Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 3
Robert Kraft

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39.

Gefangen.

Ellen stand nach wie vor auf der Kommandobrücke und leitete die Manöver der ›Vesta‹, ebenso wie früher wurde ihren Befehlen willig gehorcht, aber dieselben wurden nicht mehr mit so heller Stimme gerufen, und die Mädchen verrichteten die Arbeit nicht mehr unter Scherzen und Lachen. Beides war auf der ›Vesta‹ verklungen, der Frohsinn hatte das Schiff verlassen und einer ernsten, wenn auch nicht mißvergnügten Stimmung Platz gemacht.

Der ähnlichste Wunsch aller war, Amerika sobald als möglich zu erreichen, die befreiten Mädchen in die Heimat zu bringen und dann auf dem Landwege nach New-York zurückzukehren, weil dieser ein schnelleres Reisen gestattete. Die ›Vesta‹ mochte verkauft werden oder sich selbst überlassen bleiben. Seit der Aussetzung Johannas hatte das Schiff seinen Reiz für die Mädchen verloren.

»Ist dort nicht Land?« rief Miß Morgan, die neben Ellen auf der Kommandobrücke stand, und deutete in die Ferne. Ellen nahm das Fernruhr zur Hand.

»Es ist die erste der Juan-Fernandez Inseln, einer unbedeutenden Gruppe.« entgegnete sie,

»Sind sie bewohnt?«

»Ich glaube kaum; sie liegen zu weit ab vom Festland und sind zu klein, als daß sie irgendwelche Bedeutung erlangen könnten. Sie sollen wohl fruchtbar sein, weil sie reich an Wasser sind, ich habe aber nicht gehört, daß sie von Schiffen besucht würden.«

Die Glocke läutete zum ersten Frühstück, Ellen, wie das den Steuermann vertretende Mädchen, nahmen dasselbe auf der Brücke ein. Eine Vestalin brachte beiden ein Präsentierbrett mit Kaffee und Brot.

Ellen schenkte sich ein, hatte aber kaum von dem Kaffee gekostet, als sie sich mit allen Zeichen des Ekels nach der Bordwand wandte und den Kaffee wieder ausspucke.

»Die Köchin hat den Kaffee wohl mit Salzwasser gemacht,« rief sie halb ärgerlich, halb lustig, »dieser hier ist wenigstens ungenießbar.«

Gleich darauf machte auch Miß Morgan dieselbe Wahrnehmung, auch sie mußte den genossenen Kaffee eiligst ausspucken, wollte sie nicht in eine noch unangenehmere Lage kommen.

Bald erschienen auch die Vestalinnen, welche im Salon das Frühstück hatten einnehmen wollen, umdrängten lachend die Kombüse und warfen dem heute als Köchin beschäftigten Mädchen vor, daß es den Kaffee mit Salzwasser bereitet hätte.

Entrüstet wies das Mädchen die Beschuldigung von sich, sie hätte das Wasser nicht aus der Salzwasserpumpe, sondern aus der Faßpumpe genommen, aber beim Kosten des Kaffees überzeugte auch sie sich, daß derselbe ganz bittersalzig schmeckte.

Ellen pumpte aus dem Faß, welches die Köchin als das bezeichnete, welches sie benutzt hatte, und fand wirklich, daß das ganze Faß verdorben war – das Wasser schmeckte noch bitterer, als Salzwasser.

»Hat jemand heute morgen schon Wasser getrunken?« fragte sie die Vestalinnen.

Einige bejahten, behaupteten aber, keinen schlechten Geschmack wahrgenommen zu haben.

Ellen begab sich mit einigen Mädchen in die Wasserlast und untersuchte das Faß, aber nichts wurde gefunden, was verraten hätte, auf welche Weise das süße Wasser plötzlich ungenießbar geworden sein könnte.

»Hat jemand von Ihnen schon ein Unwohlsein verspürt?« fragte Ellen weiter.

Niemand hatte etwas davon bemerkt, sie hatten ja auch den Kaffee nur eben gekostet.

»So steht nicht zu befürchten, daß wir uns vergiftet haben. Wir müssen eben ein anderes Faß anschlagen.«

Ein volles Faß wurde entspundet, die Pumpe hineingesteckt, noch ehe aber die Mädchen an Deck kamen, wurde ihnen schon zugerufen, daß das neue Faß ebenfalls bitter sei.

»Das ist nicht möglich!« rief Ellen sofort. »In der Pumpe steckt nur noch altes Wasser. Pumpen Sie das erst einmal heraus und kosten Sie dann wieder.«

Es wurde gepumpt und gepumpt, aber das Wasser bekam keinen anderen Geschmack, es war ebenfalls verdorben. Schließlich begab sich Ellen abermals in die Wasserlast und kostete den Inhalt des Fasses direkt – es war bitter, dann prüfte sie auch die anderen Fässer und fand zu ihrem Entsetzen, daß das Wasser aller, ohne Ausnahme, selbst das in dem Tank enthaltene, salzig wie das Meer und bitter wie Galle – völlig ungenießbar war.

Ellen verbreitete diese Nachricht an Deck, und sie erregte unter den Vestalinnen nicht weniger Entsetzen, als bei ihr – wirkliches Entsetzen, denn was war ein Schiff auf dem Ozean ohne Trinkwasser? Ebensogut hätten die Damen ohne Luft leben können.

Aber wie war diese Umwandlung zu stande gekommen?

Diese Frage fand keine Antwort. Niemand konnte sich das Rätsel erklären, bis endlich Ellen ihre Meinung dahin aussprach, daß das in Mgwana eingenommene Wasser schädliche Stoffe enthalten habe, die sich nach und nach entwickelt und das Wasser zur Fäulnis gebracht hätten. Aber was nun? Die mitgenommenen Vorräte an Bier und Wein schützten die Besatzung der ›Vesta‹ wohl einige Tage vor dem Durst, aber kochen und waschen konnte man gar nicht mehr, und wenn jene ausgingen, ehe man einen Hafen erreichte, was dann? Ein ihnen begegnendes Schiff gab ihnen wohl etwas Wasser ab, aber nicht viel.

»Ist jene Insel der Juan-Fernandez-Gruppe nicht reich an Wasser?« fragte da Miß Morgan Ellen.

Man konnte noch immer das Eiland wie einen schwachen Nebelstreifen am Horizont erblicken.

»Ich dachte auch schon daran, daß wir diese Insel anlaufen müssen,« entgegnete Ellen. »Ich weiß nämlich zufällig, daß dieselbe fast nur von Schiffen besucht wird, welche Wasser brauchen. Vorhin habe ich Ihnen dies nicht gesagt. Aber es ist so, man kann dort das Wasser unter sehr günstigen Bedingungen erreichen, so daß die Uebernahme desselben nicht sehr lange Zeit in Anspruch nimmt.

Die Insel lag gerade in der Richtung des Windes, man konnte also gut auf sie zuhalten. Die Raaen wurden gedreht, das Ruder gelenkt, und mit allen Segeln steuerte die ›Vesta‹ jener kleinen Insel im Atlantischen Ozean zu. Die Mädchen freuten sich sogar auf die zu erwartende Arbeit, welche gar nicht so leicht und schnell von statten gehen konnte, denn erst mußten die Fässer ausgepumpt, dann an Deck gewunden und an Land geschafft werden, wo sie gereinigt wurden. Lagen sie dann wieder in der Wasserlast, dann wurde das Wasser in Eimern von Hand zu Hand gereicht, man bildete eine Kette, bis die Fässer voll waren. Ebenso wurden die Tanks behandelt, nur daß man diese unten in der Last aufscheuern mußte. Ein Tag würde wohl vergehen, ehe die Arbeit vollbracht war. Aber immerhin – es war doch eine Abwechselung, und wieder einmal Land, und noch dazu ein schönes, unter den Füßen zu haben, darauf freuten sich die Mädchen.

Wahrend die ›Vesta‹ noch auf die Insel zusegelte, wurden schon die Fässer und Tanks leergepumpt, und das in Mgwana mitgenommene Wasser rann in Strömen über Deck. Die Sonne stand zwar noch nicht hoch am Himmel, sandte aber schon sengende Strahlen herab, und so war es nicht wunderbar, als ein Mädchen den Pumpenschwengel plötzlich fallen ließ und rief:

»Mich plagt schon seit einer halben Stunde ein furchtbarer Durst, ich kann nicht mehr arbeiten, wenn ich nicht trinke.«

»Ich auch, ich auch,« erklang es von allen Seiten; die Pumpwerke hörten auf zu arbeiten, und es wurden Flaschen mit Bier verteilt.

Eine Flasche brachte aber keine Linderung des Durstes, sie steigerte ihn nur, und Ellen wurde so lange gedrängt, bis sie weitere Flaschen zur Verfügung stellte. Sie sprach sich offen darüber aus, daß dieser nicht zu bändigende Durst von dem Kosten des Wassers gekommen wäre, und da keine der Vestalinnen das zu tun unterlassen hatte, so war der Durst bei allen gleich stark.

Ellen bat vergebens, ihren eigenen Durst soviel als möglich bemeisternd, nicht zu viel von dem spirituösen Getränk zu sich zu nehmen, in einer halben Stunde hatte man ja die Insel erreicht und könnte sich am frischen Wasser laben – der Durst ließ sich nicht bändigen, und einer Bierflasche nach der anderen wurde der Hals gebrochen. Ellen schloß sich endlich selber den trinkenden Mädchen an.

Es wurde sorgsam gelotet, um die ›Vesta‹ so nahe wie möglich ans Land bringen zu können, und glücklicherweise fand sich eine Bucht, wo die ›Vesta‹ dicht am Ufer vor Anker gehen konnte. Boote auszusetzen, war nicht nötig, ein Laufbrett stellte die Verbindung zwischen Schiff und Land her.

Es war ein schönes Eiland, welches sich ihren Blicken darbot, mit echt afrikanischer Vegetation, üppigem Graswuchs und mächtigen Bäumen, unter denen die Fruchtbäume zahlreich vertreten waren. Ein Bananenstrauch ließ seine köstlichen Früchte direkt über Deck hängen.

Wasser war zwar von Bord aus noch nicht zu entdecken, aber wo solche üppige Vegetation herrscht, da gibt es auch Quellen. Ob die Insel bevölkert war, konnte man noch nicht sagen, denn kein Mensch, keine Hütte, kein Rauch waren zu bemerken.

»Wer begleitet mich auf der Suche nach Wasser?« rief Ellen.

Es entstand ein ungestümes Drängen. Jede wollte die Kapitänin begleiten; aber die ›Vesta‹ durfte nicht allein gelassen werden, und so wurden nur zehn Damen ausgewählt, die übrigen vierzehn sollten einstweilen alle Vorbereitungen treffen, um sofort das Wasser übernehmen und die Behälter füllen zu können.

»Bringen Sie uns eine Probe des Wassers mit!« rief ein Mädchen den Abgehenden nach.

»Ich habe schon einen Eimer bei mir,« entgegnete Miß Morgan und hielt denselben in die Höhe. »Sobald wir Wasser gefunden haben, bringe ich ihn voll zurück.«

Die an Bord Gebliebenen waren fleißig damit beschäftigt, eine bequeme Brücke herzustellen, auf der man mit den schweren Wassereimern sicher hin- und hergehen konnte.

»Wenn die Quelle nur nicht weit abliegt,« sagte Miß Thomson während dieser Arbeit zu Miß Nikkerson, »sonst kann es lange dauern, ehe wir die Behälter voll bekommen. Einige tausend Eimer haben wir wenigstens nötig.«

»Wenn wir ununterbrochen tragen, dann ist diese Arbeit nicht so schlimm,« antwortete das andere Mädchen. »Vierundzwanzig Menschen können viel leisten. Aber wenn sich die Eimer nur langsam und halb füllen lassen, was leicht eintreten kann, wenn die Quelle nur spärlich fließt, was dann?«

»In diesem Falle wüßte ich ein Auskunftsmittel,« lächelte Miß Thomson, »und Ellen wird wohl auch darauf kommen. Dann wird einfach ein Loch gegraben, in das die Quelle ihr Wasser ergießt.«

Miß Nikkerson gab zu, daß sie an dieses einfache Mittel nicht gedacht hätte.

»Aber ich wollte doch, die Arbeit wäre schon vorüber,« begann sie nach einer Pause wieder, »meine Glieder sind mir schon so schwer, ich bin so müde, daß ich mich am liebsten hinlegen und für einige Stunden schlafen möchte.«

»Das Bier und der Wein sind daran schuld,« entgegnete Betty lachend, »ich fühle mich wirklich betrunken, das erste Mal in meinem Leben! Auch ich möchte lieber die Arbeit bis morgen verschieben und heute schlafen. Sehen Sie da, den anderen Damen behagt das Brettertragen auch nicht, es sieht immer aus, als wollten sie hinfallen, um nicht wieder aufzustehen.«

»Da kommt Miß Morgan schon,« rief Miß Thomson, »sie winkt, sie hat Wasser.«

Mit Freuden ward Miß Morgan begrüßt, die mit hochrotem Gesicht den Eimer hinstellte und sich die Stirn trocknete.

»Wasser ist im Ueberfluß vorhanden,« sagte sie. »Wir können zwei Eimer immer zu gleicher Zeit füllen. Eine himmlische Gegend ist es – – –«

Die Mädchen hörten jedoch nicht auf die Beschreibung der Naturschönheiten, sie liefen davon und kamen mit Gläsern zurück, die sie in die Eimer tauchten.

»Ich hole noch mehr,« sagte Miß Morgan und nahm einen anderen Eimer, »vergessen Sie aber die braunen Mädchen im Zwischendeck nicht, die haben auch Durst.«

Den Vestalinnen schmeckte das frische Quellwasser köstlich. Glas nach Glas schlürften sie davon, bis Miß Thomson erklärte, der Rest müsse den Sklavinnen verabreicht werden.

Bald machten sie sich wieder an die Arbeit, aber schon nach Verlauf einer Minute warf ein Mädchen nach dem anderen den Hammer oder das Brett hin, das sie gerade in der Hand hielten, legten sich ins Gras und erklärten, nicht weiterarbeiten zu können.

Selbst die widerstandsfähige Miß Nikkerson konnte die Schwäche nicht überwinden, sie ließ das Brett plötzlich fallen, welches sie mit Betty zusammen getragen hatte, und setzte sich hin.

»Meine Glieder sind wie Blei,« lallte sie mit schon schwerer Zunge, »ich kann nicht mehr – ich muß – schlafen – sonst – – –«

Sie sank zurück und schlief ein, so wie sie lag.

»Auch ich kann mich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten,« klagte Betty und setzte sich neben die Freundin, »das Bier, das frische Wasser, meine Augen fallen zu.«

»Mein Gott,« rief sie plötzlich und sprang noch einmal auf, »was ist denn das, alle Damen schlafen ja schon! Das geht aber nicht – wir dürfen – nicht – schlafen.«

Doch ihre Augen fielen von selbst wieder zu, sie stürzte zu Boden, einmal glaubte sie, einen Schuß zu vernehmen, gewaltsam suchte sie sich aufzurichten, dann senkte sich ein tiefer Schlaf auf sie – die Besinnung schwand. – – – – –

Die zehn Vestalinnen waren unter Führung Ellens ins Innere der Insel gewandert. Sie waren nur mit den sechsschüssigen Revolvern bewaffnet, die sie stets bei sich trugen. Munition führten sie nicht mit sich. Die Insel sah ja so friedlich aus; wilde Eingeborene gab es hier nicht, das wußte Ellen bestimmt, und im Falle der Not konnten sich die Mädchen mit ihren sechzig Schuß genügend verteidigen, außerdem wären ihnen ihre Freundinnen beim ersten Schuß sofort zu Hilfe geeilt. Gefahr war also nicht zu fürchten. In gemäßigtem Tempo drangen die Mädchen vorwärts, die Reize der idyllischen Insel bewundernd.

»Ach, wie schön wäre es doch,« rief Miß Murray, »könnten wir für immer hier wohnen! Früh mit den Vögeln aufstehen, im tauigen Grase sich ergehen, Früchte essen und Wasser trinken, gesund an Leib und Seele.«

»Warum können Sie das nicht?« fragte Miß Sargent lächelnd.

»Sie sind ja frei und unabhängig. Es liegt nur an Ihnen, so können Sie sich hier häuslich einrichten und ein Leben wie Robinson führen.«

»Warum ich das nicht kann?« erwiderte Miß Murray schwermütig. »Weil ich eben nicht so erzogen worden bin, daß ich ein solches Leben auf die Dauer ertragen könnte, leider nicht, ich weiß es sehr wohl. Es ist sehr schwer, sich in der Einsamkeit für immer glücklich zu fühlen. Ich könnte wohl ein halbes Jahr, auch ein Jahr einsam hier leben, dann aber würde sich der Wunsch wieder in mir regen, in Gesellschaft zu sein, und diese Sehnsucht würde zuletzt so gebieterisch befehlen, daß ich nachgeben müßte.«

»Aber Sie könnten ja diese Insel in Gesellschaft bewohnen.«

»Ich könnte, ja, doch würde nicht bald Disharmonie zwischen uns eintreten? Und mit der ersten wäre die Idylle für immer zerstört.«

»Ach Gott, auch ich möchte solch eine Insel bewohnen, abgesondert von aller Welt, in der man nur tagaus, tagein nach nichtigen Dingen jagt, und ist man zu der Einsicht gekommen, daß der innere Friede das wahre Glück ist, und bestrebt man sich, diesen zu erhalten, dann sieht man zugleich ein, daß in der Welt ein solcher Frieden nie zu finden ist. Miß Morgan,« wandte sich Miß Sargent an diese, »wie hieß doch gleich das irische Lied, welches diese unnennbare Sehnsucht nach einem stillen, friedlichen Lande ausdrückt?« »Meinen Sie dies?« fragte Miß Morgan lächelnd und deklamierte mit melodischer Stimme:

»O hätten ein Eiland wir, schimmernd und hehr, Verlassen und einsam in bläulichem Meer, Wo nie auf dem Baum welkt das blühende Laub, Wo die Blumen ...«

»Bitte, seien Sie still,« unterbrach Ellen die Sprecherin plötzlich und blieb stehen.

Alle Mädchen sahen erstaunt auf die Führerin, welche diese Worte heftig, ja, unhöflich hervorgestoßen hatte.

»Ich glaube, ich höre eine Quelle murmeln,« fügte Ellen, hochrot im Gesicht, hinzu und schlug eine andere Richtung ein.

Wortlos folgten ihr die Mädchen, und sie merkten bald, daß Ellen sich nicht getäuscht hatte: auch sie hörten jetzt das leise Murmeln. Bald hatten sie eine Quelle erreicht, die fröhlich ihr krystallklares Wasser zwischen grasbewachsenen Ufern dahinrieseln ließ.

»Herrlich!« rief Miß Murray entzückt. »Wir sind im Paradies!«

»Und ich werde erst die zurückgebliebenen Damen mit diesem Lebenswasser versehen,« lächelte Miß Morgan, kniete nieder und füllte den Eimer.

Sie mußte vorsichtig dabei sein, damit der Eimer nicht den Sand aufwirbelte, aber es gelang ihr doch, den Behälter bis zum Rande zu füllen.

»Wollen Sie das Wasser von hier aus tragen lassen?« fragte sie, sich aufrichtend, Ellen.

»Nein,« entgegnete diese, »es würde zu lange dauern. Einen Eimer kann man wohl füllen, aber nicht tausend, dann würden wir schlammiges Wasser bekommen. Wir müssen weiter gehen und einen passenden Ort suchen.«

»Warum dies?« fragte ein Mädchen.

»Weiterhin wird das Land hügelig, und vielleicht finden wir einen kleinen Wasserfall, wo sich's schon bequem schöpfen lassen würde, finden wir keinen solchen, dann müssen wir ein Loch graben, in dein sich das Wasser ansammelt; hat es sich geklärt, so können wir mit der Schöpfarbeit beginnen.

»So gehen Sie einstweilen,« sagte Miß Morgan, »ich komme gleich wieder, es sind nur zehn Minuten bis zum Schiff.«

Sie ging mit dem vollen Eimer davon.

»Ich finde, Miß Morgan wird in letzter Zeit immer liebenswürdiger,« meinte Jessy, als das Mädchen zwischen den Bäumen verschwunden war.

»Ist Miß Morgan nicht immer freundlich gegen uns gewesen?« fragte Ellen verwundert.

Jessy zuckte die Achseln, schwieg aber.

Das Wasser bekam wirklich ein immer stärkeres Gefälle, woraus man schließen konnte, bald auf einen Wasserfall zu stoßen, und noch nicht lange waren die Mädchen gegangen, so hörten sie auch schon das Rauschen eines solchen.

Bald erreichten sie denselben.

Der kleine Bach stürzte etwa einen Meter hoch von einem Plateau herunter, und der silberklare Strahl eignete sich vortrefflich zum Füllen der Eimer. Der Weg zum Schiffe war auch nicht sehr weit, und so konnte, wenn zwanzig Mädchen unterwegs waren, wenn eins immer für volle Eimer sorgte und die übrigen die Behälter füllten, das Schiff bald wieder mit Trinkwasser für vier Wochen versehen sein. Die noch leeren Tanks versorgte der erste Regentag mit Reservewasser.

»Erst aber will ich trinken, wir müssen das Wasser doch kosten,« rief Ellen und ließ sich auf die Kniee nieder. Mit vollen Zügen schlürfte sie das erquickende Naß. Die anderen Damen folgten ihrem Beispiel.

Da ertönte plötzlich neben Ellen ein lauter Schrei, dann noch einer, Ellen blickte auf und sah schon drei Damen in der Gewalt einiger Männer, welche lautlos hinter einem Hügel vorgeschlichen waren und die trinkenden und ahnungslosen Mädchen überrascht hatten. Immer mehr Männer sprangen hinter der Hügelkette hervor, stürzten auf die Mädchen zu, und ehe diese nur die Lage erfaßt hatten, waren sie schon in der Gewalt der Unbekannten.

Ellen war die einzige, welche noch nicht ergriffen worden war; den Händen des ersten Räubers war sie ausgewichen, und als der zweite auf sie zusprang, hielt sie schon den Revolver in der Hand, ein Schuß krachte, und der verwildert aussehende Kerl fiel zu Boden.

Wohl drangen von allen Seiten Männer auf Ellen ein, um sie zu fassen, aber geschickt wich sie ihnen aus und rannte in der Richtung davon, wo das Schiff lag.

Hinter ihr her jagte der Schwarm der Verfolger, aber keiner konnte sich an Schnelligkeit mit dem leichtfüßigen, in der Prärie aufgewachsenen Mädchen messen.

»Nach dem Schiff!« war Ellens einziger Gedanke. Dort lag die Rettung für sie und auch für die anderen. Widerstand mit dem Revolver in der Hand wäre vergeblich gewesen, sie hatte die Zahl der Piraten – für solche hielt sie die Männer – auf zwanzig geschätzt, die Freundinnen konnte sie mit ihren fünf Schüssen nicht mehr befreien; so galt es also die ›Vesta‹ zu alarmieren.

Ellen ließ die Verfolger schnell hinter sich. Gebrauch von Schießwaffen machten sie nicht, obwohl sie solche besaßen; noch ein Weilchen, dann erblickte sie zwischen den Bäumen die ›Vesta‹.

Aber plötzlich blieb sie vor Schrecken stehen.

Auf dem Schiffe war es lebendig, aber nicht Vestalinnen liefen an Deck hin und her, sondern Männer, und so nahe war Ellen schon, daß sie sehen konnte, wie diese Männer ihre Freundinnen fortschleppten.

Alles schien verloren – die ›Vesta‹ war in der Gewalt der Seeräuber.

Da deutete ein Mann an Bord nach der Richtung, wo Ellen stand, sofort rannte ein Trupp auf sie zu – sie war entdeckt worden. Vor ihr die neuen Feinde, hinter ihr die Verfolger, Ellen schien verloren, noch aber gab sie die Hoffnung nicht auf. Sie rannte, den Revolver schußbereit in der Hand, seitwärts, fest entschlossen, ihr Leben bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.

In wilder Flucht jagte sie durch die Büsche, hatte aber schon die Verfolger auf ihrer Spur.

Da sah sie plötzlich sich eine Gestalt entgegenkommen.

»Miß Morgan,« jauchzte sie förmlich auf, »sind noch mehr gerettet?«

»Nein,« schrie das Mädchen, zu ihr hinspringend, »wir sind vollständig umzingelt.«

»Dort ist der Weg noch offen,« rief Ellen, faßte die Freundin an der Hand und wollte sie nach einem Engpasse zwischen den Hügeln mit sich ziehen.

»Es ist zu spät,« antwortete Miß Morgan, einen Blick auf Ellen werfend, die mit hochrotem Gesicht und sprühenden Augen sich umschaute und den Revolver in der Hand trug. »Ist Ihr Revolver noch geladen?«

»Noch mit fünf Schuß. Ziehen Sie den Ihren, wir wollen Rücken gegen Rücken die Angreifer erwarten.«

Die Verfolger waren herangekommen, auch der vom Schiff sich nahende Trupp hatte die Mädchen erreicht, aber aus dem Engpasse kamen keine Feinde. Doch es war jetzt zu spät, dorthin zu fliehen; die beiden Mädchen waren schon rings umstellt.

»Zurück!« schrie Ellen, den Revolver emporhebend und auf die Verfolger zielend.

Die ersten prallten zurück, aber nur einen Augenblick stockten sie, staunten die beiden sich verteidigenden Mädchen mehr an, als daß sie sich vor den Revolvern fürchteten, dann aber brachen sie in ein lautes Gelächter aus.

Miß Morgan hatte sich mit dem Rücken gegen Ellen gestellt, kaum aber hob diese den Revolver und rief die drohende Mahnung, so schleuderte das Mädchen die Waffe blitzschnell weg, drehte sich um und umschlang Ellen von hinten mit beiden Armen, deren Revolver herunterdrückend.

Ellen dachte nicht mehr an Gegenwehr, sie kannte die Hände, welche fest verschlungen über ihrer Brust lagen, es waren die ihrer Freundin.

»Da habt ihr sie,« schlug Miß Morgans Stimme triumphierend an ihr Ohr.

»Verraten!« stöhnte Ellen laut auf, dann ließ sie sich von den hohnlachenden Piraten ergreifen.

Miß Morgan hatte ihre Verräterrolle gut gespielt.


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