sie rufen den Mann im Monde an Und fahren in seinem silbernen Kahn, Sie fahren, das ist ja gar nicht so dumm. Einmal um die alte Erde herum. Sie gucken auf die schlummernde Welt – Daß mir nur kein's aus dem Boote fällt! – Sie recken das Köpfchen, sie strecken die Hand, Sie schau'n auf die Erde ganz unverwandt. Auf einmal ruft eins, so ein liebes, feines: »Da sehet dies Haus: dort schläft meines, meines!«

Und alle Englein, wohlgesinnt, Die rufen: »Ach Gott, welch ein schönes Kind!« Und weiter geht so die glitzernde Fahrt, Der Mann im Mond, der brummt in den Bart, Und immer wieder jubelt so eines: »Da sehet dies Haus, dort schläft meines, meines!« Und wieder ruft dann die ganze Schar: »Dies Kindlein ist herrlich, bei Gott, das ist wahr!« Ein Englein ist weit her, das hat sein Kind Daher, wo die schwarzen Mohrenleut' sind; Der Mann im Monde hört das und schreit: »Dort fahr' ich nicht hin, das ist mir zu weit!« Sie bitten und betteln den harten Mann, Daß der halt schließlich nicht anders kann, Als nach dem Mohrenlande zu fahren. Da schläft so ein schwarzes mit wolligen Haaren, Und alle Engelein jubelhell schrei'n: »O Gott, welch ein reizendes Negerlein! Um solch ein entzückendes Kindchen zu sehn, Verlohnt's, um die ganze Welt rum zu gehn.«

Jetzt sagt ein anderes Engelein noch: »Ja, meines, das wohnt bei den Eskimos doch!« Der Mann im Monde wird wütend und schreit: »Da fahr' ich nicht hin, das ist mir zu weit!« Der Mann im Monde, der poltert ja nur, Von wirklichem Hartsein ist gar keine Spur. So legt er am Eskimostrande noch an, Obwohl er sehr müde und wacklig sein Kahn. Die Engel sind selig – man glaubt es ja nicht, Über solch winziges Trangesicht. Nun kommt der Tag, die Freinacht ist aus, Und alle Englein müssen nach Haus. Der Mondmann brummt: »O, das ist mein Glück, Eine Schutzengelnacht ist hart Arbeitsstück!« Und paddelt vergnügt in den nächsten Hafen Und legt sich in blaues Silberlicht schlafen. Die Englein stehn noch auf rosiger Wolke, Und jedes aus dem himmlischem Volke Hebt dankend die Hände zum Vater empor, Und es betet und jubelt der ganze Chor: »Ach Gott, war das schön, ach Gott, war das schön, In deinen lichten Maihimmelhöh'n – Wir haben lauter Kinder gesehn!«

»Das ist rührend!« rief Balthassar und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ergreifend ist das!« rief er aufs neue und furchte die Stirn, ob sich etwa ein Widerspruch zeige. »Nämlich, das ist so zu verstehen: die Schutzengel haben sich zwar das ganze Jahr mit meist ungezogenen Blagen rumzuquälen, aber wenn sie mal ein paar Stunden frei haben, da wissen sie in ihrer Herzensgüte doch kein besseres Vergnügen, als sich gegenseitig ihre Schutzkinder zu zeigen.«

»Herzlichen Dank für die Aufklärung,« sagte Werner Lohmann ironisch; »man hätte die Dichtung sonst nicht begriffen.«

»Nu, ich werd' doch auch mal das Maul aufmachen können,« grollte Balthassar. »Ich freu' mich über dieses Gedicht, während das Ihrige vom kleinen Känguruh – huh huh – ausgemachter Blödsinn ist!« »Soll's ja, Herr Balthassar – soll's ja – wenn es nicht blödsinnig wäre, taugte es nichts.«

»Sie würden wahrscheinlich selber nichts mehr taugen, wenn Sie nicht mehr blödsinnig wären!« entgegnete Balthassar grob.

Der Maler sprang in die Höhe. Jetzt – dachte ich – kommt die Katastrophe. Aber Werner Lohmann lächelte und sagte vergnügt:

»Haben Sie gehört, meine Herrschaften? Herr Balthassar hat eine kluge Bemerkung gemacht. Seltsam, aber wahr! Sie gestatten, daß ich mir seine Sentenz notiere. Wenn ich nicht mehr blödsinnig wäre usw.«

Der weitere Abend verlief ohne Störung. Es kam mit den vorrückenden Stunden sogar eine schöne Gemütlichkeit auf. Nur mein eigenes Herz war bedrückt. Erika unterhielt sich fast ausschließlich mit Werner Lohmann. Sie sprach mit ihm von der Kunst und allerhand schönen Zielen und Aufgaben, die sein Leben und seine reiche Begabung haben könne. Er lachte manchmal leichtsinnig dazwischen, aber nach und nach geriet er in den Bann des Mädchens.

Mir schmeckte der Wein nicht und ich hörte nicht, wie süß die Nachtigallen im Ufergesträuch des Baches schlugen. –

Als wir nach Hause gingen, kamen wir an dem Hause vorbei, in dem Elisabeth Ranke wohnt. Da sahen wir das Mädchen im Garten stehen und Ausschau halten. Werner Lohmann sagte:

»Ach, da ist ja Fräulein Ranke. Ich will bloß schnell mal über die Wiese rennen und ihr etwas sagen wegen unserer nächsten Sitzung.«

Er eilte über den mondbeleuchteten Wiesenplan: das Mädchen aber, als es lhn kommen sah, lief nach dem Hause und warf die Tür hinter sich zu.

»Die hat's übel genommen, daß sie nicht bei unserem Maifest sein durfte,« sagte Lohmann, als er zurückkam. »Und sie hätte ja wohl auch nicht gestört; sie hat doch eine gewisse Bildung.«

Niemand antwortete. Da schloß sich Lohmann dem Kantor an und ging mit ihm voraus. Dann folgte Balthassar mit der Frau Kantor; das letzte Paar bildeten Erika und ich. Eine ganze Weile gingen wir schweigend nebeneinander her; dann wandte sich Erika nach dem Hause um, in dem Elisabeth Ranke wohnte und sagte die bekannten Verse:

»Es brach schon manch ein starkes Herz,
Da man sein Lieben ihm entriß,
Und manches duldend wandte sich
Und ward voll Gram und Finsternis.
Und manches, das sich blutend schloß,
Schrie laut nach Lust in seiner Not
Und warf sich in den Staub der Welt –
Der schöne Gott in ihm war tot!«

»Diese Geibel-Verse beziehen Sie auf Elisabeth Ranke?« fragte ich.

»Ja.«

»...Weil man sein Lieben ihm entriß... Elisabeth liebt ja wohl den Maler. Warum, wenn ich Sie das fragen darf, haben gerade Sie es verhindert, daß Elisabeth bei unserem Feste sein durfte und mit ihm zusammentreffen konnte?«

Sie sah mir in die Augen.

»Der Maler ist nicht Elisabeths Liebe; er ist für sie der ›Staub der Welt‹, in den sie ihr Herz wirft, nachdem es verraten wurde.« »Ach – so meinen Sie es?«

»Ich meine, daß diese Elisabeth, die ein stolzes, reines Mädchen ist, den jungen Sohn aus der Sägemühle unsinnig geliebt hat und, nachdem er so scheusälig gehandelt hat, nachdem er sie verließ, nachdem er – das ist mir klar – in seiner irrsinnigen Leidenschaft die Bianka erschlug, das väterliche Gehöft bestahl und ansteckte und in die Welt floh, da will dieses mißhandelte Mädel ihr verachtetes Herz wegwerfen an den ersten besten. Der erste beste ist zum Unglück Werner Lohmann, der leichtsinnig genug ist, das Opfer anzunehmen.«

O, wie wohl wurde mir! Alle giftigen Eifersuchtsqualen zerrannen in nichts.

»Erika,« sagte ich bewegt; »Sie wollen wohl da wieder einmal Schutzengel sein?«

»Ich möchte der Elisabeth Freundin sein, eine, die sie beschützt. So, wie es uns unser alter Lehrer gewiesen hat, von dem ich Ihnen einmal erzählte: die Lehrerin muß den Mädchen ihrer Gemeinde eine treue Schwester sein. Aber, Herr Hubertus, ich fürchte, ich bin wieder auf dem falschen Wege. Ich mache alles falsch; ich bin noch zu jung; ich tauge wahrscheinlich überhaupt nicht zur Lehrerin.«

»Wie können Sie nur so etwas Unvernünftiges sagen, Fräulein Erika?«

»Sie sehen doch, wie es ausläuft,« sagte sie betrübt. »Ich gebe mir Mühe, die beiden zu trennen, weil der Untergang für das Mädchen droht; ich ziehe den leichtsinnigen Burschen an mich selbst heran – leicht wird mir das nicht, das können Sie glauben, obwohl er ja ganz lustig ist – ich spreche mit Lohmann von seiner Kunst und von dem, was er erreichen kann; ich hoffe immer, es wird ihm langweilig bei uns werden und er wird abreisen – und was habe ich erreicht? Lohmann läßt sich meine Freundlichkeiten gefallen; ich glaube, der dumme Kerl fühlt sich geschmeichelt, und er rennt doch zu der Liese, und die Liese – das haben Sie ja gesehen – ist eifersüchtig auf mich.«

»Ja, Fräulein Erika, da stimmt schon das meiste. Wenn diese Elisabeth erst eifersüchtig wegen Werner Lohmann ist, ist sie geliefert. Über ein eifersüchtiges Weib hat der Mann alle Macht. – Nur der ruhigen Frau gegenüber ist der Mann machtlos.«

»Sie glauben auch – ich mache es falsch?«

»Ich fürchte, Erika, diesmal machen Sie es wirklich falsch. Anderer Leute Schicksal zu weben, ist ein entsetzlich ernstes Geschäft. Weil auch das Bestgemeinte leicht in bitteres Gegenteil von dem auslaufen kann, was man wollte. Wer kennt die Fäden auch nur zweier Seelen so genau, daß er sie zu einem glücklichen Gewebe verknüpft, das in den Schicksalsteppich paßt, den unser Herrgott seit Ewigkeiten um diese alte Erde legt?«

Sie blieb stehen und sah mich an.

»Herr Hubertus, Sie sind ein vornehmer Herr, ich bin nur eine kleine junge Lehrerin. Aber werden Sie es mir abschlagen, wenn ich Sie bitte, mir ein Berater und Freund zu sein?« –

Warme Mainacht!

Ich hätte sie am liebsten an mein Herz gerissen und sie gebeten: »Sei mein Schatz! Sei meine Braut! Sei mein Weib!«

Aber ich bezwang mich und sagte nur:

»Gewiß, liebe Erika, ich will Ihnen immer und ewig ein guter Freund sein!«


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