Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Ich bade im wundertätigen Wasser

Ich wollte mir Schwimmhose und Handtuch mitnehmen, als ich von zu Hause wegging. Es war richtig, daß ich es nicht getan.

Das heilige Bad ist gleich neben der Grotte Masabielle, in der im Jahre des Heils 1858 die Mutter Gottes einem vierzehnjährigen Mädchen, wie man aus dessen Munde weiß, achtzehnmal erschien.

Beim dritten Male hatte Maria verkündet: »Kommet zu diesem Brunnen, um zu trinken und euch hier zu waschen.« Dabei wies sie in eine Ecke, wo eine Quelle sprudelte. So steht es in den Legendenbüchern, und Millionen Gesunde und Kranke wallfahren seither nach Lourdes, dieses Wasser zu trinken und sich damit zu waschen.

Den schwersten Fällen genügt das nicht, sie wollen in dem heiligen Wasser auch baden. Für sie sind die Piscinen da, ein dreifältiger Pavillon, je eine Einfalt für die Frauen, eine für die Kinder und eine für die Männer bestimmt. Ich wollte mir Schwimmhose und Badetuch mitnehmen, als ich von zu Hause wegging. Es war richtig, daß ich es nicht getan. Denn keineswegs so spielt sich der Besuch dieser heiligen Badeanstalt ab wie der Besuch irgendeiner anderen Badeanstalt, man kann nicht einfach hineingehen, eine Karte lösen, eine Kabine zugewiesen bekommen, in eine frischgefüllte Wanne oder in ein Bassin steigen, sich massieren lassen, duschen, abtrocknen – nein, nichts von alledem.

Vorerst muß jeder, der da hofft, daß das heilige, heilende Wasser nun alle Gebrechen von und aus seinem Leibe spülen werde, zu warten verstehen. Oberste Badevorschrift hier ist das Sprichwort: Hoffen und harren macht . . .

Man hofft und harrt im Vorhof, der durch ein Gitter vom Weg zur Grotte getrennt ist. Am Eingang stehen Männer mit Gurten und helfen, Kranke von der Tragbahre auf Rollbahren umzuladen. Diese Rollbahren, eiserne Bretter auf Rädern, gehören zum Inventar der Wundertäterei, Täfelchen mit Danksagungen schmücken sie. Je drei Bankreihen sind den bäderheischenden Fußgängern zugewiesen; verläßt eine Partie gebadet die Piscinen, darf die nächste eintreten, und die übrigen rücken vor. Vorläufig sind wir noch lange nicht soweit. Zuerst kommen die Wallfahrer im engeren Sinne daran, die, die herangefahren werden. Immer neue, der Vorhof ist voll, er könnte keinen Rollstuhl, keine Bahre mehr fassen.

Jenseits des Gitters zieht das Heer der Pilger zur Grotte. In allen Winkeln der Katholität gesammelt, marschiert es, Regimenter und Troß von nah und fern. Trachten aller Länder und Stände, Spitzenhauben und Hüte, Zylinder und Fellmützen. Davor, dazwischen, dahinter huscht männliche und weibliche Geistlichkeit – Offizierskorps und Unteroffizierskorps dieser Armee, der man Kultus statt Kultur, Abkehrung statt Aufklärung gibt, Wunder verspricht, statt Hilfe zu versuchen. Achtzig Jahre lang währt dieser Zug.

Unendliche Armee von Freiwilligen und Geworbenen, die keine Löhnung erhalten, sondern Löhnung bezahlen. Sie sind die Bauherren der Basilika aus Gold und Marmor auf dem Hügel, sie bezahlten eine zweite zu Füßen der ersten, Mosaike und Statuen und Kapellen und eine goldene Krone von zehn Meter Umfang, sie deckten die Kosten für eine dritte Kirche unter der zweiten, einen unterirdischen Dom, sie trugen die Spesen für den Bau der Via triumphalis, der Parkanlagen, eines Bischofsschlosses, der Herrensitze für den Klerus und des Passionsweges mit monströsen Bronzegruppen. Ganze Volksvermögen wurden in Lourdes verbaut und verbraucht, und noch mehr Geld ging und geht via Lourdes nach Rom. Hier ist ein Wunder, glaubet nur.

Nun defilieren die Heerscharen vor uns, Klappstuhl unter dem Arm, Rosenkranz und Gesangbuch in der Hand, das Abzeichen ihrer Pilgergruppe auf der Brust. Alle sehen uns an, uns, denen das Gebet vor der Grotte und der Trunk aus der Quelle nicht genügt, uns, die wir zur Erlösung von unserem Leiden eines Vollbades bedürfen. Viele bleiben stehen, warten, ob jemand aus dem Bad stürzen wird, die Krücken schwenkend, seine Prothese abreißend, »ich bin geheilt, ich bin geheilt!«, und den Schrei der Menge auslösend: »Un miracle . . . ein Wunder!«

Drei Patres auf dem Vorhof flehen ein solches Wunder herab. Der in der Mitte, barhäuptig, ist der Prediger, ein Sprecher von hohen Graden. Er wendet sich an die Menge am Gitter. Kein Schauspiel sei das Leiden anderer, es sei Pflicht aller Vorübergehenden, mitzubeten und Gelübde zu tun, auf daß die Jungfrau herniedersteige und das Wunder der Gnade vollziehe. Dann gibt er seinen beiden Amtsbrüdern das Wort, und diese beten vor, das Credo, das Gloria, das Vaterunser, den Englischen Gruß. Die Menge spricht den Chor.

Jenseits des Gitters beten Angehörige der Badenden, der aufs Bad Wartenden mit, inbrünstiger als die Priester, inbrünstiger als die anderen Pilger. (Auch auf mich wartet jemand draußen und wird mir nachher erzählen, daß ein deutsches Ehepaar mit den Worten vorüberging: »Du, der zweite in der zweiten Bank sieht wie der Kisch aus.« – »Zuzutrauen wär ihm das.«)

Zu Füßen der geistlichen Fürsprecher stöhnen und wimmern Kranke ein gebetetes Stöhnen, ein betendes Wimmern, wenn es nicht gar ein schreiendes, befehlendes Gebet ist. Ein Kind kreischt unaufhörlich, die anderen übertönend. Sein Rollstühlchen steht hart neben dem Geistlichen in der Mitte, neben dem, der so ergreifend von der Mildtätigkeit Gottes und von der Pflicht zur Güte zu sprechen weiß, ohne sich durch das gellende, verzweifelte Gebrüll des Kindes auch nur im geringsten stören zu lassen. Aber da die fromme Stimmung gestört wird, rollt einer der Träger den Krankenwagen aus dem Gitterhof.

Schreiender als die Schreienden sind die Stillen, ihre weißen Augen sehen das Nichts. Bahren trägt man herbei, auf denen Bündel von Tüchern und Decken liegen und nichts anderes zu liegen scheint als diese Bündel von Tüchern und Decken. Doch müssen in diesen Bündeln Menschen sein. Leben sie noch?

Schwimmhose und Badetuch wollte ich mitnehmen! Welch grotesker Einfall, irdische Utensilien in eine Welt, wo Sterbende umherfahren und Tote baden und Publikum erwartet, daß das Wasser sie ins Leben zurückrufe.

Wir zu Fuß Gekommenen sitzen schon über zwei Stunden im Vorhof, und noch immer kommen Bahrlägerige aus dem Innern des heiligen Badehauses. Wer vorher wimmerte, wimmert auch jetzt, wer stöhnte, stöhnt auch jetzt, in die leichengelben Gesichter fuhr keine Lebensröte, in die leeren, der Leere zugekehrten Augen kein Inhalt, Lippen bewegen sich zitternd, nur in den Tücherbündeln auf den Bahren regt sich nichts. Die Angehörigen stürzen auf die Kranken zu und rufen und schauen sie forschend, hoffend an. Nichts . . .

Aber die Chance ist noch nicht vorbei, vor der Grotte kann sich die heilige Jungfrau gnädig herabneigen zu dem Leidenden, der ihr Gebot erfüllte, der von weit her kam, um von diesem Wasser zu trinken und hier zu baden. Also wird der Kranke nach dem Bad zum heiligen, heilenden Fels gebracht, die Träger beten laut, die Angehörigen begleiten betend die Bahre.

Wir, dem Bad noch entgegenharrend, können die Grotte nicht sehen, sie liegt um die Ecke, etwa fünfzig Schritte von uns entfernt, aber wenn sich ein Wunder begäbe, so würden wir den Jubelruf des Erlösten hören und den Freudenschrei der Menge.

Nichts hören wir.

Die gehend Gekommenen und sitzend Wartenden rücken je einen Platz hinauf, bald werden wir aus dem Wartezimmer der Mutter Gottes in ihr Ordinationszimmer gerufen werden. Mein Nachbar zur Linken wohnt in meinem Gasthof, er ist Kanzleibeamter in Paris, gestern abend haben wir miteinander Schach gespielt. Er hat eine Wirbelsäulenverkrümmung von Geburt an, der Körper ist um fast fünfundvierzig Grad nach rechts geneigt, kein Spezialist konnte ihm helfen. Nun versucht er es mit Lourdes. Es sei wegen der Frauen, gestand er mir gestern, man käme ihnen lächerlich vor.

Dem langbeinigen Iren habe ich im Eisenbahnzug den Dolmetscher gemacht. Er schaut immerfort zu mir herüber, vielleicht will er etwas fragen, aber er läßt es sein, denn jetzt ist nicht der Moment zu Gesprächen.

Mein dritter Bekannter schritt am Sonntag auf seinen Krücken wacker neben mir einher in der Prozession, zu der halb Portugal mit dem Erzbischof und allen Bischöfen gekommen war. Es war eine der abendlichen Prozessionen von Lourdes, deren Ausstattung raffiniert und kostbar ist.

Vor der Grotte sammelte man sich, ein Zweig in der Felsenritze bewegte sich, vielleicht durch das Flackern der Kerzen, vielleicht vom vieltausendstimmigen Gemurmel.

Beim ersten Klang der Glocken entzündeten die Wallfahrer ihre Fackeln, formierten sich zum Zug und stimmten das Ave-Maria an. Der Refrain war kaum verklungen, als er, wie ein Engelschor, von der Höhe der Felsenwand noch einmal ertönte. Dort waren die Kirchensänger von Lourdes postiert. Dieweil wir um die Ecke bogen und des Doms ansichtig wurden, leuchteten seine Konturen auf, als wären sie entflammt vom Singen. Tore und Türme und Fenster und Rosette strahlten in der Umrahmung der Glühbirnen. Mit sangen die Glocken

Ave,
Ave,
Ave Maria,

der Zug der Flammen und Stimmen bewegte sich die Rampe hinauf. Zu Füßen der gekrönten Mutter Gottes brannte der Rosenstrauch, zu ihren Häupten brannte die Krone, Lautsprecher gaben unseren Gesang zurück, der Zug der Flammen und Stimmen bewegte sich auf der andern Seite die Rampe hinab.

Vor der Rosenkranzkirche standen die Bischöfe, ihnen entgegen wand sich in Schlangenlinien die Prozession über den großen Platz. Von der Freitreppe herab dirigierte ein Chorregens abwechselnd die Menge und den Kirchenchor, das Ave-Maria wurde vom Credo abgelöst, der portugiesische Erzbischof und seine Bischöfe erteilten der niederknienden, sich bekreuzigenden Menge den Segen.

Den ganzen Weg war der Mann, der jetzt mit mir des Bades gewärtigt, mitgehumpelt. Seine Krücken hatte er in die Achselhöhle geklemmt, das Gesangbuch hielt er in der Hand und begnügte sich nicht damit, den Refrain mitzusingen, das Ave, Ave, Ave Maria, er schmetterte in hellem Bariton alle Strophen über die Menge. Von Zeit zu Zeit schaute er mich, der ich neben ihm ging, Anerkennung heischend, an – jetzt streift er mich mit keinem Blick. Hier hat niemand einen anderen Nachbarn als sich selbst. Hoffen und Harren ist eine ausfüllende Tätigkeit.

Endlich ist die Reihe an mir. Ein Vorhang mit den Initialen von Nôtre Dame des Lourdes wird zurückgeschlagen, ich trete mit drei anderen in eine kleine Kabine. Der steinerne Fußboden ist naß und schmutzig, auf einer Bank sitzend, entkleiden wir uns. Neben mir ist ein Mann, schon nach dem Bad, anscheinend nicht imstande, sich allein anzukleiden. Stoßweise zuckt sein Körper, seine Hände können die Knöpfe nicht schließen. Ein Badediener hilft ihm.

Drei Becken sind in den Boden eingelassen, aber nur das mittlere ist mit Wasser gefüllt. Einer der Bademeister, stattlicher Mann mit Habichtsnase und weißem Bart, sieht wie ein Wildschütz in den Alpen aus. Sein jüngerer Kollege, weltmännisch, weist uns an, außer dem Hemd alles abzulegen. Der lange Irländer wendet sich an mich. »What did he say?« Bevor ich übersetzen kann, hat schon der Bademeister seine Aufforderung englisch wiederholt. Werden wir mit dem Hemd ins Wasser gehn? Vielleicht hätte ich doch Schwimmhose und Badetuch mitnehmen sollen?

Oberhalb des Badebeckens münden zwei Messingröhren, sie sind geschlossen. In das stehende Wasser muß ich jetzt hinein, in diesem Wasser haben alle Siechen und Aussätzigen, alle Sauberen und Unsauberen heute (mindestens heute) gebadet, die auf Bahren, in Rollstühlen und zu Fuß hierhergekommen sind.

Die Quelle in der Grotte liefert pro Tag 122 Hektoliter. Tausende trinken täglich von dem Wasser und füllen es in ihre Blechflaschen, außerdem wird das heilige Wasser in alle Welt versandt. Längst wurde der Vorwurf laut, es sei nicht das Wasser der Quelle, sondern des Flusses Gave de Pau, das man den Wunderkurgästen als heiligen Quell biete. Die Kirchenbehörde behauptet jedoch, der Überschuß des Wassers stamme aus dem Reservoir bei der Rosenkranzkirche, dessen Eingang markiert ist durch die Tafel:

Entrée formellement interdite.

Das Reservoir in allen Ehren – unmöglich aber könnte man glaubhaft machen, es reiche auch aus, nach jedem Bad das Becken neu zu füllen. So bleibt das Wasser stehen, wir müssen alle hinein, Gesunde und Kranke, Reine und Unreine. Ansteckende, mit Hautausschlägen Behaftete sollen erst am Schluß der Badezeit eingelassen werden, Herzkranke und Tuberkulöse dürfen überhaupt nicht baden. Das kann jedoch nur für solche gelten, die aus dem Hospital hierhergebracht werden. Wer direkt kommt, braucht sich keiner Prüfung zu unterziehen. Mich hat niemand untersucht.

Auf der Brust meiner Badegenossen glänzen Medaillons. Es war mein Fehler, nicht ein Medaillon mitzunehmen, statt an Schwimmhose und Badetuch zu denken. Der Lange aus Irland tritt als erster an den Rand des Beckens, Badewärter Wildschütz und Badewärter Weltmann nähern sich ihm von rechts und links, da plötzlich stößt er hervor: »No!« Er wendet sich ab. »No!« Sein Gesicht, sein ganzer Körper sind eine Gebärde der Abwehr, niemand vermag sich vorzustellen, welch abgrundtiefe Gegnerschaft sich aus zwei Buchstaben offenbaren kann: »No!«

Eine Pause des Denkens schaltet er ein, ruft sich ins Bewußtsein, daß er von so weiter ferner Ferne kam, eigens um dieses Bad zu nehmen – soll er seinen Widerwillen nicht eine Sekunde lang überwinden? »No«, stöhnt er sich zur Antwort . . . »No!« In unserem kleinen Raum wirkt sein Protest, dieses »No« weit lähmender, als vorhin auf dem Badehof das Schreien der Kranken gewirkt hat.

Die Badeknechte Mariae zucken die Achseln, sie scheinen Fluchtversuche ihrer Gäste gewöhnt zu sein, und winken dem nächsten. Das bin ich. Ich gehe im Hemd zum Bassin. Man reicht mir einen Schurz, den ich umnehme, er ist naß; wie viele Kranke haben ihn vor mir angehabt, was für Kranke? Ach, meine Schwimmhose, sie ist daheim. Jetzt darf ich das Hemd ausziehen – Keuschheit bis zum letzten Augenblick –, man wirft es auf den Schemel, auf dem der Schurz lag.

»Vous êtes Français?«

»Non, monsieur, je suis Allemand.«

»Beten Sie, was dort auf der Tafel steht«, sagt der weltmännische Bademeister deutsch und weist auf eines der vier Plakate, die über der Wanne hängen. Im gleichen Augenblick packen mich zwei Paar Arme mit einem unentrinnbaren Griff, und während die Männer beten, was rechts auf der Tafel steht (links steht spanischer, in der Mitte englischer und französischer Text), reißen sie mich drei Stufen hinab ins kalte, trübe Wasser und werfen mich darin nieder, so daß mir das Wasser bis an den Mund reicht. Sie stehen in den beiden leeren Becken und halten meinen Körper nach unten, mein Kinn nach oben, sie beten mit mir, der ich auf die rechteste der Gebetstafeln starre und die Lippen bewege:

Gebenedeit seist du, heilige und Unbefleckte
        Empfängnis . . .
Mutter Gottes von Lourdes, bitte für uns!
Meine Mutter, habe Mitleid mit uns!
Unsere liebe Frau von Lourdes, heile uns aus Liebe
        und zum Ruhme der Heiligen Dreifaltigkeit!
Heil der Leidenden, bitte für uns!
Hilfe der Kranken, bitte für uns!
O Maria, ohne Sünde Empfangene, bitte für uns!
Allerseligste Bernadette, bitte für uns!

Dann stellen sie mich auf die Füße, der eine holt von der Konsole eine winzige Marienstatue herab, wie man sie in den Geschäften von Lourdes für einen Franc bekommt. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, warum man nicht eine größere kauft, zum Beispiel eine für zwei Francs, er hält sie mir an die Lippen. Alle Kranken müssen nach dem Bad diese Statuette küssen. Die beiden Männer helfen mir, die drei Stufen hinaufzusteigen, einer ergreift mein Hemd – ach, mein Badetuch daheim, kein Badetuch, was denkt ihr, einen ins heilige Wasser getauchten Körper darf man doch nicht abtrocknen! Übergeworfen wird mir das Hemd, und da nun meine Scham schamhaft bedeckt ist, nimmt man mir den Schurz ab.

»No!« lallt der lange Irländer, sein Gesicht ist noch verzerrt, seine Unterlippe hängt angeekelt herab, seine Augen fahren über mich hin, ob mir bereits Tod oder Heilung anzusehen ist. Das »No« wird leiser. Allmählich flaut sein Entsetzen ab, und nachdem die beiden anderen unserer Gruppe aus dem Becken gestiegen sind, läßt auch er sich in das Wunderwasser tauchen.

Unsere nackten triefenden Füße treten den Boden, den sie vorher in Schuhen traten, nasser Schmutz klebt sich an die Ferse. Kein Badetuch gibt es – heilig ist heilig. Strümpfe über den Schmutz, Anzug über die Nässe, hinaus, es warten noch viele. Die drei Priester sind bereits weg, für leichtere Fälle lohnt sich wohl keine Fürsprache. Auch die Menge am Gitter hat sich gelichtet.

Wir gehen zur Grotte, dort ist der Schlußakt der Wasserzeremonie. Unsere Mitpatienten auf den Bahren begegnen uns. Sie werden von der Grotte dorthin getragen, woher sie kamen, in das Depot der Kranken, die Hospitalite. Ihre Gesichter sind noch gelber geworden, noch blasser, die Bündel regen sich nicht.

Wer in der Hospitalite stirbt, wird von seinen Angehörigen in die Heimat gebracht oder hier auf dem Friedhof bestattet, dem einzigen öffentlichen Platz in Lourdes, von dem man kein Aufhebens macht, wohin man keine Wallfahrer führt. Zu leicht könnten sie dort auf die Vermutung kommen, daß die heilige Maria ihrem Gnadenort reichlich Ungnade erwiesen hat. In Gruppengräbern liegen die Opfer einzelner Prozessionen. Und drüben auf dem Passionsweg steht ein Totenmal für die Katholiken aus Bourbon, die am 1. August 1922 auf ihrer Pilgerfahrt nach Lourdes durch einen Zugzusammenstoß ums Leben gekommen sind. Selbst die heilige Grotte blieb nicht von Unheil verschont, eine Überschwemmung setzte sie im Juni 1875 unter Wasser, zerstörte den Altar, das Marienbild und alle Zugänge.

Warnungstafeln an allen Ecken und Enden: »Achtung aufs Portemonnaie!« – »Hütet euch vor Handtaschenräubern!« Die Kirche warnt, paßt auf euer Geld auf, ihr könnt es günstiger verwenden, es gibt Messen zu stiften, die Kosten der Ewigen Lampe für neun Tage zu tragen, Exvoto-Plaketten zu bezahlen, geweihte Kerzen zu kaufen. Hier die Bedingungen des Ablasses.

Die Allmächtige kann in ihrer Domäne den Taschendiebstahl nicht verhindern, ja sie kann nicht einmal bei den von ihr lebenden Kaufleuten die Heiligung des Sonntags durchsetzen. Die plakatierten Aufforderungen, nur in Geschäften zu kaufen, die sonntags geschlossen haben, sind Formalität. Am Sonntag strömt das Volk der Pyrenäen zusammen, jeder braucht eine Fackel für die Abendprozession, eine Kerze für den Altar, eine Ansichtskarte an die Angehörigen, ein Gesangbuch für die Kirche, ein Heiligenbild für die Wand, ein Medaillon als Andenken, einen Rosenkranz als Mitbringsel, eine Darstellung der Grotte für die Kinder, ein Gruppenbild von der Vormittagsmesse, auf dem man mit aufgenommen ist, eine blauemaillierte Flasche für einen Vorrat an wundertätigem Wasser, Votivtafeln »Merci à Marie«, Marienstatuen, gipsweiße und dreifarbige, Öldrucke und Statuetten von der heiligen Bernadette Soubirous. Gasthäuser müssen offenhalten, Apotheken und Drogerien, und auch der Moniteur der kirchlichen Obrigkeit, das »Journal de la Grotte«, wird sonntags verschleißt.

Ich dränge mich in der Menschenkette, die vorwärtsdrängt, um die Grotte zu passieren. Noch bin ich feucht vom Bad, die Wäsche klebt an der Haut. Ein paar Reihen vor mir steht der schiefe Ministerialbeamte, unmittelbar hinter mir, noch immer verstört, der irische Hüne, er betet vielleicht um Vergebung für sein frevles »No«. Auf einem von einer Barriere umschlossenen Platz stehen die Krankenbahren.

Von der Wölbung der Grotte hängen Krücken herab wie Stalaktiten, die Kerzen ragen wie Stalagmiten empor. Alt und schwarz sind die Krücken, neu und weiß oder aus blumenbuntem Wachs geflochten die Kerzen. Links ist der Felsen gleichsam tapeziert mit Holzbeinen, Lederkorsetten und Gipskorsetten, lauter Folterinstrumenten, die die moderne Orthopädie nicht mehr kennt. Wurden sie hierher gehängt, als die Kranken neue Prothesen bekamen, sind sie der Nachlaß jener, deren Gebrechen die heilige Maria von Lourdes dadurch beseitigte, daß sie sie in Lourdes sterben ließ?

Die Almanache und Zeitungen der Grotte, das Bulletin der Medizinischen Gesellschaft Unserer Lieben Frau von Lourdes, die Predigtstühle der ganzen katholischen Christenheit behaupten Wunderheilungen und stützen sich auf die Dankestafeln an den Kirchenwänden von Lourdes. Aber die beweisen nichts. Eine ganze Krypta ist voll von Plaketten zur Erinnerung an im Weltkrieg Gefallene, andere Tafeln danken für den günstigen Ausgang irgendeiner Angelegenheit (ein Pope dankt für seine Bekehrung vom russisch-orthodoxen zum katholischen Glauben). Und wenn auch eine Inschrift einer Heilung gilt, so ist das noch lange keine, die die Kirche als Wunder anerkennt, die Kirche anerkennt hier nur Heilungen von Unheilbaren.

Durchaus nicht einverstanden ist sie mit der liberalistischen Auslegung, daß suggestive Momente Heilungen auslösen könnten. Vor einigen Jahren hatte ein Balneologe von Amts wegen das wundertätige Wasser zu untersuchen. Um sich's mit der Geistlichkeit nicht zu verderben und die angeblichen Heilungen nicht direkt in Abrede zu stellen, fügte er seinem Befund, daß es gewöhnliches Wasser sei, die Klausel bei, »möglicherweise enthalte der Quell vorläufig nicht feststellbare minerale Elemente kurkräftiger Art«.

Aber da kam er beim Klerus schön an. Erstens habe es die Mutter Gottes nicht nötig, sich kurkräftiger Flüssigkeiten zu bedienen, zweitens wäre eine Heilung durch ein wenn auch nur möglicherweise kurkräftiges Wasser kein Wunder, und drittens (und wichtigstens!) hätte nach einem solchen Befund die staatliche Bäderverwaltung das Recht, die Quelle von Lourdes zu übernehmen.

Schließlich betraute man einen anderen Amtsarzt mit der Abfassung des Gutachtens, und der stellte ohne Einschränkung fest, das Lourdaiser Wasser enthalte keinerlei aktive Substanzen von therapeutischer Wirkung. Damit war die Kirche zufrieden, es ist ganz gewöhnliches Wasser, was da den Krebs und die Blindheit und Wirbelsäulenverkrümmungen heilt und fehlende Gliedmaßen nachwachsen läßt.

Flehend richten sich die Blicke aller Beter auf die Grotte, daß das Original der dort aufgestellten Statue erscheine, wie es der Bernadette Soubirous erschien, aber von den Millionen Wallfahrern hat keiner noch die lebende Maria zu sehen bekommen.

Vor einigen Monaten ist der Bruder von Bernadette, ihr letzter Blutsverwandter, gestorben, und gleich darauf wurde in Rom ihre Heiligsprechung durchgeführt. Ihre Familie war in der Gemeinde nicht so sehr angesehen. Der Vater Bernadettes hatte im ausrangierten Gemeindearrest gratis gewohnt, und was die Tochter anbelangt, so sind selten einer Heiligen so wenig gute Taten zugeschrieben worden wie unserer Bernadette, nur Aussprüche sind von ihr erhalten, die beweisen, welch ein »kesses Gör« sie war.

Wie geschah es überhaupt, daß sie die Gesichte hatte? Als sie mit zwei anderen Kindern Holz klauben ging, kam sie nahe der Grotte Masabielle an einen schmalen Mühlbach. Bernadette wollte ihre Schuhe und Strümpfe wegen der drei Schritte nicht ausziehen und wieder anziehen und forderte ihre beiden barfüßigen Gefährtinnen auf, sie hinüberzutragen. Die dachten gar nicht daran, schalten sie Faulpelz und liefen weiter. Bei der Rückkehr tat Bernadette das, was ein Kind in einem solchen Fall tut: sie ärgerte ihre Kameradinnen, indem sie ihnen erzählte, sie habe inzwischen etwas Wunderschönes gesehen. Das übrige besorgten die Seelsorger und die Dorfbewohner.

Im Museum Bernadette hängt die Totenmaske des historischen Pfarrers von Lourdes, ein feistes, schlaues Gesicht. Sicherlich war Abbé Peyramale noch nicht so feist, als sein Pfarrkind die Heilige traf, aber schlau war er schon damals, ging niemals selbst zur Grotte, besprach alles mit Bernadette und seinem Bischof.

Einige Jahre vorher war in dem Dorf La Salette die Mutter Gottes aufgetaucht, um Reden gegen den beginnenden Sozialismus und die Streikbewegungen zu halten. »Wenn mein Volk sich nicht in Demut unterwerfen will, so wird mein Sohn die Hand von euch zurückziehen . . . Ich habe euch befohlen, sechs Tage zu arbeiten, und der siebente sei Gott geweiht . . .«

Das waren Worte der Stellungnahme, und dementsprechend reagierten auch die politischen Parteien auf die Einmischung der Göttlichen in irdische Dinge. Die Kirche hatte entschieden Pech in der entfesselten Diskussion. Zwei Hirtenkinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren Kronzeugen für die verkündeten Worte, aber die beiden, eifersüchtig aufeinander, widersprachen sich in den Aussagen darüber, woher die Erscheinung gekommen, wohin sie verschwunden war und was sie gesprochen hatte. Man brachte das Mädchen in ein Kloster und den Jungen, der sich inzwischen dem Suff ergeben hatte und in den Wirtshäusern unangenehme Dinge schwatzte, in ein Zuavenregiment. Bald darauf wurden zwei Abbés der Gegend, P. Deleon und P. Cartellier, wegen angeblich privater Verfehlungen exkommuniziert und enthüllten nun mit allen Details, die ganze Erscheinung sei eine Komödie gewesen, sogar Name und Adresse der Dame nannten sie, die die Rolle der heiligen Jungfrau gespielt hatte.

In Lourdes gab es nur einen Zeugen, die Bernadette, und ihrer mußte man sich versichern. Die Mutter Gottes durfte keinesfalls von Politik reden, die Anerkennung des Wunders sollte vom Volk verlangt werden, und die Kirche sollte sie sich nur »widerstrebend« abringen lassen.

Am Geburtstag des Pfarrers Peyramale wurde Bernadette zum letzten Male in die Grotte geschickt, es war das wichtigste Zusammentreffen mit der »Dame«.

Papst Pius IX. hatte eben, einen alten Kirchenstreit beendend, die Bulle »Ineffabilis« erlassen. Darin wurde zum Dogma erhoben, Maria sei in der Ehe des heiligen Joachim mit der heiligen Anna jungfräulich geboren worden. Noch aber gab es keine Andachtsstätte zu Ehren der Unbefleckten Empfängnis. Was Wunder, daß die Erscheinung nicht nur die Grotte zum Wallfahrtsort ernannte, sondern sich auch als Unbefleckte Empfängnis vorstellte. Die Worte »ich bin die« sprach sie baskisch, damit das Lourdaiser Kind sie verstehe, während die beiden nachfolgenden Worte von dem Kind unmöglich verstanden werden konnten. Sie sagte: »Que soy era immaculada concepciou.«

Hernach durfte die Mutter Gottes in der Grotte das Kind nicht mehr sehen, sosehr sie es sich wünschen mochte. Der Pfarrer verbot Bernadette, je wieder hinzugehen, sie wurde in das Kloster von Nevers gebracht, und selbst als sie an Lungenschwindsucht erkrankte, ließ man sie, obwohl es damals das Badeverbot für Tuberkulöse noch nicht gab, nicht an die heilende Quelle. Bernadette starb jung mit den Worten: »Ich bin eine große Sünderin.«

Ihre Entdeckung aber florierte. Fast jede bessere Grotte in den Pyrenäen hat als heidnische oder christliche Kultstätte Dienst getan. Warum sollte gerade die von Masabielle ungeeignet sein? (Später entdeckte man in ihr einen quadratisch behauenen Block aus der Urzeit, einen der Venus geweihten Altar!)

Das bigotte Bergvolk hatte es von Anfang an für viel wahrscheinlicher gehalten, daß der kleinen Soubirous die Mutter Gottes in der Höhle erschienen sei, als daß ihr dort nichts erschienen sei. So waren sie mit ihr hingezogen und hatten zwar nicht »die Dame« gesehen, aber gesehen, wie Bernadette mit verzückten Bewegungen Gras aß und sich mit der Quelle benetzte. Sie bekreuzigten sich bei diesem Anblick und gerieten in religiösen Taumel, andere hingegen begannen zu tanzen und auf die Felsenwand zu klettern, was sonnenklar bewies, daß diese vom Teufel besessen waren, der Maria in ihrer Wohnung stören wollte. Es ging recht wüst zu an der heiligen Stätte und wurde nicht besser, als Bernadette schon in den Klostermauern von Nevers festsaß.

Der Polizeiverwalter von Tarbes (der Sohn dieses Herrn Foch war damals noch nicht einmal Militärschüler) wurde veranlaßt, den Besuch der Grotte zu untersagen, die Pfarrkinder von Lourdes und Umgebung scherten sich nicht um das Verbot und warfen die dort aufgerichteten Planken um. Nachdem die Kirche die Wundertätigkeit des Wassers anerkannt hatte, hob die weltliche Behörde selbstverständlich das Verbot auf. Seither ziehen Heilungsuchende und Opferfreudige in unendlicher Kolonne aus aller Herren Länder zum Gnadenquell.

Schritt für Schritt bewegt sich die endlose Kette von Menschen durch die Grotte. Ein eiserner Baum dient als Leuchter, 160 000 Kerzen brennen auf ihm jedes Jahr zu Ende. Rechts ist der Felsen wie schwarzes Eis geworden von den Küssen der Frommen. Ein mächtiger Korb ist der Postkasten fürs Jenseits, Briefe an die Madonna werden eingeworfen und im Wege der Verbrennung regelmäßig an ihren Bestimmungsort geleitet; am Ausgang der Höhle wird das Porto bezahlt, breit steht dort der Opferstock wie ein Schlagbaum.

Es knistern die Kerzen, es tropft das Wachs, und sein Geruch mischt sich betäubend mit dem Weihrauch und dem Geruch von Schweiß, manche Pilgergruppen erfüllen das Gelübde, sechs Wochen vor der Wallfahrt ihr Hemd nicht zu wechseln. Eintönig rauschen die Litaneien dahin.

Da beten die, die ihre irdische Seligkeit gegen die Hoffnung auf ein besseres Jenseits eintauschen und sich den Obrigkeiten fügen und Geist und Wissenschaft den Teufelswerken gleich achten sollen, um Zufriedenheit zu erlangen.

Da steht sie, diese Welt. Zufrieden? Nein, geduckt, angstbebend, armselig, bresthaft. Da geht sie, da steht sie, da kniet sie, diese Welt, geduckt, angstbebend, armselig, bresthaft. Die Arme krampfhaft ausgestreckt, das Wunder zu empfangen, das nicht kommen kann. Die Augen aufgerissen, um etwas zu sehen, das niemand je gesehen hat, niemand je sehen wird. Die Lippen bewegend zu einem Gebet, das niemand hört. Briefe aufgebend, die ungelesen verbrannt werden.

Die Wäsche an meinem Leib ist schon trocken. Mein Weg führt an der Hospitalité vorbei. Vor der Pförtnerloge stauen sich die Bahren, der Zug der Siechen, der Sterbenden.

Der Liberalismus zuckt die Achseln. »Man lasse jeden nach seiner Fasson selig werden.« Wahrlich, die hier werden bald selig sein. Aber nach ihrer Fasson? Nach einer Fasson, ihnen aufgezwungen von Nutznießern dieser Fasson. »Religion ist Privatsache«, verkündet nachsichtig der Reformismus. Hier sieht man die »Privatsache« zur öffentlichen Sache geworden – Massen bezahlen den Streitbann der militanten Kirche mit ihrem Geld und ihrem Leben.

Wie unter einem Alpdruck gehe ich heim. Auf dem Stuhl in meinem Zimmer liegen Schwimmhose und Handtuch, die ich mitnehmen wollte, aber nicht mitgenommen habe. Kommt, Schwimmhose und Handtuch, wir gehen baden.

 


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