Karl Kraus
Grimassen - Aufsätze 1902-1914
Karl Kraus

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Mein Gutachten

Ein Gedicht ist aufgefunden worden, man schreibt darüber, man glaubt, es sei von Heine, aber man traut sich nicht recht, es könnte auch von einem Nachahmer sein, man zweifelt, und so. Es enthält die folgenden Strophen:

Eine Jungfrau war einst die Erde,
Eine blonde, brünette Maid;
Der hatte ein blonder Jüngling,
Der Mond, seine Liebe geweiht.

Sie liebten sich beide herzinnig
Und hätten so gern sich vereint;
Der Vater aber, der strenge,
War ihrer Liebe gar feind,


Drum drehet sich um die Erde
Der Mond als ihr treuer Trabant;
In stiller Trauer die Blicke
Zur fernen Geliebten gewandt.

Er umschwebt sie auf all' ihren Pfaden,
Wohin sie auch wandeln mag,
Und schaut in schmerzlicher Sehnsucht
Mit bleichem Antlitz ihr nach.


Er sendet Liebesboten
Allnächtlich zu ihr hin;
Das sind die Strahlen, die heimlich
Durchs Dunkel der Bäume ziehn.

Die nächtlich duftenden Blumen
Betrauern der Herrin Geschick,
Und senden dem Freund ihre Antwort
In süßen Düften zurück.

Auf ihrem Wellenbusen,
Zum Zeichen ihrer Treu,
An einer Sternenkette,
Trägt sie sein Konterfey.


Ich als Sachverständiger erkläre mit aller Bestimmtheit, daß gar kein Zweifel bestehen kann, sondern daß dieses Gedicht entweder von Heine oder von einem Nachahmer ist. Also jedenfalls von Heine, indem es wahrscheinlich von diesem und sicher von einem Nachahmer ist. Auf unklare Annahmen wie: Dieses Gedicht ist von Heine, oder: Dieses Gedicht kann nur von einem Nachahmer sein, lasse ich mich nicht ein. Es ist von Heine.


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