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Der Ablaßstreit.
Wer vernommen hat, daß die große Bewegung der deutschen Reformation und hiemit die Gründung der evangelischen Kirche auf die 95 Thesen Luthers zurückzuführen sei, und dann diese in ihrer ganzen Ausdehnung liest, möchte vielleicht über die Bedeutung, zu der sie gekommen seien, sich wundern. Sie bezogen sich zunächst doch nur auf ein vereinzeltes Stück der christlichen Lehre, nicht einmal auf die ganze Grundfrage, wodurch eigentlich der Sünder zur Vergebung der Schuld und zur Seligkeit gelange, sondern nur auf jenen Erlaß der an die Buße geknüpften Strafen. Gegen die wesentlichsten Bestandtheile der kirchlichen Bußtheorie, gegen die Nothwendigkeit der Ohrenbeichte, der priesterlichen Absolution u. s. w. enthielten sie keine positive Aussage; daß es ein Fegefeuer gebe, setzten auch sie voraus. Manches von dem, was sie bekämpften, hatte noch keiner der großen mittelalterlichen Theologen zu behaupten gewagt: so die Meinung, als ob der eigentliche Schulderlaß von Seiten Gottes durch den Ablaß sich vollzöge. Manches ferner in der damals herrschenden Ablaßtheorie stützte sich zwar auf die Autorität des scholastischen Meisters Thomas von Aquin, war jedoch von anderen Scholastikern nicht angenommen und nie durch einen kirchlichen Beschluß zum 105 Dogma erhoben worden. Weit schärfer und durchgreifender als Luther in seinen Thesen hatten einzelne Theologen schon in früheren Zeiten das ganze Ablaßwesen angegriffen. Hierzu kommt, was eine Wirkung der Thesen in weiteren Kreisen der deutschen Christenheit betrifft, daß sie nicht blos in lateinischer Sprache abgefaßt waren, sondern auch großentheils in Schulausdrücken und Begriffen, die ein Laie schwer verstehen konnte, sich bewegten.
Aber die Thesen machten sofort ein Aufsehen, das auch Luthers eigene Erwartungen weit übertraf. Sie liefen, wie er später sagt, schier in vierzehn Tagen durch ganz Deutschland, wurden auch sogleich in deutscher Sprache verbreitet. Denn sie fanden den Boden vorbereitet durch einen Unwillen, den das schamlose von ihnen bekämpfte Treiben längst weithin erregt hatte, während doch bis dahin Niemand, wie Luther es ausdrückt, der Katze die Schellen hatte anbinden, Niemand dem lästernden Geschrei der Ablaßkrämer und der ihnen verbündeten Mönche sich hatte preisgeben, der drohenden Verketzerung sich hatte aussetzen wollen.
Auf der anderen Seite hatte, nachdem ein solcher Ablaßhandel fortgesetzt und immer neu durch die deutsche Christenheit hin ohne Widerspruch im Gang erhalten worden war, auch die kecke Zuversicht, mit der er betrieben wurde, immer mehr sich gesteigert. Für die Lehre des heiligen Thomas, auf welche man hiebei sich berief, stand vor Allem der ganze mächtige Dominicanerorden ein. Und diesem gehört ja auch der Ablaßcommissär Tetzel zu. Immer mehr waren ferner bis dahin die Lehren von der Gewalt des Papstes und von der Unfehlbarkeit, die allen seinen Entscheidungen zukomme, gesteigert worden. Auch dafür wirkten vorzüglich die Schriften des Thomas. Und das Größte darin hatte soeben ein sogenanntes allgemeines Concil geleistet, das in Rom kurz nach Luthers Besuch daselbst ein paar Jahre lang um den Papst versammelt 106 war: zu einem »andern Gott« auf Erden hatte es den Papst gemacht.
Tetzel, der bisher nur als Prediger für die große Menge, oder als »Clamant«, Marktschreier, sich bekannt gemacht hatte, stellte jetzt Luthers Sätzen zwei Reihen eigener Thesen in scholastisch-wissenschaftlicher Form gegenüber. Ein Theologe der Universität Frankfurt a. d. Oder, Konrad Wimpina, an welchen Erzbischof Albrecht ihn gewiesen hatte, half ihm dazu. Die genannte Universität ernannte ihn darauf hin gar zum Doctor der Theologie und trat so für seine Sätze ein. Dreihundert Dominicanermönche waren, als er dort eine akademische Disputation über sie hielt, um ihn geschaart. Was er jetzt über den Ablaß vortrug. waren die Lehrbestimmungen des heiligen Thomas. Zugleich aber stellte er die Frage über jene Autorität des Papstes in den Mittelpunkt des Streites; er und seine Patrone hatten wohl erkannt, daß sie für Luther am verhängnißvollsten werden mußte. »Man muß,« sprach er aus, »die Christen belehren, daß das Urtheil des Papstes in dem, was den Glauben anbelangt und zur menschlichen Seligkeit nöthig ist, schlechterdings nicht irren kann, und daß alle auf Glaubenssachen bezüglichen Observanzen, für welche der päpstliche Stuhl sich ausgesprochen hat, unter die katholischen Wahrheiten gehören, wenn man sie auch in der heiligen Schrift nicht vorfindet.« Mit deutlicher Beziehung auf seinen Gegner, wenn auch ohne ihn zu nennen, will er die Christen davon belehrt haben, daß, wer ketzerischen Irrthum vertheidige, für excommunicirt zu halten und den schrecklichsten Strafen verfallen sei. Weiterhin sprach er aus, was dann immer Luthern und dem Protestantismus entgegengehalten worden ist, daß, wenn man die Autorität der Kirche und des Papstes nicht anerkenne, ein jeder nur noch das ihm Wohlgefällige glauben und in der heiligen Schrift finden und so die gemeine Christenheit in große Gefahr der Seelen gerathen werde.
107 Neben Tetzel und Genossen, die Luther gering achtete, erhob sich ferner gegen ihn ein weit bedeutenderer und für ihn unerwarteter Gegner in Johann Eck, Professor an der Universität Ingolstadt und Kanonikus zu Eichstädt. Er besaß sehr ausgebreitete Kenntnisse in neuerer und älterer kirchlicher scholastischer Theologie, einen gewandten, schlagfertigen Verstand, mit dem er sie in Disputationen zu verwenden wußte, ein hohes Selbstgefühl dieser seiner Gaben und ein keckes Streben, sich überall mit ihnen geltend zu machen, während er durch tiefe Sorgen um die höchsten Heiligthümer, die Gegenstand des Streites wurden, sich nicht zu sehr anfechten ließ. Er suchte auch mit anderen Kreisen als denen der scholastischen Theologie freundliche und für ihn selbst ehrenvolle Beziehungen zu unterhalten: so mit humanistischen Gelehrten und so seit kurzem auch mit Luther und dessen Collegen Carlstadt, wobei der Nürnberger Jurist Scheurl die gegenseitige Annäherung vermittelt hatte. Luther hatte noch nach der Herausgabe seiner Thesen freundschaftlich an Eck geschrieben. Jetzt wurde er durch kritische Gegenbemerkungen (unter dem Titel »Obelisken«) überrascht, welche dieser gegen dieselben erscheinen ließ. Ihr Ton war ebenso verletzend, grob und gehässig, wie ihr Inhalt oberflächlich. Sie führten namentlich schon das wohlberechnete Schlagwort ein, daß, was Luther vorbringe, böhmisches Gift, hussitische Ketzerei sei. Als über einen solchen Bruch der jungen Freundschaft dem Eck Vorwürfe gemacht wurden, behauptete er, seine Sätze nur für seinen Eichstädter Bischof und nicht zum Zweck der Veröffentlichung niedergeschrieben zu haben.
Luther selbst war, so scharf auch seine Ablaßthesen zum Kampfe riefen, doch nicht darauf gefaßt, daß dieser sofort ein Streit um die höchsten kirchlichen Prinzipien für ihn werden sollte. In jener späteren Aeußerung, wo er von der schnellen Verbreitung seiner Thesen durch Deutschland erzählt und von dem Ruhme redet, den er damals 108 wegen seines »Dreingreifens« geerntet habe, fährt er fort: »Der Ruhm war mir nicht lieb, denn ich wußte selbst nicht, was der Ablaß wäre, und das Lied wollte meiner Stimme zu hoch werden.« Weithin freute man sich des Mannes, der so kühn in den Thesen sprach, während die Menge der Doctoren und Bischöfe stillschwieg; aber noch stand er vor der Oeffentlichkeit allein dem Sturm, den er wider sich erregt hatte, gegenüber. Er verhehlt nicht, daß ihn da hin und wieder Befremden und Bangigkeit über diese seine Stellung anwandelte. Allein schon hatte er auch gelernt, fest für sich allein auf dem Worte der Schrift zu stehen und auf der Wahrheit, die ihm Gott hier gewiß mache. Nur bestärkt wurde er darin durch jene Entgegnungen: denn er mußte staunen über ihre völlige Armuth an Beweisgründen, die seinen Folgerungen aus dem einfachen Schriftwort Stand halten könnten, und über die blinde Zuversicht, mit der sie nur die Aussprüche ihrer scholastischen Autoritäten wiederholten. Getrost spricht er seinen Freunden das Bewußtsein aus, daß er, was er lehre und jene bekämpfen, von Gott selbst empfangen habe. Er weiß auch, daß er nach dem Worte des Apostels Paulus predigen müsse, was den heiligsten Juden ein Aergerniß und den weisesten Griechen eine Thorheit sei. Er ist nicht minder dazu bereit, daß Jesus Christus, sein Herr, auch von ihm wie einst von diesem Apostel sagen möge: »Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muß um meines Namens willen.« Seine römisch-kirchlichen Gegner haben freilich eben hierin erst recht die maßlose Selbstüberhebung eines einzelnen Subjectes sehen wollen.
So beschäftigte er sich denn jetzt, während er seine eifrige Thätigkeit an der Universität und auf der Wittenberger Kanzel fortsetzte und auch wieder und wieder zu kleinen, einfach erbaulichen Schriften die Feder ergriff, fortan rastlos mit Streitschriften, in welchen er theils der Angriffe sich erwehren, theils die vorgetragenen Sätze weiter 109 begründen und feststellen, den Weg wahrer christlicher Erkenntniß weiter verfolgen will. Er wandte sich sofort auch deutsch an die deutsche Christenheit, zuerst in einem »Sermon vom Ablaß und Gnade«. Die innere Erregung, in der er schreibt, giebt sich von nun an auch in jener Heftigkeit und Derbheit der Sprache kund, die seiner Polemik immer eigen geblieben ist. Wir müssen uns dabei an den Ton erinnern, der damals nicht blos bei gemeinen Mönchen, sondern auch im Streit von Theologen und Gelehrten insgemein sich hören ließ und in welchem besonders jene Gegner ihm vorangingen. Bei ihm erkennen wir in seiner ganzen Art der Polemik, wie wir sie bei späteren Anlässen noch mehr wahrnehmen werden, eine gewaltige, vulkanartig losbrechende Naturkraft, die doch immer in den hingebendsten Dienst für seine hohen, gewissenhaft übernommenen Aufgaben gestellt blieb; und neben den heftigsten Ausbrüchen jener Art vernehmen wir doch immer wieder die zarten Ausdrücke einer lauteren christlichen Wärme und Gluth und eine dem heiligen Gegenstand entsprechende Hoheit der Sprache.
Zwischen diese Arbeiten und Kämpfe hinein hatte er gegen Mitte April 1518 zu einem Convent seiner Ordenscongregation nach Heidelberg zu reisen, wo ihren Ordnungen gemäß der Ordensvicar nach dreijähriger Amtszeit neu gewählt werden sollte. Schon fürchtete man von der Erbitterung seiner Gegner Nachstellungen, welche sie ihm unterwegs bereiten möchten. Er selbst zögerte nicht, der Pflicht, die ihn dorthin rief, zu folgen.
Kurfürst Friedrich, der ihm jedenfalls dafür, daß er seine Lande vor Tetzel bewahren half, Dank wußte, von jedem Eingreifen in den Streit aber jetzt und fernerhin geflissentlich sich fern hielt, erwies bei dieser Gelegenheit seine ungeminderte Huld und Fürsorge für ihn in einem Brief an Staupitz: »Nachdem Ihr,« schreibt er, »Martinum Luder zu einem Capitel gen Heidelberg erfordert, so ist er 110 willens, solch Capitel, wiewohl wir ihn nicht gern von unserer Universität beurlaubt, zu besuchen und Gehorsam zu leisten; weil Ihr uns doch hiervor angezeigt, daß Ihr uns einen eigenen Doctor an diesem Mann ziehen wollt, an dem wir fast gut Gefallen haben . . ., so ist unser Begehr, Ihr wollet daran uns förderlich sein, daß er auf's erste wieder allhier komme und nicht verzogen noch aufgehalten werde.« Auch gab er Luthern warme Empfehlungen mit an den Bischof Lorenz von Würzburg, über welche Stadt der Weg führte, und an den Pfalzgrafen Wolfgang in Heidelberg. Bei beiden fand er, der von Vielen schon als Ketzer verschrieen war, sehr freundliche, wohlthuende Aufnahme.
Ganz ungetrübt zeigte sich ferner in Heidelberg sein Verhältniß zu seinen Ordensbrüdern und vor allem zu seinem Staupitz. Dieser wurde hier wieder im Ordensvicariat bestätigt; das Districtsvicariat ging von Luther auf seinen vertrauten Freund Lange (oben S. 73) über, der aus Wittenberg nach Erfurt zurückgekehrt und dort Prior geworden war. Die Frage über den Ablaß wurde gar nicht in die Verhandlungen des Convents hineingezogen. Einer Disputation aber, die nach einem auch sonst üblichen Brauch an den Convent sich anschloß, präsidirte Luther und stellte für sie Thesen auf aus seiner Grundlehre über des Menschen Sünde und Unvermögen und die Gerechtigkeit aus Gottes Gnade in Christo und gegen die aristotelisch-scholastische Philosophie und Theologie. Mit Spannung richteten hier verschiedene jüngere Männer Auge und Ohr auf ihn, die später selbst Genossen seines Wirkens wurden, wie Johann Brenz, Erhardt Schnepf, Martin Butzer. Sie bewunderten, wie er aus der Schrift zu schöpfen verstehe und nicht blos scharf und offen, sondern auch anmuthig und fein zu reden wisse. So diente die Reise dazu, seinen Ruf und Einfluß weiter auszubreiten.
Als er am 15. Mai nach fünfwöchentlicher Abwesenheit wieder in Wittenberg angelangt war, brachte er vor 111 allem ausführliche lateinische Erklärungen über den Inhalt seiner 95 Thesen (unter dem Titel »Resolutionen«) zum Abschluß: die größte und bedeutendste Arbeit, welche er in dieser Periode des Streites erscheinen ließ.
Die wichtigste Frucht, welche der Verlauf des Streites überhaupt für ihn und sein weiteres Wirken getragen hat und welche wir so namentlich in der ebengenannten Schrift beobachten können, war der Fortschritt, zu welchem er im eigenen Denken und Forschen geführt und getrieben wurde. Neue Fragen erhoben sich; die inneren Zusammenhänge der Wahrheit traten ihm an's Licht; neue Consequenzen drängten sich hervor: noch machte es ihm Mühe, sie zu bewältigen.
In seinen Thesen wollte Luther den Ruf Jesu zur Buße nicht auf jenes kirchliche Bußsacrament mit der Ohrenbeichte und den vom Priester auferlegten Büßungen und Genugthuungen beziehen, ohne darum diesem überhaupt eine göttliche Einsetzung oder biblische Begründung zu bestreiten. Jetzt erkannte er und sprach offen aus, daß diese kirchlichen Acte nicht von Christus, sondern nur vom Papst und der Kirche eingesetzt seien.
Der Streit über den Ablaß, den der Papst mit Bezug auf jene Leistungen ertheilte, führte jetzt namentlich auf die Lehre von den sogenannten Schätzen der Kirche, aus welchen der Papst hiebei schöpfe. Indem Luther das Recht, Ablaß in dem von ihm gemeinten Sinne auszuspenden, dem Papste beließ, verwahrte er sich dagegen, daß die Verdienste Christi jener Schatz seien und über diese so vom Papst verfügt werden sollte; er wollte dafür einfach nur auf die päpstliche Schlüsselgewalt zurückgehen. Jetzt wurde ihm nachgewiesen, daß er hiermit der ausdrücklichen, in den kirchlichen Rechtsbüchern stehenden Erklärung eines Papstes, Clemens VI., widerspreche, wonach allerdings Christi Verdienste im Ablaß ausgetheilt werden. Luther, der in seinen Sätzen gegen den Ablaßmißbrauch noch nichts hatte vortragen wollen, was nicht doch auch dem wahren Sinne 112 des Papstes gemäß wäre, beharrte jetzt doch unbedenklich auch auf solchem Widerspruch: denn jene Aussage des Papstes dort habe nicht den Charakter einer dogmatischen Festsetzung, und man müßte auch zwischen einer Festsetzung durch den Papst und einer Annahme der Kirche durch ein Concil noch unterscheiden.
Auf den Kern seiner Heilslehre, wie er sie schon vor dem Ablaßstreit zu predigen angefangen hatte, kam Luther mit der Frage zurück, wodurch denn der Christ zur Vergebung der unendlichen Sündenschuld selbst, zu Versöhnung mit Gott, Gerechtigkeit, Frieden und Seligkeit gelange. Erkannt und verkündigt hatte er schon zuvor, daß es geschehe durch den Glauben, d. h. durch jenes herzliche Vertrauen auf die im Evangelium geoffenbarte Gottesgnade und den Heiland Christus. Wie verhielten sich dazu die Acte jener kirchlich vorgeschriebenen Buße, wie namentlich die Absolution, die bei dem Priester geholt werden mußte? Luther erklärte jetzt, daß Gott allerdings seine Vergebung dem danach begierigen Sünder durch den dazu berufenen Diener der Kirche, den Priester, wolle zusprechen lassen, daß aber der Glaube hiebei einfach an das göttliche Verheißungswort selbst, kraft dessen und in dessen Dienst der Priester handle, sich zu halten habe. Und zugleich sprach er auch schon aus, daß dieses Verheißungswort einem angefochtenen Christen so auch durch einen anderen christlichen Bruder zugesprochen werden könne und ihm, wenn er es gläubig ergreife, die volle Vergebung bringen werde. Dazu fand er eine Aufzählung der einzelnen Sünden, für die einer Vergebung suche, nicht nöthig: genug, wenn dem Priester oder Bruder, bei dem man Trost suche, das bußfertige und gläubige Verlangen nach dem Gnadenworte kundgegeben werde. Von hier aus ergab sich weiter einerseits, daß die priesterliche Absolution und das Sacrament dem Empfänger nichts nütze, wenn er nicht auch innerlich im Glauben diesem Gott und Heiland sich zuwende, das 113 ihm zugesprochene Wort gläubig erfasse und eben durch dasselbe zum Glauben sich anregen lasse. Andererseits folgte, daß ein an jenes Wort sich haltender bußfertiger und gläubiger Christ, dem der Priester willkürlich die nachgesuchte Absolution versage, der göttlichen Vergebung darum doch theilhaftig werden könne und wirklich theilhaftig werde. Zerschnitten war hiemit das mächtigste Band, mit welchem das herrschende Kirchenthum die Seelen an seine hierarchischen Organe fesselte. Auf's Tiefste hat Luther den Menschen vor Gott gedemüthigt, durch dessen Gnade allein der Sünder in demüthig hinnehmendem Vertrauen selig werden könne. In Gott und durch diesen Glauben aber lehrt er ihn frei und der Seligkeit gewiß werden. Christus, sagt er, hat nicht gewollt, daß der Menschen Seligkeit in der Hand oder Willkür eines Menschen stehe.
Den äußeren Leistungen und Strafen, welche Kirche und Papst auflegten, wollte er darum doch nicht sich entziehen. Auf diesem äußeren Gebiete allerdings erkannte er dem Papst fort und fort eine von Gott stammende Gewalt zu. Hier, meinte er, müsse der Christ auch Mißbrauch der Gewalt und ungerechtes Leiden durch sie geduldig tragen.
Der ganze Streit endlich drängte vor allem zu einer Entscheidung darüber hin, wer denn die umstrittene Wahrheit festzustellen, wo man überhaupt die höchsten Normen und Quellen christlicher Wahrheit zu suchen habe. Erst allmählich und sichtlich unter eigenem Ringen haben hier Luthers Anschauungen und Grundsätze Klarheit und Consequenz gewonnen. Auch innerhalb der katholischen Kirche übrigens stand bis dahin die Lehre über die höchste Autorität in Fragen des christlichen Glaubens und Lebens keineswegs so fest, als von Protestanten und Katholiken häufig vorausgesetzt wird. Denn jene Lehre von der Infallibilität des Papstes und von der unbedingten Autorität, die demnach seinen Aussprüchen zukomme, ist, so zuversichtlich sie von jenen Verehrern des heiligen Thomas vorgetragen und von 114 den Päpsten acceptirt wurde, doch zum Dogma der römisch-katholischen Kirche erst im Jahre 1870 erhoben worden. Die andere Auffassung, daß auch der Papst irren könne und die höchste Entscheidung erst einem Conzil zustehe, hatte bis dahin Theologen zu Vertretern, die doch auch kein Papst wie Ketzer zu behandeln wagte. Auf Grund derselben hatte eben damals noch die Pariser Universität, der keine unter den Hochschulen der Christenheit an Ansehen vorging, vom Papst an ein zu berufendes allgemeines Conzil appellirt. In Deutschland waren die Meinungen zwischen ihr und der absolutistisch-päpstlichen Theorie im Ganzen getheilt. Auch die Ansicht endlich, daß weder die Entscheidungen eines Conzils noch die eines Papstes schlechthin unfehlbar seien, sondern gegen jene möglicherweise noch an ein besser gebildetes Conzil appellirt werden dürfe, wurde noch in Schriften des 15. Jahrhunderts ungestraft vorgetragen. Nur darüber durfte kein Zweifel laut werden, daß die auch von den Päpsten anerkannten Entscheidungen der bisherigen allgemeinen Conzilien schlechthin lautere, göttliche Wahrheit enthalten und daß dem Irrthum nie die christliche Universalkirche anheimfallen könne, hinsichtlich deren dann aber eben noch die Frage blieb, in wem sie wahrhaft und endgiltig vertreten sei.
Luther nun folgte schon jetzt thatsächlich dem Inhalte der Schriftoffenbarung so, wie derselbe beim eigenen. selbständigen, gewissenhaften Forschen sich ihm darstellte und von den Mittelpunkten aus, die er in den neutestamentlichen und besonders Paulinischen Schriften gewonnen hatte, sich für seine Erkenntniß gestalte. Aber nimmermehr wollte er doch die Uebereinstimmung mit der Kirche, in der er stand, aufgeben. Auch jetzt noch beklagte er, dem Eck »böhmisches Gift« vorwarf, die von Hus ausgegangenen böhmischen Brüder, welche dünkelhaft über die übrige Christenheit sich erheben. Einem Thomas freilich, der ihm nur ein Scholastiker neben anderen war, widersprach er 115 ungescheut; aber noch sehen wir bei ihm keinen Gedanken sich regen daran, daß je die Gesammtkirche auf einem jener Conzilien sich geirrt haben sollte, und auch noch nicht daran, daß ein künftiges Conzil etwa über die gegenwärtig vorliegenden Streitpunkte eine irrthümliche Entscheidung fällen könnte; den Verketzerungen gegenüber, welche man schon jetzt gegen ihn sich erlaube, will er eben auf eine solche wahrhaft kirchliche Entscheidung warten; und doch hat er auch wieder nirgends geradezu ausgesprochen, daß er, wenn etwa jetzt ein Conzil zusammenträte, seiner Entscheidung von vorn herein und unbedingt sich unterworfen haben wollte. Und ihm selbst steht schon vor jeder solchen Entscheidung seine Ueberzeugung fest; sein Gewissen, sagt er, lasse ihn nicht davon weichen; er stehe im gegenwärtigen Streite nicht allein, sondern mit ihm stehe die Wahrheit sammt allen den Anderen, die seine Zweifel an jener Kraft des Ablasses theilen.
Noch wurde es ihm sogar schwer, den Päpsten, während er die Lehre von ihrer Unfehlbarkeit zurückwies, auch wirkliche Irrthümer in ihren Aussprüchen vorzuwerfen. Jener Erklärung Clemens VI. gegenüber wurde er, wie wir sahen, jetzt doch dazu hingedrängt. Gegenüber dem gegenwärtigen Haupte der Kirche wollte er, so weit es irgend anging, in Uebereinstimmung und Unterwürfigkeit verbleiben. Es war kein bloßer Schein, wenn er in den 95 Thesen seine Auffassung des Ablasses wie die des Papstes selbst hinstellen wollte. Er hat das mindestens von ganzer Seele gehofft und gewünscht; auch später noch, gegen Ende seines Lebens, erzählt er, wie er damals die gute Zuversicht gehegt habe, der Papst werde beim Streit gegen die unverschämten Ablaßhändler sein Patron werden. Auch nachher pflegte er Leo wie einen tüchtig gesinnten Mann und gebildeten Theologen anzusehen, der nur leider in eine grundverderbte Umgebung und böse Zeit hineingestellt sei. Noch stand ihm fest, daß demselben jedenfalls das oberste 116 Hirtenamt in der Christenheit und die ganze im kanonischen Recht bezeichnete Gewalt von Gott übertragen sei. Die Pflicht der Demuth und des Gehorsams, die ihm, dem Mönche, bis zum Uebermaß sich eingeprägt hatte, mußte nicht minder als die Scheu vor Gefahren und Stürmen, die ihm und der Christengemeinde bevorstehen möchten, ihn vor dem Gedanken zurückschrecken, daß er wirklich auch gegen jenen zeugen und kämpfen sollte. Er wagte es, die oben genannten »Resolutionen« dem Papste selbst zu dediciren. Das Schreiben an Leo, worin er dies that (vom 30. Mai 1518), zeigt recht die eigenthümliche, freilich in sich zwiespältige, unhaltbare Stellung, in der er jetzt sich befand. Er ist, wie er sagt, entsetzt über die Anklagen der Ketzerei und des Abfalls, die gegen ihn erhoben seien. Er berichtet, wie er, der am liebsten in der Stille bliebe, in seinen durch ein öffentliches Aergerniß hervorgerufenen Thesen nicht Dogmen habe aufstellen, sondern nur in christlichem Eifer, oder, wie Andere sagen mögen, in jugendlichem Feuer zu einer Disputation habe einladen wollen, und möchte jetzt unter dem Schutze des Papstes selbst seine gegenwärtigen Erklärungen ausgehen lassen. Aber zugleich versichert er, daß sein Gewissen unschuldig und ruhig sei, und erklärt auch kurzweg: widerrufen kann ich nicht. Dennoch wirft er sich am Schluß des Schreibens demüthig dem Papste zu Füßen mit den Worten: »Belebe, tödte, nimm an, verwirf, wie Dir beliebt.« Er will seine Stimme als die des in ihm redenden Herrn Christus anerkennen. Er will, wenn er den Tod verdient habe, sich dessen nicht weigern. Aber jene Erklärung, daß er nicht widerrufen könne, ließ er stehen. 117