Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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7.

Auf dem Meeresgrunde.

Der Morgen war angebrochen. Als die Besatzungen des ›Amor‹ und der ›Vesta‹ an Bord des in der Mitte liegenden Schiffes kamen, fanden sie dessen Mannschaft schon in vollster Tätigkeit vor, die Skaphander und alle zu deren Bedienung nötigen Apparate in Ordnung zu bringen. Kapitän Hoffmann, der diese Arbeiten leitete, begrüßte sie und gab dann den Herren, welche ihn begleiten wollten, die nötigen Verhaltungsmaßregeln.

Es waren dies vier Herren, für mehr reichten die an Bord vorhandenen Skaphander einmal nicht aus, und dann waren dies auch die einzigen, Harrlington, Hastings, Williams und Davids, welche den Gang in die Tiefe unternehmen wollten. Fehlte es den übrigen auch nicht an Mut – sie hatten oft genug bewiesen, daß dies nicht der Fall war – so befällt einem doch immer ein ganz eigentümliches Gefühl, wenn man so allein, von aller Welt abgeschlossen, auf dem Meeresgrunde steht und der Wasserdruck einem um die Ohren saust. Nicht die Furcht vor dem Tode, welcher in jedem Moment und in vielerlei Gestalten den Menschen erwarten kann, ist es, was das Herz schneller schlagen macht, es ist das Bewußtsein der Verlassenheit.

Ellen hatte während der Nacht nicht ihren Entschluß geändert, wie der Ingenieur gehofft hatte, noch immer brannte sie vor Verlangen nach dem abenteuerlichen Unternehmen, sie konnte den Augenblick nicht erwarten, da sie in einer Kabine den Skaphander umlegen sollte.

Wie erstaunt waren aber alle, als sie noch eine Begleiterin in Johanna fand, welche dem Kapitän ganz im geheimen den Wunsch, mitzugehen, mitgeteilt haben mußte.

Die anderen Vestalinnen zogen vor, auf der Oberfläche des Wassers zu bleiben, beneideten aber den Mut ihrer Gefährtinnen.

Noch ehe das Taucherkostüm angelegt wurde, erklärte Kapitän Hoffmann den Mitgehenden die Waffen, deren sie sich am Meeresgrund nötigenfalls bedienen sollten. Es waren dies ganz seltsam aussehende, kleine Flinten, mehr Pistolen mit sehr dicken Kolben und sehr langen Läufen ähnelnd.

»Sie sind geladen,« erklärte Hoffmann. »Die zwanzig Kugeln befinden sich hier im Kolben und werden mittels zusammengedrückter Luft aus dem Lauf geschleudert. Ehe Sie schießen, ziehen Sie diesen Hebel zurück und bringen ihn nach Gebrauch der Waffe in seine alte Lage zurück, damit das Gewehr wieder gesichert ist. Sehen Sie sich ja vor, doch Sie sind ja gewohnt, mit Waffen umzugehen, und so brauche ich nicht ängstlich zu sein, wenn ich Ihnen die Gewehre in die Hand gebe.«

»Kann man denn mit ihnen auch unter Wasser schießen?« fragte Harrlington erstaunt, »und hat die komprimierte Luft denn eine genügende Kraft, um die Kugeln tödlich wirken zu lassen? Dieselben müssen ja, der Bohrung des Laufes nach zu schließen, winzig klein, kaum so groß wie eine Erbse sein,«

»Es sind Glaskugeln mit Elektrizität geladen,« sagte Hoffmann einfach. »Ich bitte Sie nochmals, vorsichtig zu sein; wohin sie treffen und sich entladen, erzielen sie dieselbe Wirkung, als wenn der Blitz einschlüge.«

Die Gesellschaft betrachtete höchlichst erstaunt diese so unschuldig, fast wie Kinderspielzeug aussehenden Waffen, welche doch den Blitz beherbergen sollten, nur Sir Williams zog ein ganz merkwürdiges, sinnendes Gesicht, während er sich mit seinem Gewehre beschäftigte.

Die zweite Waffe, welche zu jedem Taucherkostüm gehörte, war ein langes, scharfes und äußerst starkes Messer, aus bestem Stahl gefertigt, welches man wie einen Meißel oder ein Stemmeisen gebrauchen konnte, ohne einen Bruch befürchten zu müssen.

Hoffmann erklärte noch einmal den Teilnehmern, wie sie zu telegraphieren hatten, wie sie sich durch Regelung der Luftzufuhr beliebig im Wasser heben und senken könnten, wie sie sich bei der Annäherung von Haifischen und anderen Seetieren verhalten sollten, die Art der Verteidigung, ihr Verhalten bei einem eventuellen Unglücksfall, zeigte ihnen die Uhr in der Innenseite des Glasballons, der den Kopf bedeckte, das am Gürtel hängende Schiefertäfelchen, mittels dessen sie sich untereinander verständigen könnten, wie sie die Lampe vorn zum Glühen brächten, und ließ dann die Aufforderung ergehen, sich den Skaphander anzulegen.

Nach zehn Minuten traten auch Ellen und Johanna aus der Kabine, in welcher sie sich gegenseitig den Skaphander angetan hatten, und gingen mit schweren Schritten über Deck. Obgleich die beiden Mädchen das leichteste Kostüm bekommen hatten, wog doch jede am Fuße befestigte Bleiplatte gegen dreißig Pfund.

Alle Taucher, es waren mit Hoffmann deren elf, wurden von letzterem nochmals genau untersucht, ehe der Glasballon über den Kopf gestülpt wurde, und sobald dies geschehen war, wurden von ihm selbst die Luftkästen auf den Rücken gehängt und der Mechanismus, welcher das Zu- und Abströmen der Luft regelte, in Funktion gesetzt. Dann erst, nachdem die Taucher auf die Täfelchen geschrieben hatten, daß sowohl die Atmung eine geregelte war, als auch, daß sie die ihnen gegebenen Klopfzeichen gut verstehen konnten und ihre eigenen Signale an dem Telegraphenapparate sichtbar wurden, ließ er sich von seinem Ingenieur Anders ebenfalls ankleiden. Der Luftkasten sorgte nach Angabe Hoffmanns fünf Stunden für die zur Atmung der Taucher nötige Luft, man hatte ihnen aber streng ans Herz gelegt, auf keinen Fall länger als vier Stunden unter Wasser zu bleiben, sondern nach Ablauf dieser Frist nach oben zu telegraphieren und sich dann durch das von ihm angegebene Signal an die Wasseroberfläche zu heben, ebenso, wie er [???] das ernste Versprechen abgenommen hatte, ihm in [???] Fällen und unwiderruflich zu gehorchen, selbst wenn sie den Zweck seines Befehles nicht einsehen könnten.

»Uebrigens, glaube ich kaum nötig zu haben,« hatte er gesagt, »Sie vor zu langem Aufenthalt im Wasser zu warnen. Schon nach einer Stunde werden Sie herzlich froh sein, an das Sonnenlicht zurückkehren zu dürfen.«

Kapitän Hoffmann sprang zuerst direkt von Deck ins Wasser hinunter, die Fluten schlossen sich schäumend über dem Glasballon, eine Sekunde noch, und von der Gestalt war nichts mehr zu sehen, nur die elektrische Glühlampe leuchtete noch wie ein glühender Punkt, bis auch dieser unsichtbar wurde.

Kaum drei Minuten vergingen, so erschien oben auf dem Telegraphenapparat die Anzeige, daß die übrigen ihm nachfolgen sollten, der Platz sei ein günstiger, und während sich die Taucher anschickten, der Aufforderung nachzukommen, zogen die Obenstehenden die Drähte, welche Hoffmann vorläufig noch bei sich gehabt hatte, empor – er hatte sich losgemacht und war somit völlig abgeschlossen von allem Verkehr mit der Oberwelt.

Ein Taucher sprang nach dem anderen ins Wasser, zuerst Ellen und Johanna, beide außerdem noch an eine lange Leine befestigt, bis auch der letzte verschwunden war.

Miß Petersen wurde doch etwas ängstlich zu Mut, als sie auf dem Laufbrett stand und in die Flut sah, welche sich im nächsten Augenblick für Stunden über ihr schließen sollte. Ein starker Ruck an dem sie haltenden Tau machte sie aufmerksam, daß man auf sie warte, sie blickte sich um, fast in der Absicht, noch im letzten Augenblick ihren Entschluß aufzugeben, da aber bemerkte sie das spöttische Lächeln einiger Matrosen, schnell wendete sie sich wieder um, erhob die Hand zum Signal, und sofort klappte das Laufbrett nieder – Ellen fiel senkrecht in das Wasser.

Blitzschnell schoß sie in die Tiefe, so glaubte sie wenigstens, und wieder bemächtigte sich ihrer eine Angst, aber dieselbe war unnötig, wie sie bald bemerkte. Die erste Schnelligkeit war nur durch den Fall durch die Luft hervorgerufen worden, bald sank Ellen langsam zu Boden, gezogen vom Gewicht der Bleisohlen.

Innerhalb zweier Minuten hatte sie den Boden des Meeres erreicht, und sofort bemerkte sie etwas, was sie während der Fahrt nicht wahrgenommen; ein ziemlich starkes Sausen ertönte in ihren Ohren, das nicht gerade unerträglich, aber doch sehr unangenehm war und später sehr lästig, vielleicht schmerzhaft zu werden versprach. Es war eine Folge des Wasserdruckes.

Noch war Ellen nicht völlig zum Bewußtsein gekommen, wo sie sich eigentlich befand – sie fühlte nur festen Boden unter den Füßen – als sie am Arm gefaßt wurde.

Entsetzt wendete sie sich um, die Hand am Messer, denn ihre Phantasie war mit den Bildern grausiger Tiere erfüllt, aber sie erkannte zu ihrer Freude in dem durchsichtigen Wasser von herrlicher, smaragdgrüner Farbe den ersten der Taucher – Hoffmann – der ihr winkte, ihm schnell zu folgen.

Welches Entzücken erfüllte Ellen, als sie die ersten paar Schritte getan hatte.

Wohl fühlte sie einen beklemmenden Druck, wo aber war die Anziehungskraft, welche sie an den Boden fesselte? Bei jedem Schritte wurde sie förmlich wie ein Gummiball in die Höhe geschleudert, sie glaubte, mit einem Satz bis an die Oberfläche springen zu können, hätte sie es gewollt, und sie mußte ganz vorsichtig auftreten, um dieses Hüpfen zu vermeiden. Sie hatte aber nicht lange Zeit, Betrachtungen darüber anzustellen, denn Hoffmann, an diesen Gang völlig gewöhnt und sich wie auf der Erde bewegend, zog sie schnell eine Strecke weit davon, wie Ellen merkte, damit die Drähte der nachkommenden Taucher sich nicht mit den ihren verwickelten. Der Grund war eben, mit bunten Steinen und großen Muscheln, dicht besät.

Hoffmann ließ Ellen sich auf einen großen Stein setzen, eilte noch einmal hinweg, und kam dann mit Johanna zurück. Die vier Herren wurden von den Tauchern einzeln nach derselben Stelle geführt. Die Marschordnung ward von Hoffmann so eingerichtet, wie er es schon vorher ausführlich angegeben hatte, und der Zug, den Ingenieur an der Spitze, bewegte sich langsam vorwärts.

Dicht hinter Hoffmann schritten die beiden Mädchen, hinter ihnen die acht Männer zu zweien, neben jedem der Taucher einer der Herren.

Entweder hatte der Ingenieur das Terrain des Meeresgrundes ganz genau erkannt, vielleicht durch Untersuchung mit dem Lot, an dessen unteres Bleiende gewöhnlich Fett geschmiert wird, damit die daran hängen bleibenden Steinchen die Bodenbeschaffenheit verraten, oder das Glück war ihm günstig gewesen – der Platz, wo sie gelandet, war der dazu geeignetste. Kaum waren sie eine kleine Strecke weit gegangen, so schien der Boden von Schluchten durchwühlt zu werden, tiefe Risse klafften zu beiden Seiten, und oft sperrten mächtige Felsblöcke den Weg.

Es war gar kein Zweifel, hier hatte einst eine furchtbare vulkanische Eruption den Boden umgestaltet.

Kapitän Hoffmann bückte sich einmal, hob etwas auf und hielt es, sich umdrehend, hoch empor – es war eine alte Flinte, aber von Seegras so umwachsen, daß man sie kaum als eine solche erkennen konnte.

Bisher hatten die Taucher noch nicht nötig gehabt, über eine der Spalten hinwegzusetzen, plötzlich aber blieb der Vorausschreitende stehen und deutete nach vorn. Das Wasser war sehr klar, man konnte einige Meter im Umkreis sehen, ohne die Lampen dazu nötig zu haben, dann aber verschwammen die Umrisse der Gegenstände. Jetzt jedoch konnte man auf dem Erdboden etwas Dunkles unterscheiden, und, was sie vorher nicht vermochten, erkannten sie beim Näherkommen; eine wohl zehn Meter breite Spalte tat sich vor ihnen auf.

Hoffmann winkte zurück und war der erste, welcher über den Schlund setzte. Ein großer Schritt brachte ihn über den Abgrund selbst, aber er sank nicht unter, sondern blieb stehen und arbeitete sich durch Schwimmbewegungen nach der anderen Seite hinüber. Während vorher immer aus seinem Taucherhelm die verbrauchte Luft in Form von kleinen Bläschen emporgestiegen war, hörte dies jetzt auf, eine einfache Vorrichtung verschloß ihr den Austritt, und dadurch war es möglich, eine größere Tragkraft zu erzielen, und somit das Untersinken zu verhindern.

Wäre der Luft noch länger der Austritt versperrt worden, so wäre der Taucher sogar emporgehoben worden, allerdings nicht hoch, denn er konnte es für längere Zeit in der gebrauchten, schlechten Luft nicht aushalten.

Die beiden Mädchen, wie auch die Herren ahmten dieses Manöver nach, sie waren vorher genügend instruiert worden, und außerdem hatten sie ja die darin schon geübten Matrosen neben sich. So langten alle ohne Zwischenfall auf der anderen Seite an, und noch manche Spalte mußte auf diese Weise überschritten werden, ebenso wie man die den Weg versperrenden, oft mächtigen Felsblöcke mehr überflog, als überschritt.

Es kam allen vor, als wären sie Vögel, welche sich ebensogut auf der Erde, wie in der Luft fortbewegen können.

Hoffmann blieb plötzlich stehen, schrieb etwas auf die Tafel und zeigte sie den hinten Gehenden.

»Callagos.« Nur das eine Wort stand darauf, und als sie den Schreiber fragend ansahen, deutete er mit der Hand voraus. Was die übrigen noch nicht hatten sehen können, war seinem Adlerblick nicht entgangen, aber nicht lange dauerte es mehr, so entdeckten alle die alte, versunkene Stadt.

Wie aus dem Nebel tauchten vor ihnen Zinnen und Türme auf, man bemerkte in den Mauern die Schießscharten, und beim Näherkommen gewahrte man sogar die daraus vorsehenden Geschützrohre.

Eine fieberhafte Erregung bemächtigte sich aller, am meisten der Gäste, aber auch dem Ingenieur konnte man sie anmerken. Er schritt mit schnellen Schritten voraus, Sprang wie eine Gemse über die Klüfte, flog wie ein Vogel über die Blöcke, und zwar so geschwind, daß ihm die anderen kaum folgen konnten.

Bald stieß man auf menschliche Gerippe, ab und zu traf man auch auf die Ueberreste eines zerfallenen Steinhauses, aber nicht häufig, denn in jener Gegend werden die meisten Gebäude nur aus Holz oder leichtem Fachwerk aufgeführt, und solche waren natürlich bei der Eruption vollständig vernichtet worden.

Näher und näher kam man der eigentlichen Stadt Callagos, der einstigen spanischen Festung, aber doch war noch immer ein ziemlich weiter Weg zurückzulegen.

Wohl hatte sich Williams' Aufmerksamkeit fortwährend mit der versunkenen Stadt beschäftigt, aber noch ein anderer Gedanke ging ihm im Kopfe herum, etwas höherliegendes, was er nicht begreifen konnte, und so lange ihm dies nicht klar wurde, fühlte er sich nicht beruhigt.

Sie waren nun schon etwa eine Viertelstunde immer geradeaus gegangen, und war die zurückgelegte Strecke eben keine große, so war es doch wunderbar, daß die Drähte noch immer so direkt nach oben liefen, wie zuerst, da sie ins Wasser sprangen. Wie kam das nur? Williams mußte sich darüber Gewißheit verschaffen – in einigen Sprüngen hatte er Hoffmann erreicht und faßte ihn am Arm.

Der Ingenieur blieb stehen, schaute den Engländer fragend an und zeigte auf das Täfelchen; eine mündliche Verständigung verhinderte das starke Glas und das Sausen im Ohr.

»Wie kommt es, daß die Drähte immer direkt über uns bleiben?« schrieb Williams auf den Schiefer und deutete nach oben.

Hoffmann las das Geschriebene, griff dann nach seinem Täfelchen und kritzelte darauf einige Zeilen.

»Die Apparate befinden sich nicht mehr auf dem ›Blitz‹, sondern in einem Boote. Der Matrose vor Ihnen trägt einen Kompaß, er telegraphiert nach oben die eingeschlagene Richtung, und das Boot folgt uns,« las Williams.

Jetzt war ihm das Wunder klar; wie er nun erst merkte, trug einer der Taucher des ›Blitz‹ vorn am Gürtel einen Kompaß, den er unausgesetzt beobachtete, und dessen Abweichungen er nach oben telegraphierte. Auch kam es Williams vor, als wenn Hoffmann manchmal Fingerbewegungen mache, welche von demselben Taucher verstanden wurden und jedesmal neues Telegraphieren veranlaßten. Beide verständigten sich also untereinander mittels einer Fingersprache. Die Apparate befanden sich in einem Boote, welches die Richtung einschlug, die seiner Bemannung von unten durch Zeichen angegeben wurde.

Man stieß auf immer mehr Gerippe, Waffen, Feldgerätschaften, Wagenteile und so weiter, Beweise, daß der vulkanische Boden, über den sie schritten, einst von fleißigen Händen bebaut, daß überhaupt hier ein reges Leben geherrscht hatte.

Die Mauer war erreicht. Man sah jetzt erst, daß die Stadt Callagos wohl noch vorhanden war, daß aber die meisten Häuser Steinhaufen glichen und ebenso wie [die] Mauer halb zerfallen waren oder doch tiefe Risse hatten. Ein Tor hätte die Taucher in die Straßen eingelassen, aber Kapitän Hoffmann nahm nicht diesen Weg, der steinerne Bogen hätte ja übrigens die Drähte und Taue der beiden Mädchen zurückgehalten. So setzten sie über die Mauer hinweg und befanden sich zwischen den Häusern, in denen jetzt kein ernstes Männerwort, kein heiteres Mädchenlachen ertönte, in denen nur stumme Fische ein- und ausschwammen, und deren Wände mit Seeschnecken und Muscheln bedeckt waren.

Callagos machte, soweit man dies noch erkennen konnte, den völligen Eindruck einer spanischen Stadt. Die Häuser waren niedrig und platt, mit wenigen oder gar keinen Fenstern an der Außenseite, weil diese nach dem innenliegenden Hofe hinausführten.

Hoffmann ging, von keinem Tau gehemmt, ab und an in ein Haus, kam aber immer sofort wieder heraus, denn es bot sich ihm nichts Interessantes darin, nur Gerippe und metallenes und steinernes Hausgerät, welches der zerstörenden Wirkung des Seewassers trotzen konnte.

Nur einmal winkte er, als er wieder aus einem sehr großen, burgähnlichen Hause trat, daß ihm die anderen hineinfolgen sollten. Die Matrosen machten sich selbst und den Herren die Drähte, den Damen außerdem noch die Taue los, einer hielt diese und die übrigen gingen dem Ingenieur nach.

Sie schritten durch mehrere Gänge, in welchen sie die elektrischen Lampen anwenden mußten, gingen durch verschiedene Gemächer, in denen manchmal Gerippe von Menschen lagen, kamen auch durch einen Hof, wo in einem halb offenen Gebäude wohl gegen fünfzig Pferdegerippe lagen – es war der Pferdestall gewesen – und wurden dann von dem Ingenieur in einen sehr geräumigen Saal geführt.

Die Eintretenden prallten vor dem Anblick, der sich ihnen hier bot, entsetzt zurück.

Um einen mächtigen Tisch, dessen festes Holz das Wasser ebensowenig zu zerstören vermocht hatte, wie es ihn hatte emporheben können, saßen in schweren Lehnsesseln von demselben Holze achtundzwanzig Gerippe in halbliegender Stellung, die knöchernen Arme auf die Lehne gestützt, den Kopf hintenüber gebeugt, als wenn sie im Schlafe vom Tode überrascht worden wären.

Das Merkwürdigste aber war, daß um ihre knöchernen Leiber lederne Gürtel mit Schwertern hingen. Es war fast, als ob die Gerippe die Offiziere dieser Burg gewesen wären, welche bei einer Versammlung vom Tode überrascht wurden.

Noch mehr machte das Aussehen des Saales dies glaubhaft. Die zersprungenen Wände waren mit Schildern und Schwertern dekoriert, Wappen hingen daran, deren Inschriften aber so von Seepflanzen überwuchert waren, daß man sie nicht mehr lesen konnte, die mächtigen Bücherregale waren einst mit Aktenstücken gefüllt, und in den silbernen Pokalen perlte einst der Wein.

Kapitän Hoffmann schrieb auf seine Tafel:

»Die Obersten der spanischen Festung! Haben ihren unvermeidlichen Untergang gesehen, sich bewaffnet und in den Ratssaal gesetzt, den Tod erwartend,« lasen die übrigen auf dem herumgereichten Täfelchen.

Der Ingenieur nahm einigen Gerippen die schönen, mit Edelsteinen gezierten Schwerter und händigte diese, sowie zwei Pokale seinen Leuten zum Tragen ein – er wollte sie seiner Sammlung einverleiben – seinem Beispiele folgten die Herren und die Mädchen, um ein Andenken an Callagos mitzunehmen.

Nach Verlassen des Saales durchwanderten sie noch einige andere Gemächer und kamen zuletzt auch in einen sehr großen Raum, in welchem eiserne Bettstellen standen. Auf diesen und zwischen diesen lagen eine Unmenge von menschlichen Gerippen und dazwischen Waffen umhergestreut. »Das Quartier der spanischen Besatzung des Forts,« schrieb Hoffmann auf die Tafel.

Da viele Gerippe noch auf den eisernen Betten lagen, so war zu vermuten, daß die unglücklichen Bewohner der Stadt von dem alles zerstörenden Erdbeben nachts überrascht worden waren. Nicht der Trommelwirbel, der Donner der Kanonen hatten die Schläfer erweckt, das furchtbare, unterirdische Rollen der entfesselten, vulkanischen Kraft hatte sie aus den Betten stürzen lassen.

Es mußte furchtbar gewesen sein, als die Unglücklichen den Boden unter den Füßen weichen fühlten, und als durch die splitternden Fenster die Fluten hereingestürzt kamen.

Die Eindringlinge in das Reich der Abgeschiedenen durchlief ein Grausen, eiligst verließen sie das Gemach, in dem der Tod so furchtbar gehaust hatte.

Sie traten durch eine zweite Tür aus dem Hause und kamen auf einen freundlichen Platz, dem man sofort ansah, daß er einst der Friedhof der spanischen Besatzung des Forts gewesen war. Aber durch die Erderschütterungen war der Boden geborsten und hatte die Begrabenen ausgeworfen, überall lagen auch hier Gerippe umher oder streckten die knöchernen Glieder teilweise aus dem Erdreich hervor.

Da erblickte Hoffmann einen Steinsarg, der zwar ebenfalls aus seiner Lage geschleudert worden, sonst aber noch ganz unversehrt geblieben war.

Auf dem Deckel war eine Inschrift eingemeißelt, und die Umstehenden lasen die Worte:

»Lagao Bernardo de Lormas G.c.d.P.«

Wieder schrieb Hoffmann, welcher sehr gut über die einstigen Verhältnisse Callagos orientiert sein mußte, auf seiner Tafel und erklärte den Gefährten, wer der Gestorbene gewesen sei.

»Der ehemalige Generalkapitän, der spanische Gouverneur der Philippinen, Lermas, hier begraben.«

Auf den Wink des Deutschen hoben zwei Matrosen den Steinsarg empor und trugen ihn dem Ausgange des Friedhofes zu. Hätten sie dies oben auf der Erde tun sollen, wäre er ihnen zu schwer gewesen, sie hätten ihn nicht einmal aufheben können, aber bekanntlich vermindert sich im Wasser das Gewicht eines Körpers ganz bedeutend und zwar um so viel, als er Wasser verdrängt, und da der Stein sehr dünne Wände besaß, wasserdicht abschloß, also inwendig mit Luft gefüllt war, so konnte er ohne Anstrengung von den zwei Männern davongetragen werden.

Hoffmann führte die Gesellschaft auf einem anderen Wege nach der Stelle zurück, wo sie die Drähte gelassen hatten, aber der Marsch dahin sollte noch mehrere Male unterbrochen werden, und zwar durch drohende Gefahren. Der Ingenieur blieb Plötzlich stehen, drehte sich um, hob die Hand empor zum Zeichen, auf ihn zu achten und ließ sich dann auf den Rücken zu Boden sinken, die elektrische Büchse in Bereitschaft setzend.

Die anderen folgten sofort seinem Beispiel, und bald sahen sie, was jener schon vorher bemerkt hatte.

Ueber ihnen wurde es dunkel, das Licht fand nicht mehr den Weg zu ihnen herab, denn eine Unzahl großer Fische schwamm vorbei, der Zug wollte gar nicht enden. Die ersten schwammen sehr hoch, die letzten aber tiefer, und die den Zug schließenden so tief, daß man sie deutlich erkennen konnte – es waren riesige Haifische.

Schon waren sie fast vorbei, als der letzte, ein Ungeheuer von fünf Meter Länge, die Gestalten am Boden liegen sah, umkehrte und blitzschnell auf Hoffmann zuschoß.

Die Situation war eine gefährliche, denn der Fisch hatte nicht nötig, sich erst umzuwälzen, er konnte seine Beute sofort fassen, und seine Bewegung war eine so schnelle, daß man ihr kaum folgen konnte.

Aber der Hai erreichte trotz der blitzschnellen Bewegung den am Boden liegenden Ingenieur nicht, ein Strahl, aus vielen Bläschen zusammengesetzt, entquoll dem Laufe seines Gewehres, der Fisch zuckte noch einmal zusammen und sank dann langsam, bewegungslos auf den Grund – die Glaskugel hatte ihn erreicht, war zerplatzt und hatte dieselbe Wirkung hervorgebracht, als wenn der Fisch von einem Blitzstrahl getroffen worden wäre.

Die übrigen Tiere waren nicht mehr zu sehen, der Ingenieur sprang daher auf, ebenso seine Gefährten, und der Marsch wurde fortgesetzt.

Der Weg führte an einem Steinhäuschen vorbei, welches noch sehr gut erhalten war. Es besaß sehr große Türen und Fenster, welche fast die ganzen Wände einnahmen.

Hoffmann war schon vorbeigeschritten, als er noch einen Blick hineinwarf und dann plötzlich hastig zurücksprang, das Messer aus dem Gürtel riß und die beiden Mädchen, zurückdrängte. Er hatte eine furchtbare Gefahr entdeckt, von welcher er verschont geblieben wäre, wenn er weitergegangen wäre, welche aber den Nachfolgenden verderblich werden mußte. Da er aber nun umkehrte, brachte er sein eigenes Leben in Gefahr.

Ein dicker, fleischiger Arm, wohl zwanzig Zentimeter im Durchmesser mit großen warzenähnlichen Saugnäpfen versehen, streckte sich etwa fünf Meter weit durch eins der Fenster heraus, und ehe der Ingenieur ihm entfliehen konnte, war er gepackt worden – das Tier hatte sich an dem Körper des Mannes festgesaugt.

Doch nur für einen Augenblick sahen die vor Schrecken Erstarrten ihren Anführer in dieser Lage, im nächsten fuhr das Messer des Ingenieurs über den Arm und das abgeschnittene Stück sank zu Boden – er war frei.

Keiner der Gefährten war sich darüber unklar, mit was für einem Tiere man es hier zu tun hatte, In dem weitfenstrigen Hause hatte sich ein riesenhafter Polyp festgesetzt und lauerte auf Beute, die er mit den Fangarmen ergriff, an sich zog und fraß.

Der Polyp gehört zu einer eigentümlichen Gattung von Seetieren, er ist, so lange er schwimmt, eigentlich eine formlose Masse, die verschiedene Gestalt annimmt. Er besitzt keine Knochen, sondern besteht nur aus einer Art Gallert. Seine Nahrung verschafft er sich mit Hilfe der Fangarme, von denen die einzelnen Arten von Polypen – es gibt deren sehr viele – eine verschiedene Anzahl besitzen, bei allen aber sind sie vorn mit Saugwarzen versehen, mit denen sie sich an vorüberschwimmende Fische festsaugen, diese an sich heranziehen, mit den Armen umschließen und in dieser Weise auch verzehren, ohne eigentlich ein Freßwerkzeug zu besitzen – die Saugnäpfe sind zugleich Verdauungsorgane.

Obgleich der Polyp ganz weich ist, besitzt er doch eine ungeheure Muskelkraft, es ist durchaus keine Sage, wenn behauptet wird, daß schon Personen von Polypen aus dem Boote gehoben worden sind. Solcher Kopffüßler gibt es eine große Menge; der bekannte Tintenfisch ist ein solcher, aber nur ein kleiner, und daß man größere nicht oft fängt, kommt daher, daß diese Riesen ihrer Gattung nur in größeren Tiefen leben. Dennoch ereignet es sich manchmal, daß ein solcher, besonders nach einem Sturm, aufs Land verschlagen wird, aber dann sofort wieder in sein Element zurückzukehren sucht.

Mau darf überhaupt nicht an der Existenz von Seeungeheuern zweifeln, weil man sie nicht sieht, die großen Tiefen, wie es zum Beispiel eine solche bei China von sechstausend und mehr Metern gibt, beherbergen jedenfalls Tiere, welche kolossal groß gebaut sein müssen, um den Wasserdruck ertragen zu können. Aber es kommt doch manchmal vor, daß ein Menschenauge ein solches Wunder zu schauen bekommt. So strandete vor etwa dreißig Jahren in einer Bucht der Nordsee ein riesenhafter Polyp, welcher die ganze Bucht einnahm, aber nicht lange gehalten werden konnte, weil er sofort starb und in Verwesung überging. An der Küste von Labrador (brit. Nordamerika) fanden Fischer den gegen zehn Meter langen Arm eines solchen Meerungeheuers, und noch jetzt kann man im zoologischen Museum zu Paris ein etwa ein Meter langes Horn sehen, welches im hölzernen Kiel eines Schiffes steckend gefunden wurde. Dieses hatte nachts im freien Fahrwasser plötzlich einen furchtbaren Stoß erhalten, so daß die Besatzung glaubte, es wäre auf einen verborgenen Felsen oder auf ein gesunkenes Wrack gelaufen. Im Dock fand man dann dieses Horn, welches jedenfalls einem bisher unbekannten Tier gehört hatte.

Hat man auch nicht nötig, jedem zu glauben, der eine meilenlange Seeschlange gesehen haben will, eine Tatsache ist es doch, daß es Polypen, Krebse und andere Seetiere von riesenhaften Dimensionen gibt. Nicht nur Seeleute können davon erzählen, selbst wissenschaftliche Bücher führen oft Beispiele an, daß solche Tiere erblickt worden sind, und manche Museen sind im Besitze von Teilen derartiger Ungeheuer.

Kapitän Hoffmann hatte sich also durch einen Messerschnitt von dem saugenden Arme befreit, er drängte die Nachkommenden noch mehr zurück und beriet mit seinen Matrosen in einer nur ihnen bekannten Fingersprache das Weitere. Man hätte zwar einen anderen Weg einschlagen können, aber dieser war der kürzeste, und Hoffmann beschloß demnach, die Gesellschaft an dem Ungetüm vorbeizuführen, obgleich sich jetzt drohend aus allen Türen und Fenstern lange Arme herausreckten, begierig, die seltene Beute zu erfassen.

Die Messer wurden bereit gehalten, und, die beiden Mädchen an der Außenseite schützend, fetzten die Männer sich hintereinander durch die enge Gasse in Bewegung. Der Sarg wurde von zwei Matrosen getragen, der dritte, wie die Engländer sorgten dafür, daß die Leute nicht von den Fangarmen ergriffen wurden.

Wohl gelang es dem Polypen ab und zu, einen der Männer zu packen, aber immer trennte das haarscharfe Messer den Arm vom Rumpfe, und noch ehe der Zug diese Höhle des unheimlichen Raubtieres passiert hatte, gab der Polyp seine Versuche auf, er streckte keine begehrlichen Arme mehr heraus, oder aber, sie waren ihm vielleicht alle abgetrennt wurden.

Diesmal mußte Lord Harrlington an den Ingenieur eine Frage stellen.

»Warum haben wir den Polypen nicht geschossen?« schrieb er auf die Tafel.

»Die Glaskugeln finden keinen Widerstand an dem weichen Körper, sie zerplatzen nicht, sind also wirkungslos,« war die Antwort.

Bald war der Platz erreicht, wo der Taucher mit den Drähten warten sollte, wer aber beschreibt das Entsetzen aller, als sie wohl die Drähte und die beiden Taue noch im Wasser hängen sahen, der Taucher aber verschwunden war.

Hoffmann befestigte sofort die Drähte an seinem Apparat, derselbe funktionierte, der Deutsche bekam auf seine Anfrage Antwort und teilte dieselbe den anderen mit.

Der Taucher hatte sich nicht nach oben begeben, sein letztes Telegramm war gewesen: »Ich muß ...« dann war der elektrische Strom plötzlich unterbrochen worden, der Mann muß durch irgendetwas von den Drähten fortgerissen worden sein, oder er hatte sich selbst davon abgelöst. Letzteres war wahrscheinlicher, denn Hoffmann fand, daß die Schrauben des Drahtes, mit dem der Vermißte verbunden gewesen war, unbeschädigt geblieben waren.

Was aber hatte den Mann veranlaßt, diesen Platz aufzugeben, sich selbst von der Verbindung mit oben zu befreien? War er von einem Tier bedroht worden und hatte er deshalb die Flucht ergriffen?

Da sah Harrlington einen stählernen Gegenstand nicht weit entfernt auf dem Boden liegen, es war die weggeworfene Büchse des Tauchers. Schon wollte der Lord daraufzu eilen und sie aufheben, als Hoffmann, der den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit jetzt ebenfalls gesehen hatte, ihn am Arme ergriff und daran hinderte. »Bleiben Sie und die anderen Herren, sowie die Damen hier,« schrieb er auf, »ich und die drei Taucher kommen aber gleich zurück.«

Hoffmann überlegte noch eine kurze Zeit, gab dann seinen drei Leuten einen Wink und schritt der Richtung welche der Vermißte, wie die fortgeworfene Waffe, genommen haben mußte.

Man hatte sich auf einem kleinen Platze befunden, der Weg, den Hoffmann mit seinen Matrosen einschlug, führte direkt in eine Gasse hinein. Diese wollte er durchstreifen, und fand er den Mann nicht, so wollte er erst seine Gefährten an die Oberfläche bringen, sich selbst mit einem neuen Luftkasten versehen und andere Leute mitnehmen, denn man war nun fast drei Stunden unter Wasser, um dann das Suchen abermals und gründlicher vorzunehmen.

Hoffmann hatte die Leistungsfähigkeit des Skaphander auf fünf Stunden angegeben, aber es verhielt sich anders, ein Mann konnte in diesem Taucherkostüm bald die doppelte Zeit aushalten, allerdings in einem Zustande, der wenig beneidenswert war.

Die nach dem Vermißten Suchenden waren vom Glück begünstigt, sie kamen eben zur rechten Zeit, ihren Genossen vom sicheren Tode zu retten. Sie fanden ihn in einer Lage, die ihn unfähig machte, den Ort, nach dem er rasch geflüchtet war, zu verlassen.

Die drei Männer waren noch nicht weit gegangen, als sie plötzlich zwischen zwei eng zusammenstehenden Häusern eine dunkle Masse sich bewegen sahen, um welche etwas wie von unzähligen Bindfäden hin- und herwogte.

Die Matrosen waren sich noch nicht klar, was für ein großes Tier dies sei, aber der Ingenieur erklärte ihnen bald, daß es ein vielarmiger Polyp wäre, der dort wie festgekeilt in der Häuserspalte saß. Das Tier war nicht so groß, auch besaß es nicht so ungeheuer dicke Fangarme wie das vorhin Gesehene, aber statt sieben oder acht, züngelten wohl über hundert davon im Wasser hin und her, blitzschnell schossen sie umher, wurden zurückgezogen und schnellten dann plötzlich vor, daß man ihren Bewegungen kaum folgen konnte.

Etwas anderes aber war es, was die vorsichtig Näherkommenden mit großer Freude erfüllte.

Der Polyp war nicht zufällig hierhergeraten, er hatte sich hierhergelegt, um auf eine Beute zu lauern, die ihm vorher durch schleunige Flucht entgangen war – auf den vermißten Taucher.

Man konnte den Mann durch das Fenster in einer Ecke des Hauses mit dem Messer in der Hand stehen sehen, den Angriff des Polypen erwartend, aber er hatte einen solchen nicht zu fürchten, denn die Fangarme des Tieres konnten ihn nicht erreichen, und der Körper war zu mächtig, um ihn durch das kleine Fenster zu drängen.

Ohne die Dazwischenkunft der Gefährten wäre der Mann verloren gewesen, denn ehe er die Hunderte von Fangarmen abgeschnitten, wäre er längst erdrückt gewesen. Nur durch Flucht hatte er sich retten können, denn der Polyp schwimmt langsam, und daher konnte sich der Mann auch hier verbergen, um sich wenigstens nicht zu weit von dem Platze zu entfernen, wo er erwartet wurde. Aber eine Falle war es, in der er sich befand – er konnte den Zufluchtsort ohne fremde Hilfe nicht wieder verlassen.

Schnell berieten sich die Männer, wie gegen das Ungetüm vorzugehen sei. Das Gewehr konnte nicht gebraucht werden, einige abgesandte Glaskugeln hatten nur den Erfolg, daß das Tier wütend mit den Armen um sich schlug, ohne seinen Standpunkt aufzugeben oder zu verändern.

Schon waren sie sich darüber einig, daß es kein anderes Mittel gäbe, als dem Ungeheuer mit dem bloßen Messer auf den Leib zu rücken und es zum Weichen zu bringen – standen sie sich einander kaltblütig bei, so war dieser Kampf kein so sehr gefährlicher, er mußte schließlich zu ihren Gunsten ausfallen – als das Tier plötzlich selbst einen ähnlichen Entschluß faßte.

Durch den Anblick der vier Männer gereizt oder vielleicht auch die neue Beute jenem vorziehend, ging es selbst auf sie los. Langsam setzte es sich in Bewegung. Es streckte die vorderen Fangarme so weit wie möglich aus, saugte sich am Boden fest, zog sich heran, löste die Arme und streckte sie wieder aus, auf diese Weise sich fortbewegend, etwa so schnell, wie ein Mann gehen kann.

Natürlich ließen die vier Taucher das Tier nicht erst an sich herankommen. Hoffmann deutete dem aus seiner Gefangenschaft befreiten Matrosen an, welchen Weg er einschlagen sollte, und eilte dann selbst mit seinen Gefährten dieser Richtung zu, dicht an dem Ungetüm vorüber, welches vergeblich seine hundert Arme begehrlich nach der entschlüpften Beute ausstreckte und dieser nachzufolgen suchte.

Auf einem Umwege liefen die Männer dem Versammlungsort zu, wer aber beschreibt ihren Schrecken, als sie, ebenso wie das erste Mal, die Drähte verlassen fanden! – Auch die zurückgebliebenen sechs Personen waren verschwunden!

Das erste war, daß Hoffmann nach oben telegraphierte, ob die Leute im Boot eine Nachricht erhalten hätten, und der erste Teil der Depesche enthielt auch eine erfreuliche Mitteilung. Er lautete:

»Die Herren sind oben angelangt.«

Also hatten sie sich aus irgend einem Grunde auf die Weise, wie ihnen Hoffmann angegeben, an die Oberfläche treiben lassen. Wo aber, waren die Mädchen? Was hatte sie veranlaßt, dem Beispiele der Engländer nicht zu folgen? Wo waren sie jetzt? Wahrscheinlich noch unterwegs! Sie trieben noch nach oben, denn sie hatten die leichtesten Apparate, und Hoffmann hatte sich schon Vorwürfe gemacht, ihnen so schwere Sohlen gegeben zu haben, aber dies war nötig gewesen, denn sonst wäre ihnen der Gang auf dem Meeresboden zu beschwerlich geworden. Die Taue und Drähte hingen noch da, also mußten sie sich durch das Füllen der Luftblase nach oben haben treiben lassen.

»Wo sind die Damen?« telegraphierte Hoffmann hinauf.

»Sie sind noch nicht oben,« kam die Antwort zurück.

Nach einigen Minuten fragte der Ingenieur nochmals an, aber der Bescheid lautete ebenso. Entweder ging ihre Aufwärtsfahrt, zu welcher sie etwa zehn Minuten brauchten, sehr langsam von statten, oder sie waren unterwegs stecken geblieben, oder auch, und das war die schlimmste Befürchtung, sie hatten die Fahrt überhaupt noch nicht angetreten und befanden sich noch auf dem Meeresboden.

Hoffmann mußte sich darüber Gewißheit verschaffen.

Er verständigte seine Leute, mit ihm zu kommen, befestigte die Drähte am Apparat, öffnete ein Ventil und sofort strömte aus dem Kasten Luft in zwei Blasen, welche sich zusammengefaltet auf Brust und Rücken eines jeden Tauchers befanden. Kaum fingen sie an, von der Luft geschwellt zu werden, so wurden die Männer emporgehoben, und als die Behälter völlig gefüllt waren, fuhren die Taucher mit der größten Schnelligkeit nach der Oberfläche des Meeres empor.

Sie spähten scharf aus, ob sie die Gestalten der beiden Mädchen sehen konnten, aber sie erblickten dieselben nicht, und doch wären sie ihnen sicher nicht entgangen, wenn sich dieselben noch unterwegs befunden hätten.

Hoffmann erschien zuerst über dem Wasser, es wurde ihm ins Boot geholfen, ebenso den Nachfolgenden. Die vier Engländer waren schon des Kostüms entledigt und harrten mit angstvollen Gesichtern der Kundschaft, welche ihnen der Ingenieur bringen würde.

»Wo haben Sie die Damen verlassen?« fragte Hoffmann, welcher sich nur den Glasballon, nicht aber, wie die anderen schon erschöpften Taucher, den Skaphander hatte abnehmen lassen, den Lord Harrlington. »Unten bei den Drähten,« erwiderte der halbverzweifelte Lord, »wir warteten Ihrer Rückkehr. Als sie aber nach einer halben Stunde noch nicht zurück waren, beschlossen wir, wenigstens die Drähte anzulegen, um uns mit Ihrem Boote verständigen zu können. Eben wollten wir dieselben uns gegenseitig festmachen, als wir plötzlich eine Unzahl riesiger Polypen auf uns zukriechen sahen. Offen gestanden, wir verloren etwas die Fassung, die Kugeln nützten nach Ihrer eigenen Aussage nichts, zum Kampf mit dem Messer waren es zu viele Tiere, und so einigten wir uns, mit Hilfe der Luftblasen schnell an die Oberfläche emporzusteigen. Schon waren die Tiere ganz nahe, wir hatten keine Zeit mehr, die Drähte anzulegen, sondern ließen uns sofort emportreiben.«

»Die Damen haben Sie nicht an den Tauen befestigt?« unterbrach ihn der Ingenieur.

»Nein, auch dazu war es zu spät! Doch folgten auch sie unserem Beispiele, ich selbst sah, wie Miß Petersen sowohl, wie Miß Lind, auftrieben, anfangs waren sie dicht neben mir, aber bald, ich weiß nicht, woher es kam, vermehrte sich meine Schnelligkeit, wie auch die der anderen Herren, die beiden Damen blieben zurück.«

»Sie hätten Ihre Fahrschnelligkeit vermindern können,« sagte Kapitän Hoffmann, »wenn Sie etwas Luft ausströmen ließen. Die Apparate der Damen waren leichter, ihre Sohlen aber ebenso schwer, wie die Ihren.«

»Ich wußte nicht genügend damit umzugehen,« gestand Harrlington offen, »auch war ich fest überzeugt, daß die Damen etwas später nachkommen würden.«

»Es ist jetzt unnütz, darüber zu sprechen,« meinte Hoffmann ernst und zog die Uhr – er war der einzige, welcher seine Fassung behalten hatte, die Gesichter der anderen, selbst die seiner Matrosen, drückten Angst und Bestürzung aus – »die Damen sind jetzt gerade vier Stunden und zehn Minuten im Wasser, fünfzig Minuten können sie noch gut atmen.«

»Und dann?« rief Harrlington in heller Verzweiflung. »Kapitän Hoffmann, schnell, geben Sie mir einen anderen Skaphander, wir wollen wieder nach unten gehen und sie suchen.«

»Einige Minuten noch,« wehrte Hoffmann ab, »ein Erstickungstod ist noch nicht zu befürchten. Ich sagte Ihnen zwar, der Apparat enthielte nur für fünf Stunden Luft, aber ich tat dies nur aus Vorsicht. Eine richtige Atmung ist allerdings nur für fünf Stunden möglich, nach dieser Zeit aber springt der Mechanismus um, er arbeitet dann noch für drei Stunden so, daß dem Taucher gerade die zum Leben notwendige Luft zugeführt wird. Ist dies auch nicht gesund, so reicht es doch eben hin, um ihn am Leben zu erhalten. Herr Anders,« wandte er sich an den mit im Boote befindlichen Hilfsingenieur, »rüsten Sie zwei Matrosen,« er nannte ihre Namen, »mit Skaphandern aus und geben Sie mir einen neuen Luftkasten. Ich werde nach den Vermißten suchen, weit können sie nicht sein.«

»Wir gehen mit Ihnen,« riefen Lord Harrlington und die anderen im Boote befindlichen Herren. Das Boot lag nicht weit vom »Blitz« entfernt.

»Sie bleiben!« sagte Hoffmann in einem Tone, welcher keinen Widerspruch zuließ. »Herr Anders, sorgen Sie dafür, daß die auf dem Meeresgrunde befindlichen Gegenstände, darunter ein Steinsarg, emporgehoben werden.«

Einige Minuten später trat der Ingenieur, mit neuem Luftkasten ausgerüstet, nebst zwei anderen Matrosen nochmals die gefährliche Reise an. Niemand sah ihm an, welche Angst sein Herz durchwühlte. Sein Aeußeres war völlig ruhig, das Gesicht, die Stirn zeigten keine Falte, und sein Auge blickte so klar wie immer. Alles an ihm war Kraft, Kaltblütigkeit und Ueberlegung.

Ein schmerzliches Gefühl durchbebte die Engländer, als sie die drei Männer in den Fluten verschwinden sahen; wie gern wären sie gefolgt, aber sie sahen ein, daß ihre Körper, sehr erschöpft und geschwächt, nicht noch einmal drei Stunden unter Wasser hätten aushalten können.

Würden die Retter bald zurückkommen? Allein oder mit den Damen? Vielleicht mit deren .... ? Sie wagten nicht, diesen Gedanken auszudenken.

Das einzige, was ihnen Mut einflößte, war das Verhalten Hoffmanns. Wäre er auch nur unruhig gewesen, hätte auch er Besorgnis gezeigt, so würde sich ihre Angst bald in Verzweiflung verwandelt haben, aber das sichere Benehmen des Ingenieurs flößte ihnen Hoffnung ein. Auch sein Hilfsingenieur, Herr Anders, obgleich selbst etwas aufgeregt, versicherte wieder und wieder, der Kapitän würde die Damen unbedingt wiederbringen, ob tot oder lebendig, das wagte er allerdings nicht auszusprechen, und er führte als Trost verschiedene Beispiele an, wie vermißte Taucher immer wieder gesund und wohlbehalten zurückgebracht worden seien.

Die Herren hörten nur mit halbem Ohre zu; die Uhren in den Händen starrten sie fortwährend auf die Wasserfläche, jeden Augenblick das Erscheinen von drei, nein, von fünf Taucherhelmen erwartend.

Aber Minute verrann auf Minute, sie wurden ihnen zu Stunden, die erste ihnen zur Ewigkeit gewordene Stunde verstrich, und noch kräuselte sich nicht das Wasser.

»Eine Stunde,« stöhnte Lord Harrlington, und seine verzweifelten Blicke begegneten denen der Gefährten.

»Die zweite Stunde ist vorbei,« seufzte Sir Williams sechzig Minuten später, »nur noch eine Stunde, dann ist die Luft zu Ende. Mein Gott, mein Gott!«

Starr richtete Harrlington die Augen auf seine Uhr, aber wie sehr er auch den Blick auf den Zeiger heftete, derselbe ließ sich in seinem Laufe nicht aufhalten.

»Drei Stunden!« schrie Harrlington förmlich auf und ließ sich ächzend auf die Ruderbank fallen.

Der Ingenieur warf einen mitleidigen Blick auf den händeringenden Lord, er ahnte, warum seine Angst um die Mädchen in Verzweiflung ausartete.

»Wir haben noch Hoffnung,« sagte er leise. »Fünfzig Minuten halten die Skaphander noch aus.«

»Geben Sie mir einen Skaphander!« rief Lord Harrlington außer sich. »Schnell, schnell, einen Skaphander! Zum Teufel, Mann, zögern Sie nicht. Einen Skaphander!«

»Sie bekommen ihn nicht,« antwortete der Ingenieur dem sich wie wahnsinnig Gebärdenden fest. »Sie können nichts helfen und würden vielleicht Herrn Hoffmann gar nicht finden. Wer weiß, wo er sich jetzt befindet.«

»Einen Skaphander will ich haben,« schrie aber Harrlington und wollte einen Apparat vom Boden aufheben, um sich ihn anzulegen. »Schnell, ich muß hinunter, koste es, was es wolle, helfen Sie ihn mir anlegen, schnell, schnell!«

»Sie bleiben hier, Lord,« entgegnete Anders mit finster gerunzelter Stirn und trat auf den Apparat, den Harrlington schon halb in die Höhe gehoben hatte, so daß er ihn wieder fallen lassen mußte.

Aber Harrlington war ganz von Sinnen, die Angst um seine Geliebte verdrängte jedes andere Gefühl, mit einem heiseren Wutschrei stürzte er sich auf den Ingenieur, hob ihn wie ein Kind in die Höhe und wollte ihn schon über Bord schleudern, als einige Matrosen ihm in den Arm fielen.

Gleichzeitig ertönte ein heller Jubelruf aus Williams Munde:

»Sie kommen!«

Wie gelähmt fiel Harrlington in dem heftig schwankenden Boote auf eine Bank und sah eben noch einen Taucherhelm über dem Wasser erscheinen.

Ihm folgte ein zweiter, aber noch nicht der Hoffmanns, denn dieser war, als der größte, sofort erkenntlich. Aber nicht lange dauerte es, so teilte sich nochmals das Wasser, und die letzten drei kamen dicht nebeneinander zum Vorschein. Alle waren ohne Drähte, auch die der zuletzt erscheinenden Taucher.

Anders hatte es den Engländern verschwiegen, daß er an dem Apparate wohl erkannt hatte, wie plötzlich der elektrische Strom unterbrochen wurde, daß die Drähte also gelöst worden waren, um nicht neue Angst hervorzurufen.

Die beiden ersten waren schon im Boot, als Hoffmann den beiden Mädchen, welche er hinten am Gürtel gefaßt hatte, ebenfalls hineinhalf. Die Helme wurden ihnen abgeschraubt, zwei bleiche, farblose Gesichter mit geschlossenen Augen blickten den Umstehenden entgegen.

Während sich Hoffmann mit Johanna beschäftigte, bog sich Lord Harrlington dicht über Ellen, so dicht, daß sein Mund ihre kalten Lippen berührte, aber er achtete nicht darauf, er fühlte nur den warmen Atemhauch.

»Sie lebt!« rief er außer sich vor Freuden.

»Auch Miß Lind,« entgegnete Hoffmann.


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