Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Halbkolonie mit Halbfabrikaten

Es ist Spätnachmittag und sehr heiß. Ein Grammophon, verstärkt durch Lautsprecher, grölt Pariser Schlager zur Mole hin, auf die Bucht hinaus. Ich döse ein bißchen und habe vergessen, wo ich bin, bin ich in irgendeiner Kolonie, in Algier oder Tunis?

Das Paketboot »Cyrnos«, aus Nizza gekommen, nach Marseille bestimmt, ist am Kai vertäut, drei Kriegsschiffe ankern grau dahinter; rechts, längst veraltet, die Zitadelle der Genuesen, links Défense mobile mit Hangar für Wasserflugzeuge und Tanks für Unterseeboote.

Auf der Terrasse des Cafés trinken Matrosen Bier, ihr Mützenband lautet: »Compagnie des Côtes de la Corse«, über ihrem Hinterkopf wippt ein roter Pompon. Kinder turnen auf zwei rostigen ausrangierten Kanonenrohren; in ihrer Nähe, lockend, hält ein Handwägelchen Kastanieneis in tütenförmigen Waffeln feil. Eine Patrouille vom 173. Infanterieregiment, Stahlhelm, Bajonett aufgepflanzt, Mantel eingerollt, marschiert vor der »Cyrnos« auf und ab.

Am Wellenbrecher ist der gregorianische Kalender vollzählig angebunden, im Takt der Grammophon-Chansons schaukeln hier die Heiligen, jeder in andersfarbigem Ornat, »St. Christophore«, »St. Antoine de Padovie«, »St. Erasme«, der Gott der Schiffahrt, »St. Pierre«, der ein Fischer war, »St. Roch«, gleichfalls ein bekannter Protektor des Fischfangs. Ein Bootseigentümer erhofft sich von »St. Noël« eine tägliche Weihnachtsbescherung, ein anderer hat die Doppelfirma »Jesus-Maria« gewählt, einem dritten war auch solches nicht sicher genug, er hat gleich alle Heiligen auf den Bug geschrieben, »Tous les Saints«.

Fischerboote, mit sechs Ruderern bemannt, löschen ihre Tagesbeute. Wenn sie morgens anlegen, haben sie keine Fische an Bord, weil der Schiffsjunge schon bei der nördlichen Landungsbrücke an Land gesprungen und mit dem Fang in die Markthalle gerannt ist. Nachmittags ist es nicht so eilig, die Fischerfrauen kommen heran, um die Ausbeute zu überprüfen. Körbe werden ausgebessert und Netze. Gekochte Polypen, unheimlich gespenstisch mit ihren Saugnäpfen, die wie Augen sind, werden zerschnitten und als Köder auf Angelhaken gespießt. Für sich selbst wissen die Angler bessere Nahrung, an einem Hydranten, der Süßwasser in die Schiffe pumpt, wird Bouillabaisse gekocht.

An den Tischen des Cafés, an denen keine Matrosen sitzen, sitzen Landratten. Es sind Korsen. Man kann auch »Korsikaner« sagen, keinesfalls aber kann man sie »Korsaren« nennen, diese Biedermänner. Der eine war Unterbeamter im Außenministerium, der zweite Sergeant, der dritte Gefängniswärter in Cayenne zur Dreyfus-Zeit, die anderen kenne ich nicht. Sicherlich bekommen auch sie Ruhestandsgehälter vom französischen Staat. Korsika wird nicht durch Kolonialtruppen in Schach gehalten, sondern durch Beamtenpensionen und die Wirtschaftspolitik der Halbfabrikate.

Mühlenräder, noch nicht rund, nur sechseckiges Halbfabrikat, unbehauene Pflastersteine und Granitstufen fahren auf sechsspännigem, klingelndem Eselsfuhrwerk hafenein. Gerundet und behauen werden sie erst auf dem Festland.

Der Wagenbesitzer hat trotz der Hitze Samthosen und Kalabreser angetan, sein Bauch prunkt mit einer himmelblauen Schärpe. Einkehrhaus für Eselskutschen ist die Maison Orazzi, Hufschmied und Sattler amtieren auf der Schwelle, Tränkbrunnen und Krippen bieten sich den Lasttieren unter Palmen dar wie im Süden von Algerien, aber schon parken hier auch Kleinautos.

Versandbereit und unbewegt vom Takt der Grammophon-Chansons liegen auf dem Wellenbrecher Porphyrblöcke, jeder 1800 Kilogramm schwer. Je drei von ihnen werden, zylindrisch gemeißelt und übereinandergestülpt, eine Säule der neuen Kathedrale von Nîmes ergeben. Steinplatten sind dazu bestimmt, in USA poliert zu werden und das Eisengestänge eines Wolkenkratzers zu verkleiden, auf daß der Bau graniten aussehe.

Hauptfracht ist die Macchia, der Buschwald, der der Landschaft Duft und den Bluträchern Unterschlupf gewährt. Dies alles, was hier im Hafen als tote Ware lagert, noch vor einer Woche umschlang es sich auf den Hügeln in blühender, leuchtender, unlöslicher, schwer atmender Umarmung, dies alles, Mastix und Myrte, Pistazie und Zistus, Oleander und Buchsbaum, Heidekraut und Kreuzdorn. Nun ist es in Holzkohle verwandelt.

Auf allen Höhen flattert der Rauch der Meiler seit Menschengedenken. Dennoch merkt man nirgends Lücken im Buschwald. Rasch wächst das Gestrüpp wieder nach. Denselben Fleck, den man heute abholzt und auskohlt, kann man in fünfzehn Jahren wieder abholzen und auskohlen, wenn nur das Wurzelwerk unversehrt blieb.

Niedergesäbelt werden die Zweige, aufgeschichtet je elf Meterzentner über einem Kreis festgestampften Lehms, mit Lehm luftdicht bedeckt und Späne darunter entfacht. Für Luftzufuhr ist durch einen Kanal gesorgt und durch Löcher, die der Köhler mit einem Haken in den Meiler reißt. Zwei Tage lang brennt der Haufen, am dritten schwelt er, einen weiteren Tag braucht er, um auszukühlen.

Dann ist das Gesträuch zu Kohlenstäbchen geworden, gebündelt und in Säcke gepackt nimmt sie der brave Esel auf seinen Rücken, einen Zentner backbord, einen Zentner steuerbord, und navigiert den Bergpfad hinab zur Chaussee, zum Umschlagplatz. Mit leeren Schultern kehrt Eselchen wieder auf den Kamm zurück, um neue Belastung zu empfangen. Es macht nur Pendelverkehr; ans Meer hinab, in die Eselschänke Orazzi, in der sich die glöckchenbehangenen Grautiere der Bauern und Steinbrecher regelmäßig treffen, kommt es nie. Das Lastauto des Ajaccioser Kohlenhändlers lädt auf, was vom Esel abgeladen ward, der Köhler bekommt 25 Francs pro Sack, und das schwarze Gestrüpp rollt in den Hafen.

Hundertjährige Schiffe harren seiner, Zweimaster mit geschnitzten und polychromen Galionen. Die Brigg »Angelo« hat noch kupferne Ringe für Ketten, an sie wurden die westafrikanischen Neger geschmiedet, die man auf den Antillen gegen Zuckerrohr eintauschte. Antike Kästen von der bretonischen Küste schaukeln träge an der Reede, einst umsegelten sie die Welt, heute sind sie nur dazu gut, spottbilliges Strauchland in sizilianische und spanische Bezirke zu bringen, wo es kein Holz zum Heizen gibt und kein Geld, um richtige Kohle zu kaufen.

In den Kajüten der alten Segler, hart neben der Koje des Kapitäns, steht der Süßwassertank von Anno dazumal, hermetisch verlötet, mit festem Schloß versehen, darin war zu trinken genug für monatelange Tropenfahrt. Niemand außer dem Kapitän kannte das Versteck des Schlüssels, des Schlüssels zur Macht. Ohne ihn hätte man den Behälter aufbrechen müssen, und das bedeutete, daß das Wasser verdunstet und die Mannschaft alsbald verdurstet wäre.

Heute kreuzt die Brigg nicht mehr im Tropenmeer. Vier Matrosen sind die ganze Bemannung. Vier Tage lang schütten sie im Ajaccioser Hafen die Holzkohle aus den Säcken in den Laderaum, 350 000 Kilogramm, und werden am Reiseziel diese Fracht ebensolange löschen, dazwischen liegt Reffen der Segel, Windstille oder Sturm auf einer Fahrt, die drei Tage dauern kann oder zweiundzwanzig. Löhnung: 600 Lire monatlich, ohne Krankenkasse, ohne Invaliditätsversicherung, ohne Pension. Vom Huckepacktragen bildet sich über kurz oder lang ein eitriges Geschwür auf dem Rücken, unbeschadet des über Hinterkopf und Schulterblätter geschnallten Strohsacks.

Hinter der steinernen Waschküche am Kai, mit deren Bau sich Napoleon III. in der Heimatstadt seines Onkels verewigt hat, steigen Terrassen von Rundholz auf. In Spanien werden diese Pappeln als Spulen auferstehen, und aus den Pinien wird man Kisten für Valencia-Orangen und Almeria-Trauben zimmern. Bereits zu Bohlen zersägt sind die Kastanienstämme, aus denen man in Belgien uralte Möbel schnitzt. Die schlechteren Sorten werden zu Tannin verkocht, womit man Häute gerbt. Keineswegs hier, irgendwo in Frankreich.

Auch die Korkeiche erlebt in ferner Ferne ihre Transfiguration, während ihr Stamm, vielhundertjährig, in den korsischen Forsten ruhig weiterwächst. Diese drahtumwickelten Ballen an Bord sind ihre Rinde, die sie alle vier Jahre abgibt. Nicht untergehen wird das Schiff, denn es trägt seinen Rettungsgürtel innen. Auf der Rückfahrt werden kleine Stücke seiner heutigen Ladung in den Flaschenhälsen des Malaga stecken, den die Besatzung trinkt. Andere Stücke werden, wenn Reeder oder Korkenfabrikant Meldung von guter Bilanz bekommen, bis an die Decke knallen.

Noch ein Holzprodukt kommt auf Korsika zur Welt, zur großen Welt. In der Macchia wächst Erika, eine andere als die unserer Heimat eine hochgewachsene, stämmige, baumartige Heide. Stauden von fünf Meter Höhe, Äste von acht Zentimeter Durchmesser. Sie aber – Äste und Staude – sind weder für die Korsen noch für die Engländer von Wichtigkeit von Wichtigkeit ist der Wurzelknollen, eine bis zu 25 Pfund schwere Kugel aus steinhartem, mehr als steinhartem Holz. Dorfbewohner graben sie aus dem Erdreich und liefern sie an die Fabrik.

Oben in Sartene habe ich eine solche Fabrik besucht, hier hinter dem Hafenbahnhof eine zweite. Im Hof liegen die Knollen zuhauf, mit feuchtem Leinen und Gestrüpp bedeckt, damit das direkte Sonnenlicht sie nicht sprenge. Zehn Monate warten sie so, dann sind sie trocken und kommen in den Werksaal, wo der Schnitt vollzogen wird.

Mit halbgeschlossenen Augen, mit stockendem Atem sieht man diesem Prozeß zu. Auf einer Estrade aus plumpen Brettern sitzen Arbeiter, so zwar, daß ihre Füße baumeln. Unter ihnen wird immerfort gekehrt, sonst würden Späne und Abfall sie begraben.

Vor dem Arbeiter, hart an seiner Nase vorbei, rast die Kreissäge in solchem Tempo um ihre Achse, daß sie unsichtbar, nur ein Flimmern der Luft ist. Dem Rand dieses Hauchs wird die Wurzel entgegengepreßt sie soll, gleichzeitig nach stereometrischem Gesetz und nach dem Augenmaß, in die Maximalzahl von geeigneten Scheiben geteilt werden. Die Arbeit ähnelt der des Brillantenschleifers. Aber während die Diamanten an Stielen festgehalten werden, hält der Korse den hölzernen Stein mit bloßer Hand, und seine Finger geraten haarscharf an die Sausesäge.

»Kann da kein Unglück passieren?«

»Jeden Augenblick kommt etwas vor.«

»Und was geschieht mit dem Verletzten?«

»Er wird ins Hospital gebracht. Manchmal schenkt ihm der Unternehmer hundert Francs, aber ein Anspruch besteht nicht. Ist der Arbeiter privat gegen Unfall versichert, so zahlt ihm die Versicherungsgesellschaft für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit den halben Taglohn, fünfzehn Francs. Davon muß er Arzt und Medikamente bestreiten. Die Holzarbeiter haben keine Gewerkschaft in Korsika.«

Für jede der Wurzelplatten, 15 mal 6 mal 6 Zentimeter, erzielt der Fabrikant dieses Halbfabrikats zehn Francs ab Ajaccio. Da liegen sie auf der Mole, breite, kurze, verplombte Säcke zu 2500 Stück, mit römischen Ziffern bezeichnet. I sind die rosaroten, II die rötlichen, III die gelben Stücke der Erikawurzel. In England und Amerika höhlt man sie aus, poliert sie und adjustiert sie zu Bruyère-Pfeifen, an denen man den Gentleman erkennt.

Ladies bedürfen gleichfalls des korsischen Gestrüpps. Einliterflaschen mit ätherischem Öl werden vorsichtig an Bord der »Cyrnos« getragen. Fünftausend Kilogramm Blätter und Blüten, sechs Lastautos voll, ergeben einen Liter Eukalyptusöl, für den die Parfümfabriken 15 000 Francs bezahlen. Ebenso kostbar kann man die Myrten machen, die auf den Hügeln in Millionen kleiner Sträucher lila blühen und die stärkste Ingredienz der Macchia sind, nach deren Duft, dem Duft seiner Jugendzeit, sich Napoleon auf St. Helena zu sehnen begann. Zu spät.

Ich sah in Sainte-Lucie die einzige Myrtenölfabrik von Korsika – keine Fabrik mehr, sondern eine Brandstätte. Infolge der Sonnenhitze explodierte eine Flasche, Feuer erfaßte die getrockneten Myrtenblätter, alles wurde eingeäschert; auf dem verkohlten Feld liegen halbgeschmolzene Destillationsapparate und ein geborstener Öltank.

Körbe mit Amseln und Säcke mit Edelkastanien lagern am Kai. Aus den Amseln werden Pasteten gemacht. Nicht hier, erst am Bestimmungsort. Die Kastanien glasiert man in Paris oder röstet sie auf winterlichen Straßen des Festlandes angesichts frierender Passanten; der schlechtesten Kategorie harrt das Schicksal, in Nizza zu Kastanienpüree verarbeitet und als Konserven verschickt zu werden.

Tausende von Kisten mit je sechs Laiben Käse gehen nach – Roquefort. Jedermann kann die Adresse lesen: Société des Caves et Producteurs Réunis à Roquefort (Dép. Puy-de-Dômes). Aller Roquefort stammt aus Korsika. Früher stammte er von Schafen, die, drei Millionen an der Zahl, auf dem vulkanischen Hochplateau von Roquefort in Mittelfrankreich weideten und sich ausgiebig melken ließen. 1908 vernichtete eine Schafpest die Herden. Nun war guter Käs teuer. Zwar wußten die betroffenen Producteurs Réunis, daß der korsische Schafkäse im Geschmack an den Roquefort erinnert – wie aber ließe sich diese Ähnlichkeit in Gleichartigkeit umwandeln, ohne die Monopolstellung der Stadt Roquefort anzutasten? Die Lösung wurde gefunden: Korsika liefert das Halbfabrikat, so wie es halbfertige Kirchensäulen, halbfertige Mühlenräder, halbfertige Korkstöpsel, halbfertige Tabakpfeifen, halbfertige Geflügelpasteten oder halbfertiges Kastanienpüree liefert.

Zu Korsika mischt man dem gesalzenen Weißkäse geriebenes Brot bei, preßt ihn in Formen, packt ihn in Kisten und schickt ihn an die Société des Caves et Producteurs Réunis à Roquefort (Dép. Puy-de-Dômes). Dort bleibt er in den Grotten sechs Monate liegen, dann ist das Brot schön grün verschimmelt und der Käse echter Roquefort geworden.

Die Matrosen, die auf der Caféterrasse ihr Bier tranken, sind in die Genuesenzitadelle gegangen. Die Bürger aber sitzen noch da und reden im Sinne der französischen Leitartikel von Politik. Sie sprechen korsisch, italienische Sätze mit französischen Vokabeln. Ihre Ahnen kämpften für die Unabhängigkeit der Insel, kämpften später für die Französische Revolution. Anstelle von Unruhe und Bewegung sind nun Ruhe und Stand getreten und Ruhestandsgehalt. Das zahlt der französische Staat einer Bevölkerungsschicht und macht die Produkte der Insel von der Endbearbeitung auf dem Festland abhängig.

Die »Cyrnos« löst die Taue, das Grammophon, verstärkt durch Lautsprecher, sendet den neuesten Pariser Schlager über den abendlichen Hafen von Ajaccio. Er schimmert in den verschiedenfarbig blauen Tönen von Delfter Porzellan.

 


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