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Der Abend war hereingebrochen, die Windmühlenflügel auf der Heide, in der das Städtchen wie eine Insel liegt, bewegten sich schläfrig in der schwachen Brise, die Fenster warfen Lichtquadrate auf die Straße. Auf dem Weg zum Bahnhof begegneten wir, der holländische Schriftsteller Nico Rost und ich, einer heimkehrenden Herde; die Schafe trotteten auf dem Bürgersteig an den mehrstöckigen Häusern und den Kandelabern der elektrischen Beleuchtung vorbei und drängten sich dann durch den engen Eingang eines Hauses, in dessen Hof ihnen wohl der Stall bereitet ist. Ihr Läuten trippelte ab, das letzte Klingling wurde von den Vesperglocken abgelöst.
Wir atmeten tief, dieser Klang von Glocke und Glöckchen schien das versöhnende Finale der schauerlichen Grand-Guignol-Szenen zu sein, die wir tagsüber erlebt. Irrtum. Es war nicht der Schlußakkord, ein unfriedlicher Schlußakkord sollte noch ertönen. Ein Wächter überholte uns auf seinem Rad, er hielt für einen Augenblick an und erzählte uns, ein Patient, der seine Angehörigen zur Bahn begleite, wolle den Versuch machen, mit dem gleichen Zug zu entfliehen. Deshalb brauche der am Bahnhof ständig postierte Wächter Sukkurs.
Kurz nach uns kam der Kranke mit Eltern und Schwester auf den Bahnhof. Der Vater, ein dekrepiter Mann mit dem Bändchen der Ehrenlegion, die Mutter um so lebensvoller, immerfort sprechend, die Tochter ein schlankbeiniges Sportmädel. Etwas abseits von ihnen hielt sich der junge Patient, sein Schritt und sein Gesicht, ein sehr geistiges Gesicht, verrieten Erregung. In zehn Minuten, in acht Minuten wird es sich entscheiden, ob es mir glückt, aus diesem fürchterlichen Milieu wegzukommen. Niemand darf mir anmerken, was ich vorhabe . . .noch sechs Minuten . . .
Er ahnt nicht, daß draußen auf dem Bahnsteig Feinde stehen, deren Augen durch die Milchglasscheibe auf ihn zielen. Er schaut auf die Uhr. Nur noch vier Minuten, noch zwei . . . Vater drückt ihm die Hand, und während des mütterlichen Kusses, gleichzeitig mit der Zärtlichkeit der Familie, spürt er, wie er von hinten gefaßt wird, die von der Familie verständigten Wächter führen ihn weg.
Das war der Schlußakkord unseres Besuchs in der kleinen Stadt. Er gellte heftig in uns nach, denn die anderen Kranken, die wir gesehen, hatten sich mehrminder mit ihrer wirklichen oder eingebildeten Situation abgefunden. Der junge Mensch wollte fliehen, er hat die Minuten gezählt, vielleicht muß er noch Jahre, Jahrzehnte in dem ihm verhaßten Ort bleiben.
Sich eines jahrtausendalten Aberglaubens, einer religiösen Tradition bemächtigend, hat die moderne Psychiatrie das belgische Städtchen Gheel dazu ausersehen, die offene Fürsorge für Geisteskranke durchzuführen, ihre Unterbringung bei Familien, eine Irrenpflege ohne Irrenhaus also.
Der Marktplatz war heute (Montag) und zu früher Stunde wirklich einer, flämische Bauern standen hinter Körben mit Butter und Eiern, den einzigen marktbaren Landprodukten dieser Gegend. Vier Kühe, vier Hektar Feld, vier Kinder und ein paar Hühner sind der Standard des Kleinbauern in der Heide des Kempenlandes. Durch Zuweisung eines Pfleglings erhöht sich der Besitzstand, Pflegegeld wird für ihn bezahlt, und oft ist er Gehilfe dazu. Aber zum Markt wird er nicht geschickt, wir wenigstens sahen keinen Geisteskranken, nur Bauern in gelblackierten Holzschuhen und Händler mit Kleinautos.
In der Rhynstraat, dem alten Postweg nach München-Gladbach und Düsseldorf, traten wir in eines der massigen, breit geöffneten Einkehrhäuser; hier war, wie uns die Herbergswirtin erzählte (Nico Rost kann als Holländer sich mit den Flamen verständigen), jahrhundertelang Endstation der schweren Kutschen gewesen, die Kölner Bier nach Gheel brachten und Gheeler Bier nach Köln. Wir tranken eine Molle Gheeler und gingen zur Kirche hinüber. Ihr Hauptportal war geschlossen, aber die »Ziekenkammer« gab den Weg in die Kirche frei.
Die Ziekenkammer ist ein fester Anbau oder, besser gesagt, ein Einbau in die Kirche, ein geräumiges Zimmer, aus dem Türen in zwei vergitterte Zellen führen. (Diese architektonische Anordnung, daß die Tür aus dem Zimmer der Pfleglinge in einen großen Raum mündet, in das Wohnzimmer der Pflegefamilie, fanden wir auch in den modernen Häusern.) Längst stehen die Eisenbetten der »Ziekenkammer« nicht mehr in Gebrauch, doch liegt noch das Bettzeug darin, und von den abmontierten Bettgittern sind die Scharniere und Nuten da.
Es bedarf nicht allzu vieler Phantasie, um sich dieses Interieur zu einem der üblichen Wandgemälde aus den achtziger Jahren zu ergänzen: eine Braut, vom Geliebten verlassen und darob der Sinne beraubt, hockt mit wirrem Haar und rollenden Augen auf dieser umgitterten Lagerstatt, der Priester hebt ihr das Kruzifixum entgegen, durch die Tür lugen bebend-hoffend Vater und Mutter. Castans Panoptikum könnte dieses Genrebild in eine Wachsfigurengruppe umsetzen, im Katalog stünden die Worte: »Nach dem weltberühmten Gemälde von Professor Gabriel Max«, und die Beschreibung der Szene schlösse so: »Ob sie wohl Heilung finden wird . . .?«
Neun Tage mußten die Irren in diesen Zellen bleiben, im Nebenraum lagen die Familienmitglieder auf den Knien und hörten die Messe durch die offene Kirchentür. Leichtere Kranke wohnten dem Gottesdienst bei, und wenn sie gar unter dem Reliquienschrein durchzurutschen vermochten, so war das ein Zeichen des Himmels, daß ihre Heilung gewährleistet sei.
Wer nach Ablauf der Novaine keine Besserung verspürte, der blieb in der Nähe der wundertätigen Kirche entweder mit seinen Angehörigen oder, oft mit schweren Ketten gefesselt, in der Obhut einer Familie von Gheel. Das ist nachweislich schon vor siebenhundert Jahren so gewesen, der Überlieferung nach schon vor mehr als dreizehnhundert Jahren.
Der heiligen Dymphna ist die große gotische Kirche geweiht, an den Mauern kleben die Aufnahmebedingungen der »Broederschap der Sinte Dimphna tot bevrijding van de Krankzinnigheit«, für jährlich einen Franc (belgisch) erwirbt man das Recht auf eine feierliche Messe zu Lebzeiten und eine nach dem Tode, für je fünfzig Centimes eine gewöhnliche Messe, und gegen einen Jahresbeitrag von fünf Francs wird für Vreemdelinge am ersten Montag des Januar, April, Juni und Oktober und am St.-Dymphna-Tag (15. Mai) je eine Messe gelesen. Einschreibung und Bezahlung der Messe beim Sakristan.
Statuen und Bilder der heiligen Dymphna und des heiligen Gerebernus schmücken Kirchenwände und Reliquienschrein. Zauberte vorhin der Besuch in der Siechenkammer eine Panoptikumsgruppe vor unser geistiges Auge, so sehen wir uns jetzt der Bildtafel eines Bänkelsängers gegenüber, der eine grause Moritat singt von Blutschande, Flucht, Entdeckung, Enthauptung und erbaulicher Moral.
Leute, hört die Mordsgeschichte! Um das Jahr 600 herrschte ein heidnischer König über die heidnische Insel Irland. Da starb seine Gattin, und der Witwer wollte nur ein Mädchen ehelichen, das der Toten gleichsehe. Deshalb sandte er seine Boten in alle Länder, aber sie kehrten mit leeren Händen zurück. »Niemand, o Majestät, niemand auf der Erde gleicht deinem verblichenen Gespons, niemand außer deiner Tochter Dymphna.« Damit hatten diese heidnischen Schlaufüchse, die Aufmerksamkeit ihres Herrn von ihrer Erfolglosigkeit auf seine Tochter abgelenkt, die in der Tat lieblich erblüht und ihrer toten Mutter wie aus den Augen geschnitten war. Von sündiger Liebe erfaßt, wollte der König nun seine Tochter ins Ehebett zerren, was kann man denn von einem Heiden anderes erwarten. Entsetzt wehrte Dymphna, die von ihrer Mutter getauft und christlich erzogen worden war und keinerlei Ödipuskomplexe kannte, diesen Heiratsantrag ab – mehr als eine kurze Bedenkzeit konnte sie von ihrem Vater (oder ihr Vater von ihr) nicht erlangen. In ihrer Bedrängnis wandte sich Prinzessin Dymphna an ihren Beichtiger Gerebernus, und der riet ihr nicht nur zu entfliehen, sondern entfloh mit ihr.
Wutschnaubend und geil verfolgte der Heidenkönig an der Spitze seiner Mannen die unbotmäßige Tochter und deren Verführer. In Antwerpen verlor er ihre Spur. Seine Häscher suchten die Gegend ab, wobei sie in einer abgelegenen Schenke des Kempenlandes einkehrten und die Zeche mit den Münzen ihrer Heimat beglichen. Nichtsahnend zeigte ihnen die Wirtin einige andere Geldstücke der gleichen Gattung und erzählte, ein im nahen Forst lebendes frommes Paar bezahle damit seinen Proviant.
Nun rückten der König und seine Söldner gegen den Unterschlupf vor. Zwar vermochten Dymphna und Gerebernus zu einer Kapelle des heiligen Martinus in Gheel zu flüchten, dort jedoch ereilte sie der Vater. Schnurstracks ließ er dem Gerebernus den Kopf abschlagen, während welcher Prozedur er das Mädchen seiner unvermindert zärtlichen Vatergefühle versicherte und seine Werbung wiederholte. Da Dymphna ablehnend blieb, gab er, außer sich vor Zorn, den Befehl, auch sie zu enthaupten. Keiner der heidnischen Knechte wagte es, dieses zu tun, und so führte der König selbst den Todesstreich. Dann floh er vom Ort der Tat.
Bauersleute hatten von Ferne Mord und Flucht sich begeben gesehen; als sie sich näher heranwagten, fanden sie die Leichname bereits in einem Sarg aus weißem, in der Gegend unbekannten Stein gebettet vor. Erschüttert von diesem Wunder knieten sie nieder. Eine Irre unter den Betern war von Stund an geheilt.
Das ist der Ursprung Gheels als Heilquelle der Irren.
Diese Legende enthält Widersprüche, die bei ihrer Abfassung nicht zu vermeiden waren. Selbstverständlich muß der blutschänderische Vater ein ebenso grimmer Heide sein wie die standhaft widerstrebende Tochter eine getaufte Christin. Der Name des Königs bleibt ungenannt, und da Irland weit ist, glaubten die Erfinder, kein Dementi befürchten zu müssen, auch wenn sie Tag und Jahr genau angaben:
Als men schreef 30 May ses hondert Jaer
Is S. Dymphna hier onthalst von haer eygen vaer.
Aber die Regierungszeiten der irischen Könige jener Zeit sind bekannt, und auf keinen paßt eine Episode wie die berichtete. Schon im fünften Jahrhundert hatten St. Patrick und seine Nachfolger die grüne Insel restlos zum Christentum bekehrt, und die glühendsten Bekenner waren die Könige.
Die Bilder in der Kirche stellen den Reisebegleiter der flüchtigen Königstochter als schönen Jüngling dar, obwohl Petrus Camarasensis, Bischof von Cambrai, bereits 1247 allem Gerede von einer Liebschaft zwischen Dymphna und Gerebernus die Spitze abbrach, indem er protokollierte: Außer dem Gebein eines Mädchens findet sich in dem Sarkophag ein männlicher Unterkiefer, der, wie aus den abgewetzten Zähnen und den vielen Zahnlücken ersichtlich, einem Greise zugehört.
Im Mittelalter versuchten die Bewohner der Nibelungenstadt Xanten, eifersüchtig auf den Zulauf von Wallfahrern nach Gheel, die Gebeine der beiden Heiligen zu rauben. Die Gheeler jagten ihnen Dymphna ab, Gerebernus gelangte teilweise nach Xanten. Er beschränkt sich dort darauf, Epilepsie zu behandeln, während Dymphna mit den restlichen Resten von Gerebernus das ganze Gebiet der Psychopathologie und Neurologie umfaßt.
Alljährlich am 15. Mai kommen Wallfahrer mit ihren von Dämonen besessenen Angehörigen aus den entlegensten Landstrichen hierher und veranlassen die Kranken, unter dem Reliquienschrein durchzukriechen.
Seitdem der belgische Staat Gheel zu einer Irrenkolonie gemacht hat, ist zu den traditionellen religiösen und finanziellen Motiven, aus denen die Bewohnerschaft ehedem Irre in Pflege nahm, ein neues dazugekommen. Die Kranken werden nur jenen Bürgern zugewiesen, die auf einer vom Kronanwalt und vom Bürgermeister zusammengestellten Liste stehen. Vorbestrafte, irgendeines Delikts Verdächtige und Leute, denen schlechte Behandlung oder arge Ausbeutung eines Pflegebefohlenen zur Last gelegt wurde, sind ausgeschlossen. Wer nun keinen Geisteskranken hat, fühlt sich in seinem Ruf geschädigt. »Was mag er angestellt haben?« fragen sich die biederen Gheeler und munkeln allerhand.
Hat jemand die Absicht, sein Haus zu verkaufen, wirbt er vor allem um Pfleglinge; denn ein Käufer findet sich leichter, wenn er gleichzeitig mit dem Haus Beiträger zur Wirtschaft übernehmen kann. Gewiß, automatisch gehen die Untermieter nicht auf den neuen Hausbesitzer über, aber ohne besonderen Grund wird man sie nicht exmittieren. Mögen die Pfleglinge auch nur »Armlastige«, Gemeinde-Arme sein, die Chance besteht, daß später Klassekranke an ihrer Stelle einquartiert werden. Deshalb gibt man in Gheel auf ein Haus mit Kranken eher eine Hypothek als auf ein Haus ohne Kranke.
Der Familie, die bisher noch keinen Irren in Pflege hatte, wird nicht etwa zunächst ein leichter, gut zahlender Patient zugewiesen, damit sie an ihm ihre Geduld und ihre Eignung für die Aufnahme von schwierigeren Fällen erprobe, sondern die Leitung der Irren-Kolonie geht umgekehrt vor: Erst wenn sich »Verpleegster« in der Behandlung komplizierter Pensionäre bewährt haben, bekommen sie einträglichere und bequemere Hausgenossen.
Auch auswärtige Gemeinden und Familien haben ein materielles Interesse daran, ihre Angehörigen nach Gheel zu bringen, weil es sich billiger stellt als der Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt. Holländer, deren Aufenthalt in den Irrenanstalten ihrer Heimat zweieinhalb Gulden täglich kosten würde, zahlen hier nur 12,50 belgische Francs, also einen Gulden; für belgische Armenpatienten in Gheel gibt die Heimatgemeinde 7 Francs 75. Die Kosten für russische Emigranten soll deren Rotes Kreuz tragen, hält aber diese Verpflichtung nicht, da es genau weiß, daß diese Russen als politische Emigranten gelten und nicht in die Sowjetunion abgeschoben werden; so muß der belgische Staat bezahlen.
Von den dreitausend Kranken im Gheeler Stadtkreis sind mehr als die Hälfte Gemeinde-Arme, für die übrigen kommen ihre Angehörigen auf. Oh, welche Klassenunterschiede in der Geistesgestörten-Welt. Verpflegung erster Klasse kostet 8000 bis 12 000 Francs jährlich, zweiter Klasse von 6000, dritter Klasse von 4000 Francs an. (Sechzehn Prozent werden an die Verwaltung der Kolonie abgeführt.)
Wer einen Kranken nach Gheel bringen will, teilt der Kolonieverwaltung mit, wieviel er auszulegen beabsichtigt und welche Wünsche zu berücksichtigen wären. Ein Kranker möchte Kinder im Hause haben, eine verträgt die Anwesenheit von Männern nicht, einer spielt gern Klavier, einer will ein Billard, eine Tiere und einer ein Geschäft, in dem er sich betätigen kann, womöglich eines seiner Branche.
Die Mehrzahl der zahlenden Patienten kommt unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter hierher, andere Verwandte behalten einen Irren nicht gern bei sich. Meist tut ihm die Milieuveränderung gut, bei fremden Leuten gibt er nicht jeder Laune nach, fremde Leute kann er nicht mehr schikanieren, als er eben muß.
Einmal im Monat besucht der Arzt (es gibt ihrer sieben) die Patienten, alle vierzehn Tage ein Wärter und kontrolliert das Krankenbuch, darin die »Verpleegster« Verhalten, Gewicht, Bad und Wäsche ihres Pensionärs verzeichnen.
Ins Kontrollbuch der weiblichen Pfleglinge wird jetzt auch die Menstruation eingetragen, damit die Kolonie nicht durch die Geburt eines Kindes überrascht werde. Übertrieben erotische Patienten sind im Prinzip von der Heimpflege ausgeschlossen, aber in der Praxis läßt sich das nicht immer so voraussagen.
Drei Jahre vor dem Weltkrieg kam eine Neunzehnjährige aus einer Anstalt für debile Mädchen zu einer Familie nach Gheel. Bald darauf starb die Hausfrau, und nicht weniger als fünfzehn Jahre lang führte die Kranke den Haushalt für den Witwer und die beiden Brüder der Verstorbenen. In ihrem Wesen war sie unreif wie eine Zehnjährige. Da plötzlich, 1927, gebar sie ein Kind. Ein junger Mann aus dem Nachbarhaus beging Selbstmord, nachdem er seine Vaterschaft entdeckt sah, denn nichts Schimpflicheres gibt es in Gheel als ein Vergehen an Pfleglingen.
Eigentlich hätte nun die Kranke einer geschlossenen Anstalt übergeben werden sollen, weil Gheel der Erzeugung minderwertiger Nachkommenschaft keinen Vorschub leisten will, im gegebenen Fall jedoch erwies sich die Internierung als unnötig, die junge Mutter konnte sogar aus der Heimpflege in die sogenannte überwachte Freiheit entlassen werden und hat eine Stellung gefunden, durch die sie sich und ihr Kind ernährt.
Lebensmüde und Kriminelle sind zur Heimpflege nicht zugelassen, und man versichert uns, daß Selbstmorde und Verbrechen zu den Seltenheiten gehören; die cause célèbre, die Ermordung des Bürgermeisters von Gheel durch einen »Zinneloosen«, liegt schon zwei Menschenalter zurück.
Bei unvermuteten Ausbrüchen von Gewalttätigkeit kommt der Kranke in das Hospital, eine kleine geschlossene Anstalt, in der für fünfundzwanzig Männer und fünfundzwanzig Frauen Raum ist, erweisen sich die Unruhe oder die Unreinlichkeit eines Kranken als chronisch, wird er in ein Irrenhaus geschafft. Von je zehn nach Gheel gebrachten Patienten sind höchstens zwei für die Heimpflege ungeeignet, und viel höher scheint der Prozentsatz auch bei den Geisteskranken außerhalb Gheels nicht zu sein. Wenigstens weist
darauf hin. Diese Anstalt wurde vor ein paar Jahren aus baulichen oder anderen Gründen aufgelöst, und man berief Dr. Sano, den Leiter der Gheeler Kolonie, damit er feststelle, wen vom Belag er zu sich nehmen könne. Dr. Sano: »Geben Sie mir alle, man wird ja sehen.« Ein Eisenbahnzug mit Irren rollte nach Gheel, wo die zukünftigen Quartiergeber auf dem Bahnhof standen wie anderswo die Portiers der großen Hotels. Hundertsechsunddreißig Kranke kamen an, und nur zwanzig Prozent stellten sich im Laufe der Zeit als untauglich für die Gheeler Heimpflege heraus.
Während des Krieges forderten Unterernährung und Grippe und die aufregenden Ereignisse Hunderte von Todesopfern in der Kolonie, fünfzehn Prozent des Belags. In den belgischen Irrenhäusern starben damals bis zu fünfzig Prozent der Insassen. Drei Prozent beträgt die Sterblichkeit in Gheel zu normalen Zeiten.
Einhundertfünfundzwanzig Kranke gehen im Laufe des Jahres aus Gheel ab, entweder in geschlossene Anstalten oder in die Freiheit; unter den letzteren sind jährlich etwa sechzig, über die die Leitung der Kolonie eine Fernkontrolle ausübt.
Die Pfleglinge eines Hauses müssen von gleichem Geschlecht sein, und mehr als zwei darf eine Familie nicht aufnehmen (»tres faciunt Irrenhaus«, sagen die Gegner der geschlossenen Anstalten). Immer ist von seiten der Gheeler Bevölkerung die Nachfrage nach Pensionären größer als die Zahl der Eingelieferten. Zur Zeit sind vierhundert Plätze unbesetzt, auch hier herrscht die Krise.
Im Lokal des Klubs »Hollandia« wurden wir, die wir bislang nur einzelne Irre auf der Straße getroffen hatten, plötzlich von einer ganzen Gemeinschaft unheimlich umringt. Männliche und weibliche Mitglieder dieser Landsmannschaft tagen getrennt, die Tafel draußen an der Tür hatte uns folgenden Text zugekehrt:
Zangvereeniging »Hollandia«
Vandaag alleen dames.
Toegang voor mannelijke leden
verboden
Geen ruiling van boeken
Obwohl also solcherart der Eintritt für männliche Mitglieder, auch unter dem Vorwand des Bücheraustauschs, heute verboten war, traten wir ein, die Ausrede bereithaltend, daß wir zwar Männer, aber keine Mitglieder seien. Um so erstaunter waren wir, als im Saal, wo wir nur Frauen zu sehen erwartet hatten, ein Mann auf uns zutrat. Er war beleibt und bartlos, und stellte sich uns als van der X. (Bruder eines bekannten Staatsmannes) vor; an seiner Stimme erkannten wir, daß er hierher und nicht zu den Männern gehörte.
Scheue Frauen standen umher, saßen an den Tischen, machten Handarbeiten oder lasen Romane, zwei Schwestern waren in Volendamer Tracht und imbezill, Mijnheer (oder Mevrouw) van der X. schlug vor, uns zu Ehren ein Lied zu singen, er setzte sich ans Harmonium, intonierte mit seiner zarten Altstimme, und die anderen, um ihn gruppiert, fielen ein: »Wien Neerlands bloed . . .«
Dieses Lied, das zwar mit dem Wort »Wien« oder »Wienerland« und mit »bloed« beginnt, hat nichts mit dem Heurigen zu tun, sondern ist ein patriotischer Appell an den, »wem niederländisch Blut in den Adern fließt, van vreemden smetten vrij«, vom fremden Schmutze frei. Nachdem diese blutstolze Hymne beendet war, sang der Chor – die Gesellschaft hatte gehört, daß ich Deutscher sei – auch »Studio auf seiner Reis', jupheidi, jupheida, stets famos zu leben weiß, jupheidi, heida«. Und dann noch einen Hymnus »Wilhelmus van Nassauen«.
»Das ganze war wie eine Karikatur auf holländisches Spießerleben«, sagte ich zu Rost, als wir wieder auf die Straße hinaustraten.
Im Zigarrenladen bediente uns ein freundlicher Greis, erkundigte sich, was uns nach Gheel führe, und erzählte uns im Laufe des Gesprächs, er sei 1884 als Kranker hierhergekommen und finde das Leben gesund und durchaus angenehm. So wünschten wir ihm weitere fünfzig glückliche Jahre in Gheel, und er erwiderte lächelnd, so lange werde er leider nicht mehr bleiben können.
Einzeln und still sahen wir Kranke durch die Straßen gehen, zumeist in ärmlicher oder nachlässiger Kleidung, den Kopf gesenkt, schielenden oder starren Auges, manche allerdings waren auffallend, sie sprachen mit sich selbst, schlenkerten mit den Beinen oder verdrehten krampfhaft ihre Arme, einer setzte seine Schritte wie ein Seiltänzer auf die Schienen der kleinen Dampfbahn, die klingelnd die Stadt durchfährt.
Niemand schenkte ihnen Beachtung, so absonderlich sie sich auch benehmen mochten, selbst die Schulkinder gingen ruhig vorbei. Aber als ein Mann plötzlich zu Boden fiel, Schaum vor dem Mund, sprangen lautlos, ohne Erregung, Nachbarn herbei, hoben den Epileptiker auf und trugen ihn mit geübter Hand ins nächste Haus.
Am Arm einer Frau kam ein Mann langsam des Weges, sie schob einen Kinderwagen, doch war es kein Familienidyll, der Mann war blind und paralytisch, die Frau nicht seine Frau, sondern seine Wirtin, das Kind nicht das seine, sondern das ihre.
Mittags standen in langer Schlange einige hundert Männer vor dem Rathaus, auf die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung wartend; die Mehrzahl von ihnen hatte zur Belegschaft einer Fabrik gehört, die Kupfer aus dem Kongo verarbeitete und jetzt stillgelegt ist. Nicht weniger als achthundert arbeitslose Industriearbeiter zählt dieser bäuerische Bezirk. Auf der anderen Seite des Marktplatzes zog eben eine Kolonne von vierzig Irren aus der Badeanstalt. Bemitleidende Blicke gingen herüber und hinüber wie Verbindungsfäden, die Gesunden bedauerten die Irren, die Irren bedauerten die arbeitslosen Gesunden.
Neben dem Portal der Amanduskerk, zwischen zwei Säulen, lehnte ein Mädchen aus Hawaii, schlank und braun war sie wie ein altes Fresko auf der Kirchenwand. Stand sie um der Wirkung willen hier? Jedenfalls nicht wegen der Wirkung auf andere. Denn am Abend, als von ihr kaum ein verschwimmender Umriß und die blitzenden Punkte ihrer Augen zu sehen waren, hatte sie ihren Rahmen aus Säulen und Bogen noch nicht verlassen. Zu den Mahlzeiten holt man sie nach Hause, dann stellt sie sich wieder an ihren gewohnten Platz.
Wir lernten einen hochgewachsenen blonden Buchhändler aus Luxemburg kennen. Vor kurzem wurde er aus einer geschlossenen Anstalt nach Gheel überwiesen, sein Vater lebt schon seit seinem vierzigsten Lebensjahr als Kranker hier; der Großvater war im Alter von sechzig Jahren aus Luxemburg nach Gheel gebracht worden und ist hier gestorben. »Solche Fälle von Antizipation kommen häufig vor«, sagte uns der junge Buchhändler, als er uns über seine Familiengeschichte erstaunt sah.
Vor einem Hause spielten zwei Kinder Ball, Mikrozephale, die winzigen runden Köpfchen saßen auf dem Körper wie der Knauf auf einem Stock. Die Hausfrau, die auf der Bank Strümpfe stopfte, erzählte uns, die Knaben hätten noch zwei Schwestern mit ebensolchen Vogelköpfen. Über unsere Bemerkung, man müßte verhindern, daß unglückliche Geschöpfe serienweise in die Welt gesetzt werden, war die Gheelerin entsetzt, so heidnische Reden konnte sie als Katholikin nicht fassen, der Wille Gottes sei der Wille Gottes, und überdies hätten die vier Vogelkopfkinder ein jüngeres und zwei ältere Geschwister, die alle normal seien.
Man zeigte uns einen Mann, der eilig und dennoch würdig an uns vorüberging: Sein Pensionswirt, in der Stadtvertretung tätig, hat ihm Beamtenarbeit im Rathaus verschafft.
»Er ist sehr tüchtig. Wenn er nicht ein Krankzinniger wäre«, meinte unser Gewährsmann, »längst würde er Bürgermeister sein.«
An der Kasse des Fußballplatzes FC Verbroedering hinter dem Bahndamm lasen wir die Aufschrift: »Vrije en kosteloose ingang voor de verpleegden der staatskolonie.« Heute war nur Training, so daß der freie Eintritt für jedermann galt. Unter den Spielenden waren drei Kranke. Einer der Gesunden vertraute uns an, zu Wettspielen würden fast niemals Irre eingestellt. Sie hätten ein bestimmtes Tempo, das ihrem jeweiligen Naturell entspreche, und aus diesem Tempo wären sie nicht herauszubringen, auch wenn eine Meisterschaftsrunde oder die letzten Minuten unbedingte Verstärkung aller Kräfte verlange.
Wir alten Fußballer begriffen: Irre sind einfach nicht imstande, um eines Tores willen roh und wahnsinnig zu werden.
Die Unterbringung der Kranken ist in jedem Haus eine andere, aber über diese reale Verschiedenheit weit hinaus geht die fiktive – wenige Sekunden, nachdem wir eine Wohnung betreten hatten, standen wir oft nicht mehr zwischen Schrank und Bett, wir standen in dämonenbevölkerter Hölle oder vor brillantbesetztem Königsthron.
In einer Villa besuchten wir eine Frau, die wirklich (nicht in ihrer Einbildung) einer der amerikanischen Präsidentschaftsfamilien entstammt. In einem Salon mußten wir warten, bis die Lady sich zu unserem Empfang umgekleidet hatte. »How do you do, Mister X., how do you do, Mister Y.«, begrüßte sie uns mit großer Geste, befahl, Tee zu servieren, sprach über das Wetter, erkundigte sich, ob wir eine gute Überfahrt hatten, sie fahre am liebsten auf der »Olympic«.
»Wie gefällt es Ihnen in Gheel?« fragten wir.
»Well«, antwortete sie, und langsam, gleichsam jedes Wort überlegend, fügte sie hinzu: »I like Gheel, indeed, I do. But I must add, it's too dangerous a place.«
Und dann begründete sie, ihre Augen bewegten sich angsterfüllt, warum Gheel ein zu gefährlicher Platz sei. Wenn sie die Treppe hinaufgehe, reite ein Mann vorbei und versetze ihr, ganz ohne Grund, einen Schlag mit dem flachen Schwert auf den Hinterkopf. Nachts sei es besonders schrecklich. Ihr kleiner Sohn Bobby fällt immerfort aus seiner Wiege, obwohl sie ihn abends anschnallt (der Sohn Bobby dieser Dame schläft längst in keiner Wiege mehr, er ist ein Wirtschaftsführer in den Vereinigten Staaten), und unter dem Bett liegen betrunkene Soldaten, singen dreadful songs, entsetzliche Lieder, und werfen ihr Bett in die Luft. Sie habe unseren Besuch längst erwartet und bitte uns, dafür zu sorgen, daß endlich Ruhe und Ordnung in ihrem Heim eintrete.
Mitten im Vorgarten eines Hauses stand ein buckliger Zwerg, barhäuptig trotz der Kälte und seiner Glatze, aus seinen trüben Augen flossen Tränen, das Körperchen schüttelte sich im Weinkrampf. Er hörte nicht, daß wir ihn ansprachen. Vor einem halben Jahr war er der fröhliche Spaßmacher von Gheel gewesen, wozu seine Figur gut paßte, jetzt ist sein zirkuläres Irresein, wie so oft, wieder im Sektor der Depression angelangt.
Gestikulierend stürzte eine Frau auf uns zu, kaum wir das Nachbarhaus betraten, wir mögen sie retten, man wolle sie lebendigen Leibes einmauern. Ihre Pensionsmutter kam hinterdrein. »Sehen Sie, diese beiden Herren waren auch schon eingemauert und sehen ganz gesund aus.«
Wir bestätigten, daß das Eingemauertsein ein angenehmer Zustand sei, man habe seine Ruhe und verlasse nach einiger Zeit doppelt frisch das Mauerwerk. Sie hörte mißtrauisch zu, hatte nur einen Einwand: »Man sieht dort gar keine Heiligen!« Jeden Augenblick komme ein Apostel zu Besuch. »Auch die heilige Magdalena?« Wir teilten ihr mit, daß die heilige Magdalena regelmäßig am Sonntag da sei und fast niemals vor Mitternacht weggehe.
Bei kleinen Gewerbsleuten und bei den Bauern arbeiten die Pfleglinge mit. Einen Mann mit kindlichem Gesicht, hellblauen Augen und kräftigen roten Händen trafen wir beim Buttern an. Er war als geistig gesunder Jüngling zu einem Metzger in die Lehre gekommen, beim ersten Schlachten eines Kalbes verlor er den Verstand.
Aufgeregt im Zimmer umherlaufend, erklärte eine ungarische Patientin unaufhörlich, sie wolle keinen Arzt sehen, die Ärzte seien Idioten, sie bleibe nur noch sechs Wochen hier, gut, wenn mein Mann glaubt, daß ich mich hier erholen werde, gut, so bleibe ich noch, aber in sechs Wochen fahre ich, nicht einen Tag länger halte ich es hier aus, bedenken Sie, ohne Theater, ohne Konzert, ohne Gesellschaften, in diesem Zimmer da.
»Haha! Schön? Das nennen Sie schön? Sie müßten einmal meine Wohnung in Budapest sehen!«
Das Gesicht der nächsten Patientin, die wir besuchten, erinnerte an das der Louise Michel. Apathisch kauerte sie, eine alte Frau, am Küchenherd. Ihre Krankheit war vor zweiunddreißig Jahren zum Ausbruch gekommen, als eines Nachts das Gesicht eines Mannes am Fenster ihrer Wohnung erschien, ein Einbrecher oder eine Halluzination. Als gutzahlende Pensionärin wurde sie damals in dieses Gheeler Haus gebracht, die Enkelin ihrer damaligen Wirtin ist heute die Pflegemutter; obwohl seit Jahren niemand mehr für die Kranke bezahlt, behält man sie.
Lachend, herzlich empfing uns ein Chinese, ehemaliger Morphinist, schizophren, auch er war früher Klassepatient und ist jetzt auf belgische Staatskosten hier. Wiederholt abgeschoben, ist es ihm, trotz aller Vorsichtsmaßregeln seiner Aufsichtspersonen, immer wieder gelungen, unterwegs zu entfliehen, einmal in Dünkirchen, einmal in Hoek van Holland, einmal in Marseille, und immer wieder kam er nach Gheel zurück. »Ik ben een geele«, sagt er auf flämisch – »Geele« bedeutet nicht nur einen Mann aus Gheel, sondern auch einen Gelben.
Einem anderen Farbigen, einem reichen Farmer aus dem belgischen Kongo, galt unser nächster Besuch. Wohnzimmer und der angrenzende Raum waren mit Girlanden geschmückt, und eine Festtafel wurde eben gedeckt. Errötend klärte uns die Haustochter auf, sie feiere morgen Hochzeit. Europäisch gekleidet, elegant, kam der schwarze Mister herein, grüßte nicht, setzte sich in die Sofaecke, entzündete ein Streichholz über seiner Shagpfeife, sie brannte nicht, wahrscheinlich enthielt sie keinen Tabak. Er murmelte einige Worte in englischem Tonfall, Neologismen ohne Sinn, und fuhr sich abwechselnd mit dem linken und rechten Rockärmel übers Gesicht. Plötzlich wandte er sich uns zu, rollte seine Augen, von denen nur das Weiße zu sehen war, sprang auf und machte Miene, sich auf uns zu stürzen. Auf einige Worte der Wirtstochter hin sank er wieder in seine Ecke zurück, neues Streichholz, abermals die Geste mit dem Ärmel, neue Worte, wieder die weißen Augenhöhlen in dem schwarzen Gesicht, Aufspringen, Beruhigung. Wir blieben nicht lange . . .
Als uns die Braut hinausbegleitete, erzählte sie uns, ihr Pensionär werde morgen an der Feier teilnehmen, jedoch keinen Alkohol bekommen. Ob er einen von uns für den Bräutigam gehalten habe? »Das kann schon sein, aber er versucht auch sonst, Fremde zu beißen.« Wir würden ihn keinesfalls zum Hochzeitsschmaus einladen.
Ebenfalls nicht bei sonderlich guter Laune trafen wir einen ehemaligen Schauspieler mit unförmig aufgeschwemmtem Körper zu Hause an. Er war heute übersiedelt, und seine bisherige Wirtin hat ihm seine Wäsche naß und ungeplättet nachgeschickt. Mit rollendem »R« schwor er, er werde nach Brüssel fahren, um sich beim Roi zu beschweren.
Das Wiedersehen mit einem Bekannten bewegte uns sehr, der Kranke allerdings erkannte uns nicht. Zuletzt hatten wir ihn gesehen, als er alle Gäste eines Prager Nachtlokals freihielt. Heute wurden wir ihm als Ärzte aus München vorgestellt, und er holte aus seinem Gedächtnis heraus, daß ein Verwandter seiner Frau in München lebe, ob wir diesen nicht zufällig kennen, ob wir ihm nicht einen Spezialisten für Leistenbrüche empfehlen könnten, ob wir Israeliten seien, er freue sich, Glaubensgenossen zu sehen, jedes Jahr fahre er an den hohen Feiertagen nach Antwerpen in die Synagoge.
Während unseres Aufenthaltes in Gheel begegneten wir ihm wiederholt auf der Straße, immer fand er einen Vorwand, uns anzusprechen, einmal wollte er uns ein besonders gutes Hotel empfehlen (es gibt nur eines in der Stadt), einmal, um zu fragen, ob wir keine Bekannten in Prag hätten, vielleicht könne er uns über sie Auskunft geben. Er habe in der »Gazet van Kempenland« den Reichstagsbrandprozeß verfolgt und vertraute uns seine Ansicht darüber flüsternd an: »Ich glaube, dieser van der Lubbe ist meschugge . . .«
Ein Pfau spreizte sich, und Tulpenbeete sproßten vor der Villa des Provinzialarchitekten. Die eine seiner Pfleglinge war eine ergreifend schöne Italienerin mit glattgekämmten schwarzen Haaren, man konnte sie für ein junges Mädchen halten, wozu ihr kurzer Rock beitrug, der modern gewesen war, als sie aus der Welt der Gesunden hierherkam. Mit zierlichen, puppenhaften Bewegungen empfing sie uns und blieb während unseres Besuches in der Mitte des Zimmers, halb von uns abgewandt, stehen. In französischer Sprache, damit die Kranke es verstehe, erzählte uns die Hausfrau, neulich sei der Sohn der Signora zu Besuch aus Italien gekommen, ein schöner, eleganter Herr, und die Tochter der Dame habe vor kurzem geheiratet.
Die Kranke horchte auf und fragte: »Meine Tochter hat geheiratet?« – »Gewiß, Signora, Ihr Sohn hat es Ihnen doch erzählt.« – »Ja, mein Sohn hat mir das erzählt.« Dabei bewegte sie manieriert Kopf und Arme, ließ ihre Finger spielen, daß ein großer Smaragdring funkelte, und es störte nur, daß eine Monatsbinde unter dem kurzen Rock herabhing.
Im Nebenzimmer saß grotesk und majestätisch die andere Mieterin, eine Krone auf dem Haupt, einen Hermelin um den Nacken, man erkannte sogleich Krone und Hermelin als solche, wenngleich Pappe und graue Leinenlappen das Material waren und schmutzige, über und über verknotete Bänder und Strippen alles zusammenhielten. Neben der Kranken lagen alte Futterstoffe, zerrissenes Sackleinen und andere Lumpen zu einem Haufen aufgeschichtet; nur dergleichen interessiert sie – Geld hätte sie als Gattin eines reichen Warenhausbesitzers genug, um farbige Seiden und neue Bänder, also königlicheres Material, zu verwenden.
Mit entschiedenen Strichen schreibt sie ohne Pause unleserliche Manifeste hin, ebenso unverständlich waren die in befehlendem oder huldvollem Ton an uns gerichteten Sätze, nur einzelne Worte konnten wir verstehen, le vicomte, Coquelin le Grand, un ambassadeur. Täglich geht sie in ihrem seltsamen Königsgewand zum Briefkasten und wirft die tagsüber verfaßten Dokumente persönlich ein. Auf der Straße dreht sich niemand nach ihr um, und auch auf der Post wundert sich niemand, an solchen Sendungen bemüht sich in Gheel kein Beamter, die berühmte Findigkeit der Post darzutun; gut ein Fünftel der Briefe sind hieramts rasch als unbestellbar feststellbar.
Als wir die Villa verließen, begegneten wir dem Arzt, einem weitgereisten Mann, er hat in Holland, Skandinavien und Deutschland auf psychiatrischen Kliniken gearbeitet. Wir erfuhren von ihm, daß fast nur reiche Patienten, die an Größenwahn leiden, in Gheel bleiben. Die ärmeren Kranken, deren Wahnvorstellungen die Hausgenossen nicht immer Rechnung tragen können, werden unruhig und müssen in geschlossene Anstalten geschafft werden, wo freilich ebensowenig jemand ihren Wahnvorstellungen Rechnung trägt.
In den Irrenanstalten ist Größenwahn um so häufiger, der Arzt besitzt eine Statistik, wie viele liebe Gotte er schon behandelt hat, wie viele Mütter Gottes, wie viele Napoleons, wie viele . . .
Wir fragen, ob keiner seiner Kranken sich für Hitler hielt.
»Noch nicht. Aber einen Göring hatte ich schon, einen schweren Fall.«
»War das ein Deutscher?«