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In der kleinen Werkstatt für Damenkonfektion der Frau Werner arbeiteten fünf Mädchen, und eines davon war erst seit etwa vierzehn Tagen neu angenommen worden, eine junge Person, fast ebenso kränklich aussehend, wie alle jene Mädchen, die sich ihr Brot mühsam mit Nähen in dumpfer Stube verdienen müssen, aber braun im Gesicht und an den Händen, denen man es ansah, daß sie einst schwere Arbeit hatten tun müssen.
Martha Erdmann hatte sie sich genannt, eine in Amerika geborene Deutsche, die ihre Verwandten hatte besuchen wollen, weil sie drüben niemanden mehr besaß, der ihr in Liebe begegnete, aber auch in Deutschland die Verwandten nicht mehr am Leben fand.
Frau Werner war nicht nur eine Schneiderin, welche ihre Kunden, nur aus guten Kreisen, stets zur völligen Zufriedenheit bediente, sondern sie verstand auch, die sie besuchenden Damen durch ihre Unterhaltung zu fesseln. Während sie Maß nahm und anprobierte, wußte sie die sämtlichen Neuigkeiten der Stadt zu erzählen, und da dieselbe ziemlich groß war, so war die Skandalchronik mannigfaltig und pikant genug, um die Kunden zu fesseln, ja sogar, sie eigens nach der Werkstatt zu führen, nur um die Fortsetzung der interessanten Plaudereien zu vernehmen.
Auf eine Annonce von Frau Werner hin hatten sich wohl fünfzig junge Mädchen gemeldet, um bei ihr zu arbeiten, und da sie gern nach dem Aeußeren ging, so besah sie sich erst alle gründlich, ehe sie eine Wahl traf. Sofort fiel ihr ein Mädchen durch ihr fremdartiges, zurückhaltendes Wesen auf, und zu ihrem Erstaunen mußte sie bei ihrer ersten Frage hören, daß diese Person gar nicht ordentlich Deutsch sprach – es war eine Amerikanerin, wenn auch von deutschen Eltern abstammend.
Das war ja herrlich, eine Amerikanerin! Frau Werner engagierte sie sofort, vorläufig drei Tage auf Probe, sagte sie wenigstens, aber in ihrem Herzen war schon beschlossen, daß diese Amerikanerin für immer bei ihr arbeiten sollte. Die zweite Frage war nämlich gewesen, ob Martha Erdmann jene Damen kenne, welche auf einem Schiffe um die Welt führen, und auf die Antwort, sie kenne einige derselben persönlich, ward sie engagiert, und wenn sie auch keinen Stich hätte nähen können.
Dazu kam noch, daß die neue Schneiderin sofort auf den Vorschlag einging, bei Frau Werner zu wohnen, und somit einen längstgehegten Wunsch derselben erfüllte. Bis jetzt war es der Frau Werner nämlich noch niemals gelungen, ihr leerstehendes Zimmer an eine bei ihr arbeitende Schneiderin zu vermieten, weil sie als eine gar strenge, gottesfürchtige Person verschrieen war, die scharf auf Hausordnung hielt, und eine Fremde wollte sie auch nicht bei sich wohnen haben.
Martha Erdmann war also als Schneiderin und Mieterin zugleich bei Frau Werner angenommen.
Schon am ersten Tage zeigte sich, daß die neue Schneiderin nicht eben sehr gewandt im Anfertigen von Damenkleidern war, wenn sie auch die Nadel schnell genug zu handhaben wußte. Sie machte die Stiche zu groß und wußte vom Zuschneiden soviel wie nichts, wodurch sie auf den Gesichtern ihrer Mitarbeiterinnen manches spöttische Lächeln hervorrief.
Doch das machte nichts. Frau Werner war mit ihr zufrieden, denn sie konnte in ihrem gebrochenen Deutsch viel von den Vestalinnen erzählen, welche sie in New-York kennen gelernt und deren Ruderübungen sie beigewohnt hatte, ja, sie war sogar bei einer von ihnen in Dienst gewesen, wie ein Zeugnis bewies.
Schade war nur, daß Martha sehr traurig und niedergeschlagen und sehr schwer zum Erzählen zu bringen war. Jede Antwort mußte aus ihr erst herausgezogen werden, und es schien fast, als ob sie nur ungern den Zeitungsberichten über die Vestalinnen – Frau Werner war eine eifrige Zeitungsleserin – nähere Erklärungen hinzufügte. Erheitert wurde sie jedenfalls dadurch nicht, sondern im Gegenteil immer trauriger.
Doch mit dem, was aus ihr herauszubringen, war Frau Werner auch schon zufrieden, es wurde noch etwas ausgeschmückt und dann den Kunden aufgetischt, und wenn die vornehmen Damen verwundert fragten, woher sie so genau über die Vestalinnen und deren Schiff orientiert sei, so deutete Frau Werner auf ihre neue Schneiderin, erklärte, sie sei eine Amerikanerin und kenne jene Damen ganz genau, ja, mit einigen sei sie sogar befreundet.
Die gute Frau merkte nicht, wie unangenehm dies alles dem jungen Mädchen war, warum sollte dies denn auch ein Thema sein, welchem es gern aus dem Wege ging?
Nebenbei drehte sich die Debatte auch unter den Schneiderinnen selbst noch um einen anderen Gegenstand, und als man für längere Zeit nichts mehr über die ›Vesta‹ erfuhr, weil das Schiff nach Amerika zurücksegeln wollte und nun unterwegs war, nahm dieser zweite, ebenso interessante Gegenstand die Zeit und Aufmerksamkeit aller in Anspruch.
Es handelte sich um den neuen Freiherrn Johannes von Schwarzburg.
Martha war ein solides Mädchen, sie ging zur unaussprechlichen Freude der Frau Werner nie aus, und so kam es, daß sie mit der ohne Familie dastehenden Frau in intimeren Umgang trat und von ihr mit allem vertraut gemacht wurde, was ihr am Herzen lag.
Dazu gehörte ihre Meinung über die neuesten sensationellen Zeitungsberichte, die frühmorgens, noch vor Beginn der Arbeitszeit, mit Martha erläutert und über welche dann am Tage die Schneiderinnen um ihre Meinung befragt wurden, und daher kam es, daß Frau Werner ihre Kundinnen über alles so genau informieren konnte.
Für dieses zweite Thema empfand Martha mehr Interesse als für das erstere, sie selbst stellte oft neugierige Fragen, aber sie wurde noch trauriger als früher, ohne daß sich die scharfsinnige Frau Werner die Ursache hierzu erklären konnte.
»Der neue Freiherr von Schwarzburg hat beschlossen, diesen Winter auf seinem Schlosse zu verbringen,« las Frau Werner beim Kaffeetrinken ihrem neuen Schützling vor. »Die inneren Räumlichkeiten werden vollständig renoviert. Es steht zu erwarten, daß sich in Schloß Schwarzburg bald die höchsten Kreise versammeln werden, Johannes ist bereits allgemein beliebt geworden. Der auf dem Meere aufgewachsene Baron versteht es, die Herzen für sich einzunehmen, es geht ein urnatürlicher Hauch von ihm aus, wie man ihn so liebt und doch so selten findet. Gestern wohnte er den Festlichkeiten im Schlosse Hohenfels bei.«
»Ja, ja,« fügte Frau Werner mit einem Blick auf die stumm dasitzende Martha bei, »der junge Mann hat Glück gehabt, und ich kann es ihm gar nicht verdenken, wenn er nun mit vollen Zügen sein Leben genießt. Als Matrose wird er wohl auch keine schöne Zeit gehabt haben, das ist ein saures Brot. Meinst du nicht, liebes Kind?«
»Ich weiß nicht,« sagte Martha leise. »Haben Sie den Freiherrn schon einmal gesehen?«
»Ei gewiß, schon öfters. Er fährt ja oft genug durch die Straßen.«
»Wie sieht er denn aus?«
»Er ist ein hübscher, schlanker Mensch mit einem kleinen Schnurrbart und blauen Augen. Aber du solltest doch einmal ausgehen und ihn dir selbst ansehen, auch hängt in jedem Bildergeschäft seine Photographie. So etwas muß ein gebildeter Mensch wissen.«
»Sieht er gesund aus?« fragte Martha weiter.
»Gesund wie ein Fisch,« entgegnete Frau Werner. »Der arme Junge ist nur zu sehr von seinem früheren Berufe verbrannt, und so eine braune Hautfarbe sieht gar nicht fein aus. Mancher wird seine Nase darüber rümpfen.«
»Ist er immer recht fröhlich?«
»O ja, vorgestern sah ich ihn in einer Equipage fahren, und neben ihm saß Gräfin Haugwitz. Er erzählte ihr etwas, und das muß etwas sehr Lustiges gewesen sein, denn trotzdem Gräfin Haugwitz sonst eine sehr distinguierte Dame ist, lachte sie doch laut auf, und das mitten auf der Straße.«
»Und was tat der Baron?«
»O, der lachte auch mit, der lacht überhaupt immer, und seine Augen strahlten vor Freude. Man munkelt ja, er soll der Tochter der Gräfin Haugwitz sehr den Hof machen. Das ist aber auch ein reizendes Mädchen, kaum fünfzehn Jahre alt, aber schon die richtige Dame, so klug kann sie sprechen.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Gewiß, die Erzieherin der jungen Gräfin ließ bei mir arbeiten, kurz, ehe du kamst, und sie erzählte es mir. Die junge Gräfin soll schon eine vollkommene Weltdame sein, so schlau und listig, wie nur irgend eine.«
»Ach, nein, ich meine, ob er ihr wirklich den Hof machen soll?«
»Das habe ich als ganz bestimmt von dem Bruder meines Schwagers gehört, der Kammerdiener bei der Haugwitz ist. Der Baron soll den ganzen Abend nur immer mit ihr getanzt haben. Aber wie siehst du wieder bleich aus, Martha,« unterbrach sich Frau Werner schnell, »du darfst frühmorgens keinen Kaffee mehr trinken, der macht bleich, lieber Schokolade. Fühlst du dich krank?«
»Nein, mir ist ganz wohl,« entgegnete Martha, stand auf und räumte das Frühstücksgeschirr vom Tisch.
Die anderen Nähmädchen kamen, die Arbeitszeit begann und mit ihr wieder die Unterhaltung. Es war ja nicht zu verlangen, daß die jungen Mädchen bei ihrer mechanischen Arbeit sich still verhielten, und hätten sie nicht von selbst angefangen, so wären sie von Frau Werner dazu aufgefordert worden.
»Wissen Sie schon, daß der neue Freiherr wieder auf dem Meere fahren will?« begann eines Morgens ein Mädchen die Unterhaltung.
»Nicht möglich,« erklang es, wie aus einem Munde.
»Doch, ich habe es von einer ganz sicheren Person erfahren,« behauptete die Sprecherin. »Freiherr von Schwarzburg hat in Hamburg ein großes Schiff mit drei Masten gekauft und die Matrosen gleich mit dazu.«
»Ist er in Hamburg gewesen?« warf Martha dazwischen.
»Nein, aber er soll früher auf demselben Schiffe gefahren sein, und jetzt ist es in Hamburg angekommen.«
»Wissen Sie, wie das Schiff getakelt ist?« fragte Martha.
»Wie es was ist?«
»Ich meine, ob das Schiff ein Vollschiff, eine Bark, Brigg, Schoner oder Brigantine ist. Oder es ist doch nicht etwa eine Bark, die am Großmast eine einfache Bramstange und hinten eine Gaffel führt?«
Verwundert schauten die Mädchen auf die ins Feuer geratene Kameradin.
»Ei,« rief Frau Werner erstaunt, »du weißt ja gerade wie ein Kapitän von den Schiffen zu sprechen! Wo hast du denn das gelernt?«
Martha wurde etwas verlegen, ihr blasses Gesicht wurde purpurrot, und sie beugte sich tief auf ihre Arbeit.
»Bei uns in Amerika lernt jedes Kind in der Schule Schiffsbau,« sagte sie dann.
»Das ist ja merkwürdig,« riefen die Mädchen.
»So genau kann ich Ihnen das nicht sagen,« beantwortete die erste Sprecherin die Frage Marthas, »ich habe den Namen wohl gehört, ihn aber vergessen.«
»Heißt er vielleicht ›Kalliope‹?«
»Ja!« rief das Mädchen erstaunt. »Woher kennen Sie dieses Schiff denn?«
»In amerikanischen Zeitungen wurde einmal von Hannes Vogel gesprochen, weil er doch, wie Sie wissen, mit auf dem ›Amor‹ fuhr,« erklärte Martha, »und dort hieß es, er sei lange Zeit auf der ›Kalliope‹ gewesen.«
»Der Freiherr hat angeordnet, daß das Schiff neue Masten bekommt und neue Segel, und hat deswegen schon einen Schiffsbaumeister kommen lassen, um mit ihm darüber zu sprechen.«
Unter solchen Gesprächen verging nicht nur dieser Tag, sondern einer nach dem anderen. Von der ›Vesta‹ erfuhr man nichts mehr, ebensowenig von dem ›Amor‹, denn beide Schiffe waren unterwegs, also außer Bereich der Zeitungsreporter. Desto mehr erfuhr man aber von dem Freiherrn: es hieß, er ginge wirklich mit der Absicht um, ein eigenes Schiff auszurüsten und auf diesem als Kapitän wieder zur See zu fahren.
Frau Werner schüttelte immer bedenklicher den Kopf, wenn sie ihren Schützling verstohlen von der Seite betrachtete. Das Mädchen war krank, man sah es ihm an, und die Krankheit wurde immer schlimmer. Doch behauptete es stets, es sei gesund, aber Frau Werner kam schließlich zu der Ueberzeugung, daß Martha von einem Seelenleiden geplagt werden müßte.
Sie hatte schon manchmal ganz deutlich gehört, wenn sie des Abends lauschend vor der Thür von Marthas Schlafzimmer stand, wie drinnen leise geweint wurde, und wenn sie dann das junge Mädchen blaß, mit rotgeweinten Augen und eingefallenen Wangen am Kaffeetisch sitzen sah, bat Frau Werner es oft mütterlich, doch immer vergebens, ihr das Herz auszuschütten. Martha behauptete, den rotgeweinten Augen zum Trotz, von keinem Schmerze, weder physischen, noch seelischen, zu wissen, und versuchte sogar, zu lächeln, was ihr aber nie recht gelang.
Sie wurde immer trauriger und verschlossener, und an dem Gespräch in der Werkstatt beteiligte sie sich immer weniger, obgleich sie demselben volle Aufmerksamkeit schenkte, aber nur, wenn es sich um den Freiherrn von Schwarzburg und dessen in Aussicht stehende Unternehmung handelte.
»Man sagt, auf dem Schiffe sollen auch Damen mitfahren,« meinte eines Tages ein junges Mädchen, »es werden alle Vorbereitungen dazu getroffen, daß solche beherbergt werden.«
»Wer sollte das wohl sein?«
»Auch ich habe davon gehört,« erklärte Frau Werner, »der Freiherr soll von einigen Damen mit Bitten bestürmt worden sein, mit ihnen eine Seereise zu unternehmen. Es soll also eine zweite ›Vesta‹ werden.«
»Die Damen wollen auch als Matrosen arbeiten?« fragte ein Mädchen zweifelnd.
»Nein, dazu eignen sich unsere deutschen Damen wohl nicht,« lächelte Frau Werner. »Zu so etwas sind nur Amerikanerinnen fähig. Aber immerhin, sie wollen doch auf einem Segelschiff Reisen unternehmen, und der Freiherr will das Schiff kommandieren.«
»Wie wird dasselbe wohl heißen?«
»Auch das habe ich schon erfahren, der Freiherr sprach neulich davon, als meines Schwagers Bruder im Salon war, daß er es ›Hoffnung‹ taufen werde.«
»Hoffnung!« schrie da plötzlich Martha mit glühenden Wangen auf.
»Nun ja, was ist denn da weiter dabei?« sagte Frau Werner verwundert. »Der Name ist wahrscheinlich mit Recht erwählt worden. Es steht zu erwarten, daß die junge Gräfin von Haugwitz ebenfalls mitfährt, und da ist wohl Hoffnung dazu vorhanden, daß aus der Fahrt gleich eine Hochzeitsreise werde.«
»Ach, das muß reizend sein, so in der Welt herumfahren zu können!« seufzte eine bleichsüchtige Schneiderin und schob eine duftige Bluse unter die Maschine.
»Und noch dazu als Freiherrin,« fügte eine andere hinzu.
Eines Sonntags wurde Martha von Frau Werner aufgefordert, mit ihr ins Freie zu gehen; es war das erste Mal, daß Martha am Tage das Haus verließ, sonst hatte sie ihre Besorgungen nur des Abends in Begleitung der geschäftigen Frau Werner gemacht und die Einladung Sonntags ausgeschlagen.
Doch heute war der prachtvolle Wintertag zu einladend, und die gutmütige Frau Werner ließ mit Bitten nicht eher nach, als bis das junge Mädchen einwilligte, sie zu begleiten.
Deren Haus lag mitten in der Stadt, und ehe sie ins Freie gelangten, hatten sie menschenbelebte Straßen zu durchwandern.
Martha hüllte sich dicht in ihren warmen Mantel ein und versteckte den Kopf in die Kapuze, so daß ihr Gesicht gar nicht zu sehen war, aber sie achtete auch nicht auf das fröhliche Treiben in den Straßen, stumm schritt sie am Arm ihrer Begleiterin daher, den Blick zu Boden gesenkt.
Vergebens suchte Frau Werner sie auf die wenigen, auch am Sonntag geöffneten Schaufenster aufmerksam zu machen, ihr einige bekannte Personen zu zeigen, meist vornehme Damen, für welche sie arbeitete oder gearbeitet hatte. Martha zeigte keine große Teilnahme.
Da kam eine Equipage hinter ihnen hergerollt.
Frau Werner drehte den Kopf und hatte kaum einen Blick auf das prächtige Zweigespann geworfen, auf den elegant livrierten Diener, der die feurigen Rosse zügelte, als sie rief:
»Da kommt er, der Freiherr von Schwarzburg! Nun hebe aber einmal dein Köpfchen und betrachte ihn, Martha!«
Wie gebannt blieb das junge Mädchen stehen, hob die Kapuze etwas und wandte sich der Straße zu, ihr Gesicht offen zeigend.
In der Equipage saßen der Freiherr, ein Offizier und eine junge Dame. Ersterer sprach eifrig zur letzteren, und die Dame mußte die Unterhaltung sehr anziehend finden, denn sie bog sich weit vor, um kein Wort des Sprechers zu verlieren.
»Das ist Gräfin Haugwitz, und der Offizier ist ihr Bruder,« erklärte Frau Werner.
Jetzt wandte der Freiherr den Kopf und neigte sich der Dame zu, um sie bei dem Wagengerassel verstehen zu können. Dabei fiel sein Blick auf das Trottoir, er streifte die beiden weiblichen Gestalten, welche regungslos dastanden, und plötzlich sprang der Freiherr mit einem Freudenausruf auf und wollte Miene machen, den Schlag zu öffnen, wandte sich dann aber nach dem Kutscher um und rief diesem etwas zu.
»Was hast du, Martha?« fragte Frau Werner verwundert das junge Mädchen, das sie am Arme faßte und gewaltsam in eine Nebenstraße zog.
»Fort,« flüsterte diese mit bebender Stimme. »Ich bekomme einen Schwindelanfall, ich muß mich setzen.«
Erschrocken faßte Frau Werner die schon halb Bewußtlose unter den Arm und führte sie oder schleppte sie vielmehr nach einem Café, in welchem sich Martha langsam von dem Anfall erholte.
»Du kommst zu wenig in die frische Luft,« sagte die besorgte Frau Werner. »Du mußt von nun ab mehr spazieren gehen.«
Aber Martha schüttelte den Kopf und verließ seitdem das Haus gar nicht mehr. Doch ihr Gesundheitszustand ward immer schlimmer, ihre Wangen immer bleicher und magerer, und das Mädchen, welches vor vier Wochen noch als eine recht stattliche, wenn auch immer schlanke Person zu Frau Werner gekommen war, glich jetzt nur noch einem Schatten.
Frau Werner ließ einen Arzt holen, aber Martha weigerte sich, sich untersuchen zu lassen. Sie erklärte ganz entschieden, gesund zu sein. Aber die gute Frau wußte es besser. Sie sah das Mädchen, welches sie liebgewonnen hatte, mit schnellen Schritten dem Tode zueilen.
Eines Tages trat eine Dame in die Werkstatt, welche noch nie hier gewesen war, und begehrte Frau Werner zu sprechen. Nachdem sie den Wunsch ausgesprochen hatte, sich ein Kleid machen zu lassen, wurde sie in ein Nebenzimmer geführt und zugleich Martha herbeigerufen, weil diese der Frau während des Maßnehmens Handreichungen leisten mußte.
»Das junge Mädchen ist keine Deutsche?« fragte die Dame, als Martha einmal auf einen Augenblick hinausgeschickt wurde, um etwas zu holen.
»Nein, sie ist eine Amerikanerin,« erklärte Frau Werner und begann das Schicksal ihres Zöglings zu erzählen, obgleich Martha wieder ins Zimmer getreten war.
»Martha Erdmann?« sagte die Dame sinnend. »Wie ist mir denn, war das nicht eine Deutsche, welche mit ihren Eltern vor etwa zehn Jahren nach Amerika auswanderte? Sie sind doch nicht etwa das junge Mädchen?«
Sie blickte dabei die bleiche Näherin fest an und sah, wie das blasse Gesicht plötzlich wie eine Purpurrose zu glühen begann.
»Nein,« stammelte sie, »ich bin in Amerika geboren.«
»Es kann auch gar nicht sein,« fuhr die Dame kopfschüttelnd fort, »denn soviel ich weiß, ist jene Martha Erdmann drüben gestorben, als sie bei einer gewissen Familie Staunton in Dienst stand.«
Die Dame beeilte sich, das Anprobezimmer verlassen zu können, und verabschiedete sich von Frau Werner, ohne die immer noch furchtbar verlegene Martha, die an allen Gliedern zitterte, zu beachten.
Kaum war sie hinaus, als Martha plötzlich der alten Dame zu Füßen stürzte und in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach, ihr Gesicht in die Schürze der Erschrockenen verbergend.
»Aber was hast du denn?« rief Frau Werner bestürzt und suchte die Knieende aufzurichten.
»Lassen Sie mich fort!« schluchzte das Mädchen. »Jetzt gleich, ich kann nicht mehr bleiben! Ich werde verfolgt; ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen!«
»Um Gottes willen,« rief Frau Werner und trat entsetzt einen Schritt zurück. Ein fürchterlicher Gedanke stieg plötzlich in ihr auf, sie glaubte es mit einer Verbrecherin zu thun zu haben.
Da tönte draußen ein hastiger Männerschritt, die Tür ward aufgerissen, und ein Herr stürzte in das Zimmer herein.
Martha hatte sich mit entgeisterten Augen aufgerichtet, und kaum hatte sie den Mann erblickt, so flüchtete sie sich, wie von einer entsetzlichen Angst erfaßt, durch die Tür, welche in die Werkstatt führte, aber der Herr eilte ihr nach, und als das aufschreiende Mädchen auch die Werkstatt mit flüchtigem Fuße verließ und den Weg nach ihrem Zimmer nahm, ließ der Herr trotzdem mit seiner Verfolgung nicht nach.
Oben ward eine Tür zugeschlagen, dann war alles wieder still.
Sprachlos vor Staunen schauten Frau Werner und die fünf Näherinnen sich gegenseitig an.
»Freiherr von Schwarzburg,« rief eine andere. »Was will er von Martha? Kennt er sie? Wo ist sie?«
Mit großen Schritten eilte Frau Werner die Treppe hinauf nach dem Schlafzimmer Marthas, hinter ihr her die neugierigen Mädchen, welche um keinen Preis der Welt zurückgeblieben wären.
Es war schon eine geraume Zeit vergangen, ehe sie sich zu dieser Handlung aufraffen konnten. Lauschend blieben sie an der Tür stehen. Sie hörten drinnen ein leises Schluchzen, ein noch leiseres Flüstern, eine vorwurfsvolle Frage und eine weinerliche Entgegnung. Dann lachte die helle Männerstimme fröhlich auf, und plötzlich sang dieselbe Stimme in jubelndem Tone:
»Gern gäb' ich Glanz und Reichtum hin
Für dich, für deine Liebe!«