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Die 95 Thesen.
en Anlaß zu dem Kampfe, der zur großen Trennung in der Christenheit geführt hat, gab der großartigste kirchliche Prachtbau, den nach dem Willen der Päpste die neue italienische Kunst schaffen sollte, jener Bau der Peterskirche, der schon zur Zeit, als Luther in Rom war, begonnen hatte. Denn für ihn sollte der Ablaß die Mittel beibringen. Auf Julius II. war Leo X. als Papst gefolgt. Sofern die neue Zeit berufen war, die Künste nach verschiedenen Seiten hin neu zu beleben, die Wissenschaft der Alten wieder an's Licht zu ziehen und den gebildeten, hochgestellten Klassen der Gesellschaft hiedurch eine Quelle reicher geistiger Genüsse zu erschließen, wäre Leo ganz der Mann für sie gewesen. Fremd aber blieb 91 ihm, während er heiter in solchen Bestrebungen und Genüssen sich bewegte, die Sorge um die inneren Schäden der Heerde, die er an Christi Statt zu weiden vorgab. Der sittlich leichtfertige Ton, der am päpstlichen Stuhle herrschte, wurde wie ein Bestandtheil der neuen Bildung angesehen. Was christlichen Glauben betrifft, so wird Leo eine gottlose Aeußerung darüber nachgesagt, wie einträglich die Fabel von Christus gewesen sei. Er fühlte keinerlei Bedenken, für das Gotteshaus, das, wie er sagte, die Gebeine der heiligen Apostel schützen und verherrlichen sollte, durch schmutzigen, seelenverderblichen Handel das Geld beizuschaffen. Zugleich pflegten die Päpste von den Ablaßgeldern, welche für diesen und für andere Zwecke, z. B. für Krieg gegen die Türken, eingingen, ungescheut Abzüge für anderweitige Bedürfnisse ihrer eigenen Kasse zu machen.
Wir müssen indessen, um das Ablaßwesen und Luthers Angriff auf dasselbe zu würdigen, uns erst die Bedeutung genauer vergegenwärtigen, welche ihm von den Lehrern der Kirche beigelegt wurde. Hört man einfach aussprechen, daß Erlaß oder Vergebung der Sünden für Geld verkauft werde, so muß das freilich Anstoß erzeugen, wo irgend noch ein sittliches, christliches Gewissen sich regt. Man müßte sich dann auch wundern, daß Luther nur so vorsichtig und allmälig, wie wir sehen werden, dazu fortschritt, 92 den ganzen Ablaß zu verwerfen. Aber nicht so schroff und nicht so einfach lauteten die Sätze, mit denen man diesen erklärte und rechtfertigte. Man blieb dabei, daß die Vergebung der Sünden durch die Buße, nämlich mittelst des sogenannten Bußsacramentes mit dem Act der Privatbeichte und priesterlichen Absolution, gewonnen werden müßte. Da spricht der Beichtvater demjenigen, der ihm Sünden gebeichtet hat, für diese die Absolution zu, womit ihm die Schuld vergeben und die ewige Strafe erlassen ist, und vom Beichtenden wird hierbei eine gewisse Zerknirschung des Herzens gefordert, wenn auch eine unvollkommene, die nur aus Furcht vor der Strafe hervorgehen möge, für genügend befunden wird, da solche Unvollkommenheit durch das Sacrament ergänzt werde. Aber, so wird nun gesagt, der also Absolvirte hat auch dann noch schwere Lasten zeitlicher Strafen abzutragen, Strafbüßungen, welche ihm die Kirche aufzulegen hat, und Züchtigungen, welche Gottes Gerechtigkeit beim Erlaß der ewigen Strafe doch noch über ihn verhängt. Ist er sie in diesem irdischen Leben nicht los geworden, so muß er sie, ob ihm auch die Hölle nicht mehr droht, in den Qualen des Fegefeuers abbüßen. Mit Bezug auf sie tritt der Ablaß ein: die Kirche begnügt sich mit leichteren Leistungen, wie damals mit einem Geldbeitrag für den heiligen Bau in Rom. Und auch dem gab man eine gewisse rechtliche Begründung: die Kirche nämlich habe über einen Schatz von Verdiensten zu verfügen, welchen Christus und seine Heiligen durch ihre guten Werke vor dem gerechten Gotte zusammengebracht haben und dessen Reichthümer jetzt nach der Verfügung des Stellvertreters Christi den Ablaßkäufern zugute kommen sollen. Auf diese Weise konnten jetzt Büßungen, an denen man jahrelang schwer zu tragen gehabt hätte, in kleine, rasch abgemachte Geldleistungen umgesetzt werden. Die Zerknirschung, welche zum Empfang der Sündenvergebung gehöre, ließ man auch dann nicht unerwähnt: so in den offiziellen Ankündigungen 93 des Ablasses und in den Ablaßbriefen oder Bescheinigungen, in welchen den Einzelnen gegen ihr Geld der Ablaß zuerkannt wurde. Aber in diesen Urkunden und vollends in den Predigten, mit welchen man die Menge zum Kauf herbeirief, wurde das Gewicht so nachdrücklich als möglich auf das Zahlen gelegt. Daneben wurde der Beichte und mit ihr wohl auch jener Zerknirschung gedacht, davon aber, daß der eigentliche Schulderlaß hierdurch und nicht durch das Zahlen bedingt sei, geflissentlich geschwiegen: »Vollkommene Vergebung aller Sünden« wurde demjenigen angekündigt, der seinen Beitrag in den Kasten geworfen habe, nachdem er gebeichtet und Zerknirschung empfunden. Für die Seelen im Fegefeuer war vollends nichts gefordert als das Geld, das die Lebenden für sie darbrachten; hier galt: »Sobald der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.« Dabei waren für die einzelnen Vergehen Taxen angesetzt. z. B. für Ehebruch sechs Dukaten.Vgl. zum Ablaß: Beil. 2 [Ablass-Plakat v. J. 1517: Ueberschrift, Erster Theil und Unterschrift (Verbot der Wegnahme des Plakats bei Strafe der Exkommunikation)] und Beil. 3 [Ablassbrief, d. 15. April 1517 ausgestellt im Auftrag Erzbischof Albrechts für »Philippus Resfhal presbyter«]
Für einen großen Theil Deutschlands wurde der Ablaßhandel, der dem Bau der Peterskirche dienen sollte, vom Papste dem Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg in Commission gegeben. Wie bei dem Anlaß der reformatorischen Bewegungen, so wird dieser höchste deutsche Kirchenfürst auch während ihres Verlaufes wieder in wichtiger Stellung mit dem, was er unterließ und that, uns begegnen. Albrecht, Bruder des Kurfürsten von Brandenburg und Vetter des Hochmeisters des deutschen Ordens in Preußen, stand im Jahre 1517, obgleich erst siebenundzwanzig Jahre alt, bereits an der Spitze jener beiden großen deutschen Kirchenprovinzen; zu seinem Magdeburger Sprengel gehörte auch Wittenberg. Wie ihn sein Glück so rasch emporgehoben hatte, so trug er sich auch ferner mit hohen Gedanken. Mit Theologie aber hatte er sich wenig beschäftigt. Er liebte es, als Freund der neuen humanistischen Wissenschaft, 94 wie namentlich eines Erasmus, und als Pfleger der schönen Künste, vornehmlich der Baukunst, zu glänzen und einen Hofhalt zu führen, dessen Pracht seiner Würde und Kunstliebe entspräche. Dazu reichten seine Mittel nicht aus, zumal er schon bei dem Eintritt in sein Mainzer Erzbisthum dem Papst nach der herkömmlichen Ordnung für das sogenannte Pallium, ein Kleidungsstück, das die Päpste als Abzeichen dieser Würde verliehen, eine schwere Summe hatte bezahlen und dafür vom Hause Fugger in Augsburg 30 000 Gulden hatte entlehnen müssen, und seinem ganzen Streben und 95 Treiben ging so zeitlebens die Geld- und Schuldennoth zur Seite. Es gelang ihm jetzt, mit dem Papste das Geschäft dahin abzuschließen, daß er selbst vom Ertrag des Ablaßhandels die Hälfte behalten durfte, um davon dem Fugger jenes Geld zu bezahlen. Hinter den Ablaßpredigern, welche des Himmels Gnade den zahlenden Gläubigen verkündigten, standen Agenten jenes Handelshauses, die das ihrige einzogen. Das Größte im Betreiben des Handels leistete mit Dreistigkeit und einem für diese Zwecke geschickten populären Reden und Schreien der Dominikanermönch Johann Tetzel, ein in sittlicher Hinsicht übel berüchtigter Mensch, den der Erzbischof als Untercommissär angenommen hatte.
Zeitgenossen schildern uns, mit welch hoher, wohlberechneter Feierlichkeit ein solcher Commissär auftrat und seine hochgepriesene Thätigkeit eröffnete. In einer Prozession mit Gesang und Glockengeläute, Fahnen und Kerzen zogen ihm Priester, Mönche und Magistrate, Schulmeister und Schüler, Mann, Weib und Kind entgegen. Unter vollem Orgelklang geleitete man ihn in die Kirche. Inmitten des Gotteshauses, vor dem Altar, wurde ein großes rothes Kreuz aufgepflanzt; daran hängte man eine seidene Fahne, die das päpstliche Wappen trug. Vor das Kreuz wurde eine große eiserne Truhe gesetzt, um das Geld aufzunehmen; Exempel einer solchen aus jener Zeit werden jetzt noch an manchen Orten gezeigt. Mit täglichen Predigten, Gesängen, Umzügen um das Kreuz u. s. w. sollte das Volk eingeladen und angeregt werden, das ihm hier dargebotene unvergleichliche Mittel zur Seligkeit zu ergreifen. Auch dafür, daß die Ohrenbeichte schnell ganzen Massen im Einzelnen abgenommen werden konnte, wurde gesorgt. Das Ziel war die Bezahlung, auf welche hin die »zerknirschten« Sünder vom Commissär einen sogenannten Ablaßbrief erhielten, worin er ihnen mit gewichtigem Hinweis die ihm verliehene Vollmacht bezeugte, daß sie vollkommen absolvirt seien und Jedermann sie demnach zu achten habe.
97 Auch Proben davon, wie Tetzel predigte und gepredigt haben wollte, besitzen wir noch. Mit Hinweis auf den Ablaß wird da dem Volke zugerufen, daß alle, und sonderlich die großen Sünder, Mörder, Räuber u. s. w., zu ihrem Gott umkehren und die Arznei, die der Höchste in seiner Gnade und Weisheit für sie geschaffen habe, empfangen sollen. Der heilige Stephanus habe einst sich zur Steinigung hingegeben, der heilige Laurentius seinen Leib zum Rösten, der heilige Bartholomäus seine Haut zu grausamem Tode: ob dagegen sie nicht einmal eine kleine Gabe opfern wollen, um selig zu werden? Von den Seelen im Fegefeuer heißt es: »Sie, eure Eltern und andere Angehörige, schreien zu euch: wir sind in den härtesten Qualen, ihr könntet uns mit einem kleinen Almosen erlösen und wollt nicht; wir haben euch erzeugt, ernährt, unser zeitlich Gut euch gelassen, und ihr seid so grausam, daß ihr uns, die ihr so leicht frei machen könntet, in den Flammen liegen laßt!«
Allen, welche irgendwie, direct oder indirect, öffentlich oder im Verborgenen, den Ablaß heruntersetzen, gegen ihn murmeln oder ihm sonst Eintrag thun wollen, wurde angekündigt, daß sie eben hiemit nach päpstlichem Edict schon der Excommunication verfallen seien und von ihr nur durch den Papst oder einen Beauftragten desselben absolvirt werden könnten.
Nachdem Luther das Ablaßwesen anzugreifen gewagt hatte, gaben auch Vertheidiger desselben und heftige Gegner des Reformators zu, daß damals »geizige Commissarien, Mönche und Pfaffen unverschämt vom Ablaß gepredigt und mehr auf das Geld, denn auf Beichte, Reue und Leid gesetzt haben.« Unter dem christlichen Volke erhob sich Anstoß und Aergerniß. So wurde gefragt, ob denn Gott das Geld so sehr liebe, daß er einen um eines heillosen Groschens willen in den ewigen Martern lassen sollte; oder warum der Papst nicht aus Liebe das ganze Fegefeuer leere, wenn er doch um einer so geringen Sache willen, nämlich wegen 98 des Beitrags zu einem Kirchenbau, unzählige Seelen davon frei mache. Aber Keiner von Jenen fand es damals gerathen, gegen den groben Unfug, an dessen Früchten dem Papst und Erzbischof so viel gelegen war, ein offenes Wort zu sprechen und die Schmähungen und Lästerungen eines Tetzel auf sich zu ziehen.
Nun kam dieser auch an die Grenzen des kursächsischen Gebietes und in die Nähe Wittenbergs; innerhalb seines Landes nämlich wollte ihn der Kurfürst nicht zulassen, damit nicht zu viel des Geldes weggeschleppt werde. Namentlich in Jüterbok schlug jener seinen Handel auf. Auch Beichtkinder Luthers beriefen sich auf Ablaßbriefe, die sie dort erhalten hatten.
Luther warnte vor dem Vertrauen darauf schon im August 1516 seine Gemeinde in einer Predigt, verhehlte auch Bedenken nicht, die er gegen das Ablaßwesen überhaupt hegte, während er zugleich bekannte, über manche darauf bezügliche Fragen noch ungewiß und unwissend zu sein. Noch bestimmter sprach er sich aus in einer Predigt zum Kirchweihfeste der Wittenberger Schloß- und Stiftskirche, 31. October 1516, also schon gerade ein Jahr ehe er an dieser seine berühmten Thesen anschlug. Nachdem er dort die Gemeinde ermahnt hatte, die Kirchweihe zu einer rechten Weihe der Herzen werden zu lassen, warnte er sie vor dem »Pomp der Ablässe«, der jetzt vor der Thüre stehe: sie sollen sich dadurch nicht verleiten lassen, die wahrhafte Buße zu versäumen, sollen wissen, daß sie durch jene nur von kirchlichen Auflagen entbunden werden können, sollen auch Leistungen und Strafen, die dem Bußfertigen heilsam seien, sich nicht zu entziehen suchen. Er scheute sich nicht, mit solchen Reden auch seinem eigenen, ihm so gnädigen Landesherrn ans Herz zu greifen. Friedrich der Weise nämlich, der in seiner aufrichtigen Frömmigkeit noch die überschwengliche Verehrung des Mittelalters für Reliquien theilte und eine reiche Sammlung derselben bei seiner Schloßkirche zu Wittenberg angelegt 100 hatte und fortwährend zu bereichern bedacht war, erfreute sich ausgedehnter Ablässe, die der Papst freigebig allen gewährte, welche bei einer jährlichen Ausstellung dieser heiligen Schätze andächtig an den 19 Altären der Kirche sich betheiligten. Noch vor wenigen Jahren hatte er ein »Heiligthumsbuch« drucken lassen, das über 5000 solcher Reliquien aufzählte, und zeigte, wie man hier über 500 000 Tage Ablaß gewinnen könne. Luther aber predigte wider die verderblichen Einflüsse der Ablässe auf die rechte Buße abermals und noch schärfer gerade als jene Reliquienausstellung mit ihren Ablässen wiederkehrte, im Februar 1517. Er erzählte später selbst, daß er mit solchem Predigen bei Friedrich »schlechte Gnade verdient« habe. Und auch die Ehre und das Interesse seiner Universität kam dabei in Betracht: denn jene Kirche war mit ihr verbunden, die Stiftsherrnstellen wurden an ihre Professoren verliehen, die Einkünfte des Stifts kamen ihr zugute.
Luther sagt später von sich, er sei damals ein junger Doctor gewesen, hitzig, frisch aus der Esse gekommen. Er brannte danach, gegen den Unfug einzuschreiten. Aber noch hielt er an sich. Er wandte sich mit brieflichen Vorstellungen darüber an einige Bischöfe. Die einen nahmen ihn wohl gnädig auf, andere lachten, Keiner wollte in der Sache etwas thun.
Jetzt wollte er seine Gedanken vom Ablaß, seine eigenen Grundsätze, seine Bedenken und Zweifel den Theologen und Kirchenmännern insgemein öffentlich vortragen, öffentliche Verhandlung darüber anregen, Kampf darüber wachrufen und bestehen. Das that er durch die 95 lateinischen Sätze, die er am 31. October, dem Vorabende des Allerheiligentages und des Kirchweihfestes der Wittenberger Stiftskirche an die Thüren dieser Kirche anschlug.
Thesen für eine Disputation sollten es sein, so wie damals öffentliche Disputationen überhaupt eine wichtige Stelle im Leben, Wirken und Kämpfen der Universitäten und 101 Theologen einnahmen und man durch sie nicht blos das wissenschaftliche Denken üben, sondern auch die Wahrheit an's Licht bringen wollte. Luther gab ihnen die Ueberschrift:
»Disputation zur Erklärung der Kraft der Ablässe.
Aus Liebe und Streben, die Wahrheit an das Licht zu stellen, wird über Nachfolgendes disputirt werden zu Wittenberg unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Vaters Martin Luther . . . Diejenigen, welche nicht gegenwärtig darüber mit uns handeln können, mögen solches schriftlich thun. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi. Amen.«
Auch das, daß zur Zeit eines hohen Festes besondere Acte und Veröffentlichungen und so auch Disputationen bei einer Universität vorgenommen und daß die Thüren einer mit einer Universität verbundenen Kirche zu hierauf bezüglichen Anschlägen benützt wurden, entsprach den damaligen Gebräuchen.
Der Inhalt der Thesen zeigt, daß es ihrem Verfasser wirklich um eine Disputation in jenem Sinne zu thun war. Er ist entschlossen, gewisse Grundwahrheiten, die ihm feststehen, mit aller Schärfe zu verfechten; Einzelnes war wohl auch ihm noch disputabel, er sucht es auch für sich erst noch in der Verhandlung mit Anderen klarzustellen.
Gemäß dem Zusammenhang, in welchem das Ablaßwesen mit jener kirchlichen Auffassung der Buße stand, geht er aus von dem Wesen wahrer christlicher Buße; im Sinne Jesu und der heiligen Schrift aber will er dieses verstanden haben, sowie einst ihn selbst zuerst Staupitz darüber belehrt hatte. Er beginnt mit der These »Unser Herr und Meister Jesus Christus, da er spricht: thut Buße u. s. w., will, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.« Er meint, wie die weiteren Thesen es aussprechen, die wahre, innerliche Buße, den Schmerz über die Sünde, den Haß gegen das eigene sündhafte Ich, woraus dann auch rechtes Wirken nach außen und Abtödtung des sündhaften Fleisches hervorgehen müsse. Die Schuld könne der Papst den Bußfertigen 102 nur erlassen, sofern er erkläre. daß sie ihnen von Gott erlassen sei.
Sodann erklären die Thesen nachdrücklich, daß Gott die Schuld Keinem vergebe, ohne ihn zugleich in Demuth dem seine Stelle vertretenden Priester zu unterwerfen, und erkennen die Strafleistungen an, welche die kirchliche Gesetzgebung bei jenem äußeren Sacrament der Buße auferlegte. Daran aber knüpfen sich nun die Hauptsätze über den Ablaß im Gegensatz zur üblichen Ablaßverkündigung. Ablaß geben nämlich könne der Papst eben nur für das, was er selbst und das kirchliche Gesetz so auferlegt habe; ja der Papst selbst verstehe nur den Erlaß dieser Auflagen, wenn er einen vollständigen Erlaß aller Strafen verheiße. Und nur auf die Lebenden richten sich die Strafen, welche die kirchliche Bußdisciplin auferlege; nichts könne nach ihren Gesetzen für das Jenseits auferlegt werden.
Weiter erklärt Luther: Wenn einer wahrhaft Reue hege, so komme ihm völliger Erlaß von Strafe und Schuld auch ohne Ablaßbriefe zu. Und zugleich meint er andererseits, ein solcher werde gern selbst Strafen auf sich nehmen, ja lieben.
Dennoch will er den Ablaß, wenn er in jenem richtigen Sinne verstanden werde, keineswegs angefochten haben, sondern nur das lose Geschwätz der Ablaßkrämer: gebenedeiet, sagt er, sei, wer hiegegen einschreitet, verflucht, wer gegen die Wahrheit der apostolischen Ablässe redet. Aber er findet es sehr schwer, vor dem Volke diese zu preisen und zugleich wahre Buße den Leuten ans Herz zu legen. Er will auch gelehrt haben, daß ein Christ besser thue, Geld für Arme, als für Ablaßkauf auszugeben, und daß, wer einen Armen neben sich darben lasse, nicht Ablaß, sondern Gottes Zorn sich zuziehe. – Mit scharfen und höhnischen Worten rügt er das Treiben jener Prediger und legt den Abscheu, den er dagegen hegt, mit sicherem Tone auch dem Papste bei. Man müsse, sagt er, die Christen lehren, daß, wenn der Papst es wüßte, er seine Peterskirche lieber in Asche 103 aufgehen als mit der Haut und dem Fleisch und den Knochen seiner Schafe erbaut werden ließe.
Entsprechend dem, was die vorangehenden Thesen über den Ernst und die Leidenswilligkeit der wahrhaftigen Buße und über eine zu fleischlicher Sicherheit verführende Ablaßpredigt gesagt hatten, schließt Luther mit folgenden Sätzen:
»Darum fort mit allen jenen Propheten, die zu Christi Volk sprechen: Friede, Friede, da doch kein Friede ist! Wohl allen den Propheten, die zu Christi Volk sprechen: Kreuz, Kreuz, da es doch kein Kreuz ist! Vermahnen muß man die Christen, daß sie ihrem Haupte Christus durch Pein, Tod und Hölle nachstreben und also vielmehr durch mancherlei Trübsal, als durch Friedenssicherheit in das Himmelreich einzugehen sich getrösten.«
Katholischerseits pflegt man der Heilslehre Luthers vorzuwerfen, daß sie durch das Vertrauen auf Gottes freie Gnade und durch Geringschätzung der guten Werke zu sittlicher Trägheit verleite. Aber der unbeugsame sittliche Ernst eines christlichen Gewissens, das durch die Verführung zu sittlicher Leichtfertigkeit, zu trügerischer Beruhigung über Sünde und Schuld und zur Hintansetzung wahrhaft sittlicher Früchte gegen den Werth der schlechten Ablaßgelder empört war, hat vielmehr diese seine Thesen hervorgerufen und durchdrungen, in denen wir mit Recht den Beginn unserer Reformationsgeschichte sehen. In demselben Ernste hat er hier zum ersten Male öffentlich die kirchliche, päpstliche Gewalt angegriffen: insoweit nämlich, als sie nach seiner Ueberzeugung in das Gebiet eingriff, das der himmlische Herr und Richter sich vorbehalten hat. Dies war's, was der Papst und seine Theologen und Kirchenmänner am Wenigsten dulden konnten.
Noch am nämlichen Tag übersandte Luther dem Erzbischof Albrecht, seinem »in Ehrfurcht zu fürchtenden, gnädigsten Herren und Hirten in Christo«, einen Brief, dem die Thesen beigelegt waren. Nach einem demüthigen 104 Eingang bat er ihn darin auf das dringendste, den anstößigen, verderblichen Reden, mit denen seine Sendlinge den Ablaß priesen, zu steuern. und erinnerte ihn an die Rechenschaft, welche er für die seiner bischöflichen Sorge anvertrauten Seelen ablegen müsse.