Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Siebentes Kapitel.

Der dunkelste Wald.

Der Kantor kam uns entgegen und übernahm Erika. Dann tappte ich allein weiter.

Ich kam am Spritzenhause vorbei. Das kleine Gebäude lag dicht an der Straße. Die Feuerspritze wurde darin aufbewahrt, auch diente das Häuschen gelegentlich als Gefängnis, und wenn ein Fremder im Tale durch Selbstmord oder sonstwie jähen Tod fand, wurde er im Spritzenhause aufgebahrt.

Da drinnen saß nun der alte Krügel gefangen.

Ich klopfte an das kleine vergitterte Fenster. »He, Krügel! Hört Ihr mich?«

»Wer ruft? Sind Sie es, Herr Hubertus?«

»Ja!«

»Herr Hubertus, ich bin's nicht gewesen; ich bin ja doch der alte Krügel.«

»Ja, Krügel, ich glaube Euch!«

Da schluchzte er laut.

»Friert Ihr, Krügel?«

»Ja, mich friert. Ich bin ganz naß.«

»Ich werde Euch eine Decke besorgen. Wartet ein wenig!«

»Herr Hubertus!«

»Was wollt Ihr?«

Sein struppiges Gesicht erschien dicht an dem Fensterchen. Schrecklich war's, wie es so durch das Gitter herausschaute.

»Herr Hubertus! Die Alte ist's gewesen –«

»Wer? Ihre Frau?«

»Ja. Ich hab' mir's überlegt.«

»Krügel! Seid Ihr denn noch betrunken?«

»Nein! Es ist wahr! Ich habe es mir überlegt!«

Sekundenlang stand ich still. Dann rief ich:

»Wartet! Ich komme wieder.«

Ich eilte zurück zur Brandstätte. Dort schritt immer noch Balthassar auf und nieder. Ein paar Männer hielten Brandwache an dem kohlenden, rauchenden Trümmerhaufen.

Ich nahm Balthassar beiseite und erzählte ihm, daß ich am Spritzenhause gewesen sei und mit Krügel gesprochen habe.

»Es ist verboten, mit Gefangenen ohne Erlaubnis zu sprechen!« sagte er mit amtlicher Strenge. »Ich weiß es, Herr Balthassar. Aber vielleicht sind Sie froh, zu erfahren, was ich gehört habe. Vor allem: Krügel friert!«

»Er soll frieren!«

»Das dürfen Sie nicht auf sich nehmen, Herr Amtsvorsteher. Jeder Gefangene hat das Recht auf menschliche Behandlung.

»Ich scher' mich den Teufel drum; ich hab' anderes zu tun, als jetzt dem Herrn Krügel einen Glühwein zu brauen.«

»Herr Amtsvorsteher, wenn Sie den alten Krügel zugrunde gehen lassen, nehmen Sie dem Staatsanwalt den wichtigsten Zeugen in dieser ernsten Sache.«

»Zeugen? Ach so! Sie wissen was! Amtsdiener, kommen Sie mal her. Gehen Sie nach der »Traube«, lassen Sie sich zwei Bund Stroh geben und eine oder zwei Decken. Das bringen Sie dem Krügel ins Spritzenhaus. Dort warten Sie. Wir kommen nach.«

»Und nehmen Sie aus der ›Traube‹ auf meine Kosten eine Kanne heißen Tee für den Krügel mit!« rief ich dem Amtsdiener nach.

Balthassar knurrte und ging zur Feuerwache zurück. Ich lehnte am Wohnhaus der Brettschneide an einer Stelle, wo mich Wind und Regen nicht erreichten. Trotzdem fror mich ganz elend. Nach einiger Zeit kam Balthassar heran und sagte:

»Nun wollen wir zum Krügel ins Spritzenhaus gehen. Ich werde ihn bald verhören. Nach frischer Tat ist das doch das Beste. Sie können mitkommen, wenn Sie wollen, damit ein Zeuge da ist; denn auf den Amtsdiener ist nicht viel Verlaß. Er hat kein Gedächtnis. Jeder nimmt eine Laterne. Und nun los!« Wir gingen. Oben vom Berge nach der Moorhütte hin klang es: »Emil! Emil!«

»Er sucht immer noch den Sohn!« sagte Balthasar. »Er scheint verrückt geworden zu sein. Aber das kommt von der Unbotmäßigkeit. Zwanzig Jahre prozessiert dieser Mann mit dem Dominium wegen des Wasserrechts und hält dieses Gesindel in seiner Moorhütte. Nun hat er's!«

»Es ist tragisch, Herr Balthassar!«

»Tragisch – haha! Es ist merkwürdig, daß die tragischen Dinge immer den windigen Gelichtern begegnen. Wer nicht vom geraden Wege abweicht, dem passieren keine sogenannten tragischen Dinge.«

»Dem möchte ich nicht beistimmen, Herr Balthassar!«

»Brauchen ja nicht!«

Der Amtsdiener stand mit seiner Laterne vor dem Spritzenhause und hielt Wache.

Wie das Schloß am Spiitzenhause knirschte, als er aufschloß! Abscheuliche, eisige Luft drang uns entgegen. Allerhand Gerümpel stand herum. In einer Ecke lag der alte Krügel. Er hatte sich ein Strohlager bereitet und in die Decken eingehüllt, die ihm der Amtsdiener gebracht hatte.

Unsere drei Laternen erhellten den Raum nur zur Not.

»Friert Ihr noch, Krügel?« fragte Balthassar.

»Mich – friert – sehr!« antwortete er, und die Zähne schlugen ihm.

»So bleibt liegen! Ich muß Euch verhören wegen des Feuers in der Brettschneide. Warum habt Ihr es angezündet?«

Krügel richtete sich halb auf. »Ich bins ja gar nicht gewesen; ich bin ja der alte Krügel.«

Er wiederholte diese Wendung ganz treuherzig und mit grenzenlosem Erstaunen, daß man auf solchen Verdacht ihm gegenüber kommen könne.

Balthassar, in den Künsten eines Untersuchungsrichters offenbar gar nicht bewandert, polterte:

»Na wartet, das Leugnen wird Euch ja nichts helfen; wir werden Euch schon kirre kriegen!«

Da mischte ich mich ein.

»Krügel, wißt Ihr, wer die Brettschneide angezündet hat?«

»Ja! Ich sagte es doch schon vorhin. Meine Alte ist's gewesen.«

»Eure – Eure Frau?« fragte Balthasar überrascht.

»Ja – die Alte! Die Hexe! Der Teufel!«

»Aber wie ist es denn zugegangen?«

»Der Bönisch hat mir gekündigt – will mich rausschmeißen aus meinem Häusel – zweiunddreißig Jahre habe ich drin gewohnt – zweiunddreißig Fahre –«

Er weinte.

»Na ja, ja! Aber nu weiter!«

»Lassen Sie ihn, Herr Balthassar, lassen Sie ihm Zeit!«

Der alte Krügel weinte noch eine Weile, immer auf einen Ellbogen gestützt, und lag da vor uns wie das Elend in Menschengestalt. Ich trat näher und zog ihm die Decke über die Schulter. Da redete er wieder:

»Der Herr Hubertus war abends bei uns.«

»Sie waren in der Moorhütte? Warum denn? Zu welchem Zweck?«

»Das werde ich Ihnen später sagen.« »Also Krügel, ich war bei Ihnen. Und dann, als ich fort war, was ist da geschehen?«

»Na hat die Alte gesagt: Den Bönisch soll der Teufel holen. Man sollte ihm den roten Hahn aufs Dach setzen.«

»Was haben Sie denn darauf erwidert?«

»Gar nichts!«

»Warum – gar nichts?«

»Ach, was soll ich zu der Alten sagen?«

Er legte sich müde auf den Rücken.

»Krügel, Ihr sollt uns sagen, was noch alles passiert ist!«

Er erhob wieder ein wenig den Kopf.

»Ich bin eingeschlafen am Tische. Als ich aufwachte, war die Bianka da und der Emil.«

»Der junge Bönisch?«

»Ja. Sie tranken Kaffee. Ich tat so, als wenn ich noch schliefe. Denn wenn ich nicht schlafe, da reden sie nicht so miteinander.«

Pause.

»Was redeten sie denn?«

»Der Emil sollte der Alten Geld geben. Viel Geld. Ich glaube, tausend Mark. Sonst täte sie die Bianka fortschaffen nach der Stadt. Das wollte der Herr Hubertus besorgen. Der hätte sich heute Abend schon von ihr wahrsagen lassen.«

»Das ist ja scheußliche Entstellung!« warf ich ein.

»Kommt davon!« sagte Herr Balthassar. »Kommt davon, wenn man sich mit so was einläßt! Und nun weiter, Krügel. Wenn Ihr alles richtig und ordentlich erzählt, schicke ich Euch eine Flasche Schnaps.« »Ich mag keinen Schnaps,« sagte Krügel; »mir ist zu schlecht.«

»Also, die drei tranken Kaffee, und der Emil sollte tausend Mark zahlen. Was sagte er denn dazu?«

»Erst wollte er nicht, aber dann fragte er, ob die Bianka wirklich fort solle. Da sagte die Alte: ›Ja, in einer Woche. Herr Hubertus bringt sie selbst fort.‹ Da hat der Emil sehr geflucht.«

»Aber Krügel,« warf ich ein, »da hat doch Eure Frau schrecklich gelogen.«

»Sie lügt immer!«

»Nun weiter!«

»Der Emil wollte dann gehen und hat gesagt, er will das Geld holen, er hätte ein Sparkassenbuch. Da hat auf einmal die Alte gesagt, es müßten dreitausend Mark sein. Da haben sich die Alte und der Emil sehr gezankt. Aber die Bianka hat immer gelacht und gesungen und gesagt: ›In der Stadt ist es schön.‹ Da hat der Emil gesagt, er holt das Geld, und ist fort.«

»Und was ist dann weiter geworden?«

»Dann bin ich wieder eingeschlafen.«

»Ihr scheint einen gesegneten Schlaf zu haben, Krügel. Wann seid Ihr denn wieder aufgewacht?«

»Ich weiß nicht, wann es war. Die Alte war mit der Bianka allein und hat gesagt: ›Wenn der Emil wiederkommt, nehmen wir erst das Geld, und dann mußt du ihm sagen, daß er dich bald heiraten soll. Sonst wirst du in die Stadt ziehen.‹ Die Bianka hat gesagt, ihr liegt an der Brettschneide ein Quark. Aber er soll sie heiraten. Sie will über alle sein im Dorfe, die jetzt so stolz gegen sie tun. Und sie wird schon immer machen, was sie will.« Krügel legte sich wieder auf den Rücken.

»Weiter, Krügel, weiter! Wir müssen alles wissen; sonst kommt Ihr nicht heraus aus dem Spritzenhause.«

»Mich friert wieder!«

»Ja, wenn Ihr ins Warme wollt, dann sprecht rascher.«

»Rascher? Wie soll ich? Emil kam und brachte das Geld.«

»Wieviel?«

»Ich weiß nicht. Es war Papiergeld, aber auch ein Säckchen mit Gold. Sie zählten nach und sagten: es stimmt.«

»Wer zählte nach?«

»Die Alte und Bianka.«

»Und Emil?«

»Der saß erst ganz still da. Aber auf einmal fing er an zu flennen. Er sagte: Nun hätte er seinen Vater bestohlen, und was sollte werden, wenn das herauskäme? Er sei doch Soldat gewesen und Unteroffizier, und nun sei er ein solcher Lump und Verbrecher geworden. Da hat er sehr geweint darüber.«

»Was haben denn da die anderen gesagt?«

»Die Alte hat gesagt: Jeder muß wissen, was er will; und es stände in den Handlinien von Emil und auch in seinen Karten, daß es so kommen müsse. Und die Bianka hat gesagt: Der Emil sei eine Memme. Einen solchen Jammerkerl wolle sie schon gar nicht. Da sei ihr der junge Hilmann viel lieber. Der flennte nicht und hätte viel mehr Geld. Und die Alte hat gesagt: ›Ja, ja, mein Töchterchen, da hast du ganz recht!‹ – Da hat der Emil aufgehört zu flennen und gesagt, er will ja alles tun, und er hat gebettelt, die Bianka soll ihm gut sein.« »Es sind wirkliche Teufel, diese Weiber,« sagte Balthassar; »erzählt nur weiter, Krügel!«

»Die Alte hat dann gesagt: Der Emil soll sich's doch nicht so zu Herzen nehmen, und er soll lieber mal Schnaps trinken. Da haben sie ihm meine Flasche gegeben, in der war noch gut ein Viertel voll drin. Aber da bin ich aufgestanden und habe gesagt: ›Das ist mein Schnaps‹!

»Aha!« sagte Balthassar, »wie es um den Schnaps ging, wurdet Ihr plötzlich munter.«

»Ja! Es war mein Schnaps; ich habe ihn verdient, weil ich bei Herrn Hubertus Holz hackte.«

»Schon gut, Krügel! Was sagten denn die anderen, als Ihr aufstandet?«

»Sie sagten: »Hat er etwa gehorcht? Aber ich verstellte mich. Ich fragte den Emil, was er denn bei uns wolle? Da sagte er, er sei zu Besuch da, und ich solle ihm nur den Schnaps ablassen und mir eine neue Flasche holen. Und er trank meinen Branntwein aus und legte mir ein Zweimarkstück auf den Tisch. Er sagte, ich soll nach der ›Traube‹ runter, neuen Schnaps holen. Ich dachte, sie wollen mich los sein; aber ich tat so, als ob ich nach der ›Traube‹ gehen wollte. Ich nahm die Flasche und das Zweimarkstück und schlug draußen die Tür zu. Aber ich wollte doch sehen, was nun weiter wird, und da bin ich auf den Heuboden gekrochen; da kann man durch einen Ritz in die Stube hinuntersehen, weil die doch hell ist.«

»Jawohl, Krügel! Was habt Ihr da beobachtet?«

»Der Emil hat immer mit der Bianka schön tun wollen, aber sie hat sich gewehrt, und dann hat er gesagt, er wollte sie heiraten, aber der Vater gäb's nicht zu. Da hat sie gesagt: er soll alles Geld von Hause holen und mit ihr in die Stadt ziehen. Aber da hat er nicht gewollt. Er hat gesagt: er kann nicht von Hause fort: er hätte bei den Soldaten immer das Heimweh gehabt, er hänge an den alten Häusern. Da haben sie sich gezankt. Der Emil hat immer gebettelt, die Bianka soll gut sein, aber sie hat nicht gewollt. Dann hat die Bianka gesagt: ›Der Großvater wird wohl die zwei Mark unten allein versaufen und dann im Schnee liegen bleiben. Ich werd' mal sehen gehen, wo er bleibt.‹ Der Emil hat sie nicht wollen fortlassen, aber sie hat gesagt, sie rodelt hinunter und ist gleich wieder da. Da ist sie fort, und der Emil ist mit der Alten allein gewesen. Auf einmal hat er's wieder mit dem Heulen gekriegt und gesagt: ›Ach, wenn das meine tote Mutter wüßte!‹ Da hat ihn die Alte ausgelacht; aber es hat nichts genutzt. Er ist immer hin und her gelaufen. Da hat die Alte gesagt: ›Na, die Bianka ist ja auch nicht so dumm; vielleicht ist sie jetzt runter zum jungen Hilmann und fragt ihn, was sie tun soll.‹ Da hat der Emil laut gebrüllt: ›Dann schlag ich sie tot! Dann schlag ich sie tot!‹, und ist hinaus und hat die Tür zugeschlagen, daß das ganze Haus krachte. Ich hab' mich sehr gefürchtet. Ich hab' gedacht, wenn mich meine Alte hier oben auf dem Heuboden erwischt, bringt sie mich um. Sie hat mir schon zweimal was in den Kaffee getan; aber ich hab's gerochen und nicht davon getrunken. Nu hab' ich mich in das Heu versteckt. Aber einmal hab' ich noch nach unten geguckt. Da hat die Alte am Tisch gesessen und Karten gelegt. Dabei hat sie einmal laut gelacht. Und dann hat sie ihr Umschlagtuch umgemacht und hat die Laterne gesucht. Sie hat das Licht angezündet, aber sie hat es wieder ausgeblasen. Die Laterne hat die Alte auf dem Tische stehen lassen; aber die Streichhölzer, das hab' ich gesehen, hat sie sich eingesteckt. Und dann ist sie hinaus und hat die Haustüre leise zugemacht. Ich bin dann runter vom Heuboden und hab' das Haus durchsucht. Es war niemand mehr da. Ich wußte nicht, was ich machen soll; da habe ich mich ins Bett gelegt. Aber ich konnte nicht mehr schlafen. Dann kam das Gewitter. Ich dachte: nun werden sie heimkommen. Aber es kam niemand. Auf einmal läutete es. Ich guckte zum Fenster hinaus. Da brannte es im Dorfe. Ich zog mich schnell an und rannte hinunter. Da sah ich, daß es die Brettschneide war. Und ich traf die Alte; sie stand am Waldrande bei der großen Birke und sagte: ›Das ist recht l Das ist recht!‹ Ich rannte dann hinunter, und sie rannte hinter mir her, und dann wurde ich eingesperrt.«

Soweit hatte der alte Krügel erzählt, nicht fließend hintereinander, sondern oft drucksend und unterbrochen, von Balthassar oder mir oft zum Fortfahren aufgemuntert.

Balthassar wandte sich an mich.

»Was sagen Sie nun dazu?«

Ich zuckte die Achseln:

»Da sind Rätsel, die noch zu lösen sind.«

»Ja! Wir werden sie aber auf dem Dominium lösen. In einer warmen Stube. Hier holt man sich den Tod. Amtsdiener, Sie bleiben hier als Wache. Ich schicke gleich den Biernowski mit einem geschlossenen Wagen. Da laden Sie den Klügel ein, bewachen ihn gut und bringen ihn nach dem

»Jawohl, Herr Amtsvorsteher!« »Und Sie, Herr Hubertus, lade ich eln, mich zu begleiten.«

Ich folgte dieser Einladung, und wir gingen durch die Sturmnacht hinauf nach dem Dominium. Unten verglimmte der Brand der Brettschneide.


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