Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Prominente Pupperln

Damit glaube ich, ist mir die Paarung des Fürchterlichsten geglückt, was die Vorstellung eines Höllenbordells schon auf Erden verwirklicht, ein Schulter an Schulter der Nachkriegswelt, das alle Schrecken von damals begrifflich und terminologisch überbietet. Hatte die Möglichkeit der Bezeichnung »Göttergatte« oder von Ansprachen wie »Küss' die Hände!« und »Noch nicht auf die Länder?« die Unvermeidlichkeit des Kriegsausbruches dargetan; war in der Pestluft der Glorie solche Unzucht einer librettoverseuchten Zentralmenschheit zur Orgie aufgeschwollen, so läßt doch das seit dem Umsturz Gehörte und Geschaute in jenen Erscheinungen ein verlorenes Paradies zurückträumen. Pupperl! Gewiß, das war vor dem Krieg ein Feinschmeckerwort, das einem den Magen umdrehen mochte. Jetzt ist es ein Titel, der Rechtens der Begleiterin des »Herrn Doktors« zukommt. Ich hörte einen Friseur nach getanem Werk die Glätte einer Wange rühmen und als höchsten Ausdruck des Gelingens die Worte sprechen: »Da wird das Pupperl eine Freud' haben!« Die Erde tat sich nicht auf, um Mann und Klinge, Doktor und Pupperl zu verschlingen. Es gibt bekanntlich eine eigene Pupperlzeitung in Wien, die in ihrer Blütezeit die Pupperlinteressen sogar durch Bedrohung der Pupperlinhaber zu vertreten wußte, wobei freilich der Löwenanteil des Erfolges ihr selbst zufiel. Aber noch heute ist sie mit der Sphäre so vertraut, daß sie den Bericht über ein Praterabenteuer folgendermaßen einleiten kann:

Der bulgarische Arzt Dr. ...

den sie natürlich mit vollem Namen nennt

ging an einem Sommerabend mit einem Pupperl in den Praterauen spazieren ...

Nicht etwa in geringschätzigen Anführungszeichen, sondern als Berufsbezeichnung. Diese Selbstverständlichkeit ist nur bei uns möglich, und im Ausland hätte man die größten Schwierigkeiten, dergleichen zu verstehen. Aber ein Pupperl, das spazieren geht, ist auch hier etwas Seltenes. Zumeist wird es an ein Motorrad angehängt. Das Motorrad tönt und riecht wie die Zeit, aber der Unhold, in den sein Herr verkleidet ist, der sieht so aus wie die Zeit. Und nun bedenke man, daß der Nebensitz offiziell – in fachlichen Beschreibungen – »Pupperlsitz« genannt wird und in jenem Volksmund, der nach dem Humor des ›Götz‹ gewachsen ist, »Pupperlhutschen«. Man stelle sich das Seelenleben der Frau vor, die, sich munter nach dem Spalier der Betrachter umguckend, darauf Platz nimmt, in dem Bewußtsein, daß sie von allen als das zugehörige Pupperl agnosziert wird, welches demgemäß auf der Pupperlhutschen mittut. Die Bundesbrüder, mehr dem homosexuellen Ernst des Lebens zugeneigt, sprechen schlicht von einem »Soziussitz«. Den Begriff des Pupperls kennen sie nicht – Puppchen, das ist nicht das Richtige, und Puppal zu sagen macht ihnen denn doch Schwierigkeit. Aber was dafür das »Prominente« betrifft, da kennen sie sich aus, da wissen sie Bescheid. Das dürfte überhaupt von ihnen zu uns gekommen sein. Wie ist nun die Affenschande dieser Benennung zu erklären? Natürlich hat es das immer schon gegeben, es ist ein gutes Fremdwort, das, solange es Seltenheitswert hatte und nur der Person verliehen wurde, der es zukam, durchaus nicht widerwärtig klang. Aber es wurde eigentlich nie gebraucht, denn man begnügte sich, jemand verdientermaßen »hervorragend« zu nennen. Nach der Befreiung der Sklaven war wie auf einen Zauberschlag das Wort »prominent« da, nunmehr allem verliehen, was vordem keineswegs hervorgeragt hätte. Das ist sicherlich so zu erklären, daß in der Seele des Deutschen ein tiefes und nun obdachloses Kaiserbedürfnis wohnt, das nun Superioritäten herstellen mußte. Unter dem Szepter scharten sie sich zu Vereinen, in der Freiheit legen sie auf Unterscheidung Wert. Der einzige Prominente, der nebst der natürlichen Überlegenheit des militärischen Würdenträgers auch ehedem schon in Erscheinung trat, war der »Ober«, auch der »Herr Ober« genannt. »Die Prominenten« – das grausliche Substantiv bezeichnet keine Eigenschaft mehr, sondern eine Kategorie, eine Steuergruppe –: sie haben dem Deutschen nach den Wirren des Umsturzes den Glauben an Ideale gerettet. Die Prominenten, das sind die Obertanen. Eine allgemeine Verkaiserung setzte ein, es wurde auf Teilung gespielt und natürlich begann es bei den Schauspielern. Da sie nun zwar wie kein anderer organisierter Stand das Bedürfnis nach sozialer Absonderung von ihresgleichen fühlen, aber doch gerade sie es nicht wagen können, sich selbst »hervorragend« zu nennen, so nannten sie sich eben »prominent« oder vielmehr: »die Prominenten«. Die Einführung dieses Begriffes in das Metier führte dahin, daß Theaterparias heute für drei Mark täglich mit Zulage von Insulten roboten müssen, damit »die Prominenten« zwischen 300 und 3000 Mark verdienen können, und zwar zumeist solche, die Zufall, Konjunktur oder Willkür der journalistischen Selbstherrscher (der Prominenten der Kritik) aus der Fülle der Untalente emporgehoben hat. So sicher nun Demokratien, in denen solche Dinge möglich sind, wenn sie nur nicht Kriege führen, den Vorzug vor Monarchien verdienen, so gewiß kann man sich des Wunsches nicht erwehren, daß sie gleichfalls der Teufel hole. Und was das Gehaben der Prominenten betrifft, die sich nunmehr schon in jedem Beruf entwickelt haben, einfach durch Selbsternennung da sind und durch Frechheit sich erhalten, so läßt sich nur Nestroy zitieren, der prophezeit hat, daß die Gleichheit »noch bittrer den Abstand zwischen arm und reich« machen werde:

Mit zehn Fürsten und Grafen red't man leichter ganz g'wiß,
Als mit ei'm Flecksieder, der Millionär worden is.

Denn

Es sitzt keiner in ein' Wirtshaus, der nicht in sein' Hirn
Sich denkt, wie das schön wär', wenn er rät regier'n.

»Schaut man d' Gleichheit so an, sagt man« (mit Nestroy): »nein, da hört s' auf, ein Vergnügen zu sein.« Und doch gab es nach 1848 beiweitem nicht so viel Prominente wie nach 1918. Das Ekelwort wuchert hauptsächlich in den Spalten der Presse, die wenn's finster wird erscheint, und dementsprechend im Maule der Neureichen. Es wird wirklich im Umgang verwendet. Komödianten, Filmfritzen, Kabarettfatzken, Boxer, Fußballer, Parlamentarier, Eintänzer, Damenfriseure, Literarhistoriker, Persönlichkeiten schlechtweg – alle können prominent sein. Aber neulich hat man etwas ganz besonders Herziges gelesen. Nach dem Prozeß, in dem die größte Bubentat des Pupperlblattes als »vernachlässigte Obsorge« gesühnt wurde – und alle Erinnerung wieder da war an die Zeit, wo sie ›Vater Vater, leih' mir'n Revolver‹ gespielt haben und hinterdrein keiner etwas getan, gewußt, geahnt haben wollte –, konnte man die Verwahrung lesen:

Die Annahme des Chefredakteurs Austerlitz, es habe sich um ein förmliches Komplott gehandelt, in das sämtliche prominenten Redakteure der ›Stunde‹ verwickelt gewesen seien, muß aber als eine den Tatsachen widersprechende Mutmaßung zurückgewiesen werden.

Das dürfte wohl die äußerste Möglichkeit von Prominenz bedeuten! Aber in Berlin gibt es dafür schon prominente Gegenstände, Waren, Artikel, Realitäten. Im ›Tageblatt‹, wo es freilich alles gibt, war ein Häuserangebot inseriert unter dem Titel:

Prominente Häuser

Derlei ist heute in Berlin so selbstverständlich wie bei uns das Pupperl. Vorläufig wird dieses noch auf der Hutschen mitgenommen und entschwindet dem Blick. Oder geht anonym neben einem bulgarischen Arzt einher. Aber es kann nicht mehr lange dauern, schon macht sich eine Bewegung unter den Pupperln geltend, und bald wird man aus ihren Reihen die prominenten Pupperln hervortreten sehen.

Rechenschaftsbericht

Nun, da ich mich am Ausgang dieser dreißigjährigen Niederlage im Kampf gegen die Alliierten der Zeit durchschlagen muß durch alle Feuer und so viel Dreck, gehöhnt von den Spottgeburten, die darin bestehen, von dem nachwachsenden Fluch der Wirklichkeit an ihrer Gestaltung gehindert, zugleich getrieben und gelähmt, ruhelos zwischen Anlaß und Werk, gebundenster Sprache mächtig und doch ohnmächtig in den Fesseln ihres Lebens – nun, zunächst, bis ich mich der grausigen Banalität dieser Gegend entreiße, habe ich nur noch Atem zu dem Rechenschaftsbericht, der mich berechtigen wird, auch gegen den Anhang dieser trostreichen Inselwelt unerbittlich zu sein. Nicht wahr? die Atemlosigkeit ist noch zu dem langen Satze fähig, den der Verstand nicht durchhalten kann, derer, die von der Zeit sind und darum keine haben und die lieber auf den Gemeinplätzen der journalistischen Mitteilung wohnen, wo ihnen nichts widerfahren konnte als der seelische Verlust, unspürbar im Zauber der entleerten Sprache. Aber zum Dichter, welcher ihn spürt, spricht entschädigend der Traum: Im Taggekribbel achte nur der Milbe, was macht es, daß sie's selber nicht versteht; du bleibst am Leben, das im Tod vergeht, du lebst im Wort und stirbst an einer Silbe. Was macht es auch, daß ihm alle Erkenntnisse, die solchem Leben entstammen, im deutschen Sprachbereich von Geistern, die darob gefeiert sind, abgenommen wurden und daß er sehen muß, wie dafür alle zeitlichen Ehren, die ja die Milbe zu vergeben hat, ihnen zugewendet werden. Und wäre ich schon sechzig Jahre alt, ich bekäme nichts davon, denn der Ausgangspunkt meines Denkens und Bildens im sprachlichen Element war ja doch eben die Milbe, die da vor meiner Eitelkeit bescheiden wird und fragt, wie man nur so ein Ding wie sie beachten könne. Aber wäre ich so eitel, wie die Bescheidenheit glaubt, ich stürbe täglich tausend Tode an dem Gram über die förmliche und machtbeschlossene Vorenthaltung alles dessen, was mir zugehört. Ich habe nie, mit einer raffiniert verunglückten Fügung der Metaphern, mich einen »salbentrunknen Prinzen« genannt und nicht die prunkvoll verzierten Vorwände einer Algabal-Welt zum Schutz gegen die Zeit mir aufgerichtet. Ich habe mich ihr in der untersten Bekessyzone ausgesetzt und war dennoch der Andacht des Wortes ergeben, das eine Waffe war: frömmer als die im Krieg Rosenkränze aus Schrapnells machten und Altäre aus Drahtverhau, Aber daß hinter dem Fluch der Rede das Wunder der Sprache ruht und hinter den Verabredungen der Kommerzwelt die Rätsel beginnen, wissen so manche, die noch älter sind, von mir, wenngleich sie nicht dahintergekommen sind, wie die Menschheit glaubt, die vor der hieratischen Gebärde mehr Respekt hat als vor dem Heiligtum. Doch in Dingen der Poesie ist es auf die Dauer weit schwieriger einen blauen Dunst zu machen als in den Angelegenheiten des Geldverkehrs. Ich will, ohne jede Hoffnung, damit die Eitelkeitslegende zu ersticken, einräumen, daß die Resultate meines geistigen Tuns nicht allein des unmittelbaren Erfolgs der Tragbarkeit entbehren, sondern auch keine Fernwirkung haben und überhaupt keinen Wert; daß meine Gedanken krepierende Frösche waren und meine Projektion der Winzigkeit in keinen Kosmos mündet; daß meine sprachliche Denkform eine Schrulle ist, mein Witz bloß der Rückstand einer schlecht vertriebenen Zeit, mein Gehirn eine Einrichtung, deren Konsequenz nur ihr selbst vorbildlich und darum in allen Nachbildungen abscheulich. Das mag sein und meine Leistung zu werten überlasse ich getrost dem Irrgelichter einer Kunstrichterschaft, bei der ich immerhin den Erfolg habe, daß die bloße Nennung meines Namens ihr kalten Schweiß verursacht. Die Ehren und Preise des Kulturmarkts gönne ich, eitel wie ich bin, dem letzten Verfertiger, dem die Kunst ein Genre der sozialen Konjunktur ist und der vor mir nebst der größeren Beliebtheit das größere Thema voraus hat. Solange das meine bloß in dem unermüdlich abgewandelten Erlebnis besteht, daß Analphabeten, die in keinem Berufskreis außerhalb der Presse sich ausleben könnten, daß Hohlköpfe, deren Wort in keinem Privatzirkel geduldige Ohren fände, die geistige Geltung im deutschen Kulturkreise bestimmen – so lange bescheide ich mich als der mißachtete Outsider sprachlicher Betätigung, der dort seine Passion hat, wo andere ihr Geschäft haben. So lange sei ich der lebendig Begrabene, der den Zunft- und Zeitgenossen bloß nicht den Gefallen tun will, tot zu sein, spottend der Ohnmacht aller Mächte, deren Wut der einzige Ausdruck ihrer Schätzung bleibt, nur von der Einsicht gezügelt, daß sie ja auch durch Totschlagen nicht erreichen könnten, was ihnen durch Totschweigen mißlungen ist. Bloß eines wollen wir nicht protestlos hinnehmen: Leichenraub am Lebendigen! Also daß die Journalisten und ihre akademischen Kumpane, die Professoren der deutschen Literaturgeschichte, den Begriff von Sprachkunst, den ich zugleich betätigt und davon zum faßbaren Theorem abgezogen habe, als ihre Erkenntnis verwendend, ihn eben dort erfüllt finden, wo der Schätzmeister sprachlicher Werte nichts als das Ornament gewahrt, mit dem eine Papierhülse vom innern Mangel abzulenken weiß. Daß mein Werk unwert sei, zu bestehen, und hinfällig wie der Stoff, aus dem es stammt, lasse ich mir als Urteil derer, die diesen Stoff bilden, mit größter Gemütsruhe gefallen. Aber daß sie plötzlich meinen eigensten Bestand an Wert oder Unwert als letzte künstlerische Erfüllung erkennen und dem zuerkennen, der ihnen nicht nahegetreten ist, weil er den Zeithaß in der Zeitferne ausgelebt hat, sie und sich nicht gefährdend: das ist die Unredlichkeit, die mir diese Anbetungsorgie um den sechzigjährigen George zum Greuel macht und selbst den Respekt vor einem Dichterleben herabsetzt, das sich zeremoniös, aber in hoher Zucht vom Jahrmarkt abzusondern wußte und dessen Ertrag vor dem allzu Gegenwärtigen doch ein ethisches Plus bedeutet hat. »Daß Seelenleben sich in der Sprache verleiblicht, nicht bloß mitgeteilt wird« entdeckt ein Wiener Literaturgelehrter, »daß Sprache ein lebendiges Wesen ist, diese im Zeitalter der Esperantobestrebungen fast verlorengegangene Erkenntnis ist von Stefan George und seinem Kreise neuerrungen und fruchtbar gemacht worden«. Um dieser Aufgabe willen habe er sich von der Welt abschließen müssen, lange Jahre; während ich in derselben Zeit bloß den Untergang dieser Welt durch schwarze Magie darstellte. Und er habe erst wieder in einfacherer Sprache zu seinem Volke gesprochen, da er sicher sein konnte (der Deutschprofessor sagt »nachdem«), daß diese Sprache »nicht mehr mit der abgegriffenen des Klischees und des Marktes zu verwechseln war«. Ich könnte – mit Ausnahme einiger unantastbar schönen Verse – diese Sicherheit zerstören, indem ich imstande wäre, gerade an den repräsentativsten Gebilden der Georgeschen Lyrik zwar nicht den Einfluß des Marktes, wohl aber des Klischees aufzuzeigen. Und zu einer Zeit, da ihm und seinem Kreise nachweislich längst die Fackel zum Sprachstudium geworden war – denn diese Wortpriester wissen so gut totzuschweigen wie die Worthändler – unternahm der Professor Gundolf die Verkündung:

Daß wenigstens ein Mensch es wagt den Verlockungen und Bedrohungen dieses Heute sich zu verweigern, daß ein einziger Mensch das ihm anvertraute Gut an Sprache und Seele keusch bewahrt und mehrt für werdende und künftige Geschlechter, ungeblendet durch Schlagworte und unbestochen durch die Möglichkeit rascheren Erfolgs bei etwas mehr Entgegenkommen, daß ein unbedingter Mensch heut lebt und wirkt, ist für den deutschen Geist heilsamer als alle Fortschritte der Technik, der deutschen Seele notwendiger als alle Kulturprogramme ... Wer hat nie paktiert mit Mächten die er verachtet? ... Wer hat trotz Haß und Hohn einsame Jahre lang an sich gearbeitet und billige Erfolge stets verschmäht, sich eher für herzlos halten lassen als sein Herz hingeben wo nicht die tiefste Liebe und die innerste Pflicht es ihm gebot? Unter den sichtbaren Verwaltern des deutschen Wortes, soweit Versuchungen an sie herangetreten sind, heute nur einer: Stefan George. Nur er hat mit unbeirrbarern Instinkt gefühlt wo Sprache und Seele bedroht sind, und getan wie er gefühlt hat ...

Ist es nicht erschütternd? Aber damals schon hatte Theodor Haecker von mir gesagt, daß ich der sei, der seine Existenz für sein Werk einsetzt, und daß es doch immer noch weniger anstrengend sei, »im Verborgenen, oder unter Bienen und Blumen den Gott zu suchen, der Geist ist, als in den Straßen der Stadt zwischen Fratzen und Larven ihn nicht zu verlieren«. Also auf keinem Teppich des Lebens wandelnd und unter keinem Stern des Bundes geboren. Gewiß, die Leute um George sind zu vornehm, um zu sagen, von wem sie's haben. Aber wenn ich einmal mit dem Nachweis komme, daß sie's nicht haben, sondern daß in ein rein ästhetisches Verhältnis zur Sprache mit gutem Erkennen und unzulänglichem Gelingen etwas aus meinem erotischen Element übernommen ward; wenn ich mit der Faßbarkeit und der Wägbarkeit, die nur in geistigen Dingen erreichbar sind, er dartue als der Schätzmeister, vor dem nichts besteht als der Wert dessen, was zwischen den Worten ist, und dem mit allem Respekt vor gesellschaftlichen Abständen in der Literatur zuletzt doch die Nuance zwischen George, Rilke, Hofmannsthal und einem Librettisten verschwindet; selbst wenn ich sagen werde: sobald ihr die Basis der Sprache für die Wertung des literarischen Produzierens bezieht, so ist im letzten der zehntausend ungedruckten Briefe, die ich den Verlag der Fackel aus dem nichtigsten Anlaß des Zusammenstoßes mit Lesern, Buchhändlern, Blättern, Ämtern oder welchem Zufall immer schreiben ließ, mehr Sprachwesen enthalten als in der heiligen Schrift des Siebenten Ringes; wenn ich vollends den Spott darweise, daß in den Tagen der entdeckten »Irrenhauslyrik« von der George-Lyrik überhaupt die Rede sein kann – dann wird es die deutsche Literatur zwar nicht Wort haben wollen, aber glauben. Denn meine Ergebnisse setzen sich in dem Maß des Verschwiegenwerdens durch und so wahr es geworden ist, daß Heine kein Lyriker war, und so sicher ich durch die von mir vorbereitete Ausgabe des bleibenden Peter Altenberg diesem entzückendsten und freiesten aller Geister zur Ablösung Nietzsches verhelfen werde; so gut ich Nestroy geborgen und ein zukünftiges Reich des Theaterzaubers mit Offenbach erschlossen habe – so durchdringend wäre mein Beweis, daß vor der Wesenheit des einen Nachtigallengedichts jenes unbekannten Dichters der ganze Stefan George hinter die Dekors der Sprache verschwindet, wo er zuständig ist. Die Zeit nimmt es in dem Grade ihrer Weigerung zur Kenntnis. Nicht daß sie dazu meinen Namen nicht ausspricht, ist mein Schmerz; aber daß sie so geartet ist, ihn ohne Selbstvorwurf nicht aussprechen zu können, ist mein Schauder. Wundert man sich noch immer, daß ich, um sie darzustellen, von dem stärksten Agens sprechen muß, auf das ihr Stoff reagiert? Kann ich dafür, daß das Beispiel mir naheliegt? Wagt man noch immer, diese äußerste Bereitschaft, sich ihren Spießruten auszusetzen, Eitelkeit zu nennen? Gäb's in der Tierwelt solchen Fall von Widerpart, der die andern zwänge, so dumm oder so schlecht zu scheinen, wie sie sind, sie hätten doch wenigstens genug Spürsinn, den tragischen Humor der Antinomie zu spüren!

Jüngst hat sie sich mir zu einem Witz zugespitzt, wie ihn nur die von mir berührte Wirklichkeit hervorzubringen vermag. Da habe ich, in einer nördlichen Fremde, dort, wo die Entseelung des Lebens wenigstens den Mechanismus ermöglicht hat, der für sie entschädigt – mir erwünschter als dieser Mischmasch von Naturrest und unbrauchbarer Technik –: dort also habe ich einen Laut der Heimat vernommen, der mir zwar nicht Heimweh, aber Tränen der Heiterkeit entlockt hat. Oder vielmehr waren es zwei Heimatlaute, aus zwei Wiener Blättern. Das Neue Wiener Tagblatt hat zum erstenmal, seitdem es leibt und ich lebe, über eine Vorlesung von mir einen Bericht gebracht, so zwischen den schönsten Pelzmodellen und Deine Strümpfe kauf' bei Ittner. Und an diesem Bericht war alles wahr bis auf den Umstand, daß die Vorlesung nicht stattgefunden hat. Unter dem Titel »Skandalszenen bei einer Kraus-Vorlesung«. Ich saß nicht einmal im Auditorium; aber mit dem Skandal hatte es insofern seine Richtigkeit, als ein Sachwalter des Schuftes Kerr für diesen und gegen mich eine Kundgebung versuchte, aus dem Bedürfnis, der unabwendbaren Katastrophe des angekündigten Heftes Prävenire zu spielen und am 2. September noch erklären zu können, es sei »nicht erschienen«. Doch dem war kaum das Wort entfahren, da platzten die Kolporteure mit »Soeben erschienen!« in den Saal und was dann geschah, wird vom Berliner Regierungsblatt, der Deutschen Allgemeinen Zeitung, die sonst der Deutschen Volkspartei näher steht als mir, wie folgt beschrieben:

... die Versammlung schloß – ein verblüffendes Ergebnis – mit einem allgemeinen dreifachen Hoch auf den, gegen den sie einberufen war.

Vorher schon waren die mitwirkenden Kräfte vom Podium geblasen worden. Das Neue Wiener Tagblatt aber, das einmal, weil es einen Skandal gab, über eine Vorlesung von mir berichten wollte, mußte nun auch berichtigen und erklärte, es sei »ein telephonischer Hörfehler« gewesen. Daß er von der ganzen Provinzpresse übernommen wurde, spricht in den Tagen der Pressa deutlich für den Wert der Institution. Das Neue Wiener Tagblatt hatte aber auch die Berichtigung fehlerhaft gebracht und mußte von neuem berichtigen. Maßlos gereizt, erklärte es nunmehr: wenn ich so einer sei, werde es mich in Hinkunft einfach totschweigen! Ein anderes Wiener Blatt, eine Mittagszeitung, die ihre Verächtlichkeit letzthin durch die sensationelle Besudelung eines der wenigen hellen Menschen dieses dunkelsten Erdteils betätigt hat – mehr über seinen Fall augenblicklich zu sagen, hemmen mich außer dem Gesetz noch andere unüberwindliche Hindernisse –, dieses Blatt also brachte einen dummen Artikel über das »Theaterstück des Rundfunks«. (Auch ein Fortschritt, an dem vorbeizugelangen mir bisher geglückt ist.) Da wurde der Eindruck des an die Phantasie appellierenden »Hörspiels« mit der Wirkung des sichtbaren Vorlesers verwechselt, der ein ganzes Shakespearedrama verlebendigt. An die Stelle, wo an Ludwig Tieck erinnert wird, dessen dramatischen Vorlesungen »eine alle Bühnenmöglichkeiten übertreffende Lebendigkeit und Intensität nachgerührnt wurde« (also ganz wie zwanzig Dilettanten hinter dem Mikrophon) war wörtlich das Folgende angeschlossen:

( Aus eigener Erfahrung können wir das Gleiche von den Shakespeare-Vorlesungen unseres Karl Kraus sagen.)

Dieses Wiener Blatt gibt zum Unterschied vom Neuen Wiener Tagblatt wenigstens die reiche Erfahrung zu, die es insgeheim durch Jahrzehnte mit meinen Vorlesungen gesammelt hat, und einmal mußte es ja heraus. Und man beachte die von mir längst ersehnte Formulierung: Denn er war unser. Aber weiß Gott, ich war ihrer nicht, und ich behalte mir vor, meinen Nachruf ihnen selbst zu halten, in dem Moment, in dem sie zum erstenmal das Maul aufmachen wollen. Er wird, testamentarisch vorbereitet, lauten: Kusch!

Bis dahin habe ich von dieser Stadt nichts mehr zu erwarten als die furchtbarste aller Kränkungen: wehrlos zu sein in dem Zwang, nicht helfen zu können, erkannte Werte des Menschentums den korrumpierenden Gewalten eines Bürgertums ausgeliefert zu sehen, das dumpfer als irgendwo gegen Natur und Kunst gesinnt ist: des Bürgertums in allen sozialen und politischen Rängen. Dulden zu müssen, daß unter der frechen Fiktion einer errungenen Freiheit Hinaufgelangte den sozialistischen Geist entehren, vom Bürgergift Berauschte, vom Machtfraß Vollgefressene, ins Bureaukratische Eingespielte die heilige Parole der Volksrettung kompromittieren und gegen den, der ihr Wesen erkennt und den sie als den Todfeind der Lüge fürchten, die bürgerlichste aller Waffen aufbieten, den journalistischen Apparat der anonymen Tücke. »Weg damit!« rufe ich der reinsten Jugend zu, bevor sie es erlebt, daß der sich wegbegibt, ganz und gar, dessen Wort auch ohne Parteipatent die revolutionäre Botschaft verkündet hat. Möge sie den vorläufigen Entschluß nicht so auffassen, daß ich es heute über mich bringen könnte, eine von mir zur Empfindung der Gegenwartsübel erzogene Anhängerschaft diesen dauernd schutzlos preiszugeben. Ich habe, als ich im Frühjahr zu Offenbachscher Musik den Plan ansagte, mich aus dem Strudel fortzumachen, nicht gemeint, daß die Fackel nicht mehr hier erscheinen und ihr Autor nicht mehr zu seinen Hörern sprechen werde. Freilich wird jenes und dieses seltener geschehen müssen, weil die Notwendigkeit der Rettung eines Restes von Nervenwohl gebietet, sich in dieser Stadt nur als Besucher seiner Freunde aufzuhalten. Durch die Wiederkunft will ich meine Zugehörigkeit, meine Verpflichtung und meine Dankbarkeit beweisen, wo ich durch das Verbleiben eben daran gehindert werden könnte. Das Zeichen meiner Entfernung aber gilt jenen, die ich verabscheue und deren Tun ich durch kein geistiges Mittel mehr beeinflussen kann. Es ist so weit gekommen, daß die Stetigkeit und Häufigkeit meines Hervortretens kein Trost mehr wäre für jene, die nach meinem Wort verlangen, sondern schlimmere Preisgabe, als wenn ich ganz zurückträte. Denn welche Konsequenz aus einer unwirksamen Geistigkeit, die beständig auf die unbeweglichen Übel weist, wäre denkbar als die Gewalt, die wir als frommen Werkes Walten wohl im Traum des Dichters bejahen mögen, aber im Wachen doch nur als endloses Übel beklagen können. Ich habe nichts mehr zu wünschen, als daß es meiner Natur gegeben sei, mich den Reizungen zu entziehen, deren künstlerische Bewältigung erst ohnmächtig macht vor der frech nachwachsenden Wirklichkeit. Ihr Phänomen ist der ewige Vorsprung, den einbeziehend darzustellen meine Kraft übersteigt. Ich muß dort Erholung suchen, wo ich an dem neutralen Bild einer verabscheuten Zivilisation vorbeikomme und nicht dauernd das vertraute, das unabänderliche und stets wieder bildnerisch lockende, das nie erreichbare Haßgesicht erblicke. In einem rührenden Schreiben aus Ihrer Mitte steht der Satz:

Unendlich wäre der Verlust für uns, die hier bleiben und weiter leben müßten ohne das tröstende Bewußtsein: daß Einer, der im Geist ein überlebendiges Leben führt, nicht verschmäht, dieselbe Luft zu atmen wie wir und unser gebundenes Dasein durch sein Wort zu erlösen und zu erheben.

Ich habe mich jedoch zu fragen, ob eben, wenn ich diesen Appell, in dem mir ein so sittlicher Beweisgrund vorgestellt wird, befolgen wollte – es mir noch gelänge. Wohl, er müßte auf mich bestimmend wirken, wenn es sich nicht von selbst verstünde, daß ich auch nur einem einzigen gebundenen Dasein, dem ich zu solcher Entschädigung verholfen habe, mich nicht entziehen darf. Nur daß ich eben, um es weiterhin zu vermögen, aus der Luft fliehen muß, die es mir unmöglich macht: um für die Augenblicke zurückzukehren, wo es notwendig ist. Und so sehr – das schwöre ich dieser amtlichen und außeramtlichen Bureaukratie zu – will ich mich nicht entfernen, daß ich nicht ein lästiger Inländer bleibe! Aber diese Mittelmäßigkeit, die es mit einem unbesiegbaren Zauber in sich hat, schleichend allen Fortschritt einzuholen, dieses Leben unter Larven und Fratzen hat mich durch die Arbeitsnächte von dreißig Jahren, also lange genug verjüngt, um sich nicht endlich gerade dafür zu rächen. Nicht die Einsiedelei, in die ich aus der zudringlichsten aller Wirklichkeiten geflüchtet bin, ist mir unerträglich geworden, aber das Gefühl, daß sie keinen Schutz mehr bietet gegen die Vorstellung; daß ein Traumleben in der Nachbarschaft der Lemuren sie schon ersetzt. Ganz wie ich das Sängerfest hinter herabgelassenen Rolläden mitgemacht habe, als wäre ich dabeigewesen. Ich habe nicht den Wunsch, mich dauernd dort niederzulassen, wo der Schuft Kerr wirkt, und für immer aus der Region zu fliehen, über die der Ehrenmann Schober waltet. Ich weiß, daß die Repräsentanten der Zeit überall unüberwindlich sind und in ihrer Position durch meinen Angriff gestärkt. Ich weiß wie keiner meiner Todfeinde, daß mir kein praktischer Erfolg beschieden sein kann und daß ich mich mit dem Triumph bescheiden muß, meine Objekte in Amt und Würden und mit der Funktionszulage der Lächerlichkeit und Verächtlichkeit fortwirken zu sehen. Aber ich muß bekennen, daß mir der Mißerfolg einer Stadt, die dort, wo schon die Hühner lachen, wenn sie am Gewerbeverein vorbeikommen, ernst bleibt und sich die ausgekotztesten Fibelphrasen frisch bieten läßt, nachdem ich sie satirisch erfunden habe – daß mir dieser Mißerfolg meiner Mitbürger an alle Nerven rührt. Ich habe ein Abenteuer hinter mir, in dem ich wie in einer klassischen Walpurgisnacht Renkontres mit Zentauren zu bestehen hatte und wo sich mir die heillose Mischung dieses Staatswesens aus einer Geistigkeit von Redl-Zipf und einer Moral von Tarnopol so deutlich offenbart hat, als ob Tarnopol noch in unserem Besitz wäre, während wir doch nur Redl-Zipf haben. Ich bin noch ganz benommen und sehr erholungsbedürftig. Ich habe viel im Leben mit einem und demselben Federstiel durchgemacht, weshalb von Zeit zu Zeit das Gerücht auftauchte, ich hätte mich ausgeschrieben. Schon als die Fackel ihr erstes Jahr vollendet hatte, hörte ich im Pissoir des Café Central die beiden Gebrüder, denen es gehörte – es war eine Kompagnie, die in jeder Lage zusammenhielt – die Worte murmeln: »Er hat sich ausgeschrieben«, und es blieb mir nichts übrig, als es aus Eitelkeit auf mich zu beziehen. Jetzt, nach dreißig Jahren, wiederholt es Großmann im ›Tagebuch‹. Ich glaube es darum nicht und habe im Gegenteil das Gefühl, daß meine Feder erst im Beginn ist. Aber sie sehnt sich danach, in Ruhe und durch etliche Kapitel »Sprachlehre« den Journalisten beweisen zu können, wie unrecht sie tun, sich noch nicht ausgeschrieben zu haben. Das wäre sogar wichtiger, als auszusagen, was sie für Haderlumpen sind. Außerdem wird mir immer noch geraten, und die Generationen wachsen nach, die es mir raten, ich solle mir doch würdigere Gegner suchen. Woher nehmen und nicht stehlen? Und wenn ich immer wieder antworte, daß jene, wenn sie würdiger wären, mich nicht zum Gegner hätten, und daß doch der Kerr just mangels Bedeutung sich besser zur Polemik eignet als Shakespeare; und wenn ich auch darauf aufmerksam mache, es sei doch eben der Sinn der Polemik, das Mißverhältnis zwischen der Geltung und dem Wesen der Null nachzuweisen: so antworten mir die, die es durch mich erfahren, daß einer eine Null ist, sie hätten es längst gewußt. Unter solchen Umständen kommt man allmählich doch auf den Standpunkt des Königs von Sachsen, der freilich durch die Macht der Verhältnisse zur Resignation gezwungen war, aber recht hatte mit der Aufforderung: sich den Dreck alleene auszumachen! Mit dem Wissen um die moralischen Qualitäten kann man in Österreich heutzutag ja doch nur als Erpresser fortkommen. Das meine ist so groß, daß der Bekessy damit zurückkommen könnte, während es mir zu gar nichts nutz ist. Was kann ich zum Beispiel damit anfangen, daß ich weiß, warum der Mataja im Hause des Lippowitz den Schober einen Ehrenmann nennen muß? Wenn ich es sage, glaubt's mir jeder, aber es macht nicht den geringsten Eindruck, weil man sich das ohnehin längst gedacht hat. Was der Schober, den mehr noch als die Verdienste vom 15. Juli sein umfassendes Wissen in seiner überparteilichen Stellung erhält – was der auf den Mataja weiß, weiß zum Beispiel die Sozialdemokratie, aber sie kann es nicht sagen, weil sie zugleich auch weiß, was sowohl der Schober wie der Mataja weiß. Die bürgerliche Welt ist längst nur durch das gegenseitige Wissen zusammengehalten, an dem nichts mehr als die Fassade der Fibelsprüche den Neuigkeitssinn fesselt. Aber das Tragische ist, daß die Partei, die sich auf der letzten Menschheitshoffnung aufgebaut hat, in diesen Kreis einer Mitwissenschaft, die aktiv ein Hebel des bürgerlichen Zerfalls wäre, passiv einbezogen ist und selbst das Opfer bürgerlicher Erpresser geworden. Die erpresserische Ideologie beherrscht wieder durchaus die Arrives, die mit den bewundernswerten materiellen Errungenschaften ehrlicher sozialistischer Arbeit die Empörung gegen Korruption und geistige Lethargie mundtot machen wollen und den Schwindelbegriff einer Disziplin vorstecken, um ungestört ihre Würden und Pfründen auszugenießen. Voll und ganz eingespielt in das Ensemble dieser bürgerlichen Honoratioren, die die Wehrlosigkeit viel frecher treten können als es je vormals denkbar war, unter den Augen einer Opposition, deren äußeres Wachstum nur die innere Schwäche sinnfällig macht. Ich bin zwanzig Jahre Monarchie hindurch mit dem Alpdruck schlafen gegangen, vor einem gesalbten Schwachkopf Ehrfurcht empfinden zu sollen; aber daß ich ausersehen wäre, zu ihrem zehnten Jahrestag diese Republik zu feiern, verursacht mir ein Morgengrauen. Die einzige Errungenschaft der Freiheit: in Wort und Schrift solchen Widerwillen bekennen zu dürfen, erachte ich als allzu dürftige Entschädigung dafür, daß Proletarier auf Wachstuben geprügelt werden und sogenannte »Frauenspersonen« in Stundenhotels der zärtlichen Gewalt Geständnisse liefern. Wahrlich, lieber würde ich nicht sagen müssen, daß diese Republik nichts tauge, als es sagen dürfen! Aber den Schwindel einer Preßfreiheit, die jene, die sie erkämpft haben, zur Strangulierung der Wahrheit und zur Knechtung der Menschenwürde, zur Handhabung aller bürgerlichen Preßpraktiken mißbrauchen, halte ich für das äußerste aller sozialen Greuel. Ich habe auf der Seite, auf der ich stehe, wenn es den Kampf gegen Willkür, wenn es die Rettung des Menschenlebens vor Not und Gewalt betrifft, nichts Erfreulicheres erlebt als auf der Feindesseite, Unerfreulicheres, weil dieser doch die bürgerliche Lumperei legitim zusteht, die sich jene erst anmaßen mußte. Aber das Schlimmste von allem ist, daß sich unter den Augen einer Partei, deren Macht selbst bei einem Mindestmaß von revolutionärer Entschlossenheit den Mißwachs der alten Welt im Bann der Furcht halten müßte, dieser schamloser ausbreiten darf als jemals unter ungeteilter politischer Herrschaft der Bourgeoisie. Denn nie zuvor hat das österreichische Antlitz feister und frischer die Züge des fidelen Henkers gezeigt; nie der Rohstoff des Lebens in naiverer Roheit seinen publizistischen Ausdruck gefunden. Nie hat die Macht der bürgerlichen Presse ihren Triumph der Seelenverpestung in Skandal und Lüge voller durchgenossen; nie sind Dummheit des Spießers und Frechheit des Schiebers lebensunmittelbarer aus den Kolumnen hervorgetteten, aus diesem Gewirr einer illustrierten Tobsucht, die schon äußerlich das Abbild eines Tandelmarktes ergibt. In dem Hü und Hott undefinierbarer Mundarten, die hier Christ und Jud sprechen, vergleichbar diesem tödlichen Straßenverkehr, von Kretins für Idioten gemacht, gewährt die Zeitung überhaupt nicht mehr den Eindruck bewußter Urheberschaft, sondern nur des Resultats eines technischen Verfahrens, wonach das Geschrei einer Börsenpanik auf Papier übertragen werden kann. Über allem Chaos der Lebensformen aber der Fibelsinn, mit dem die beamteten Schulbuben der Achtzigerjahre walten; über allem Gewährenlassen ein Muckergeist, der im Leidensbezirk zwischen Prostitution und Mutterschaft seine fiskalische Lust befriedigt, als wäre der Menschheit Weh und Ach aus diesem Punkte zu sanieren. Und der Pallawatsch aus Vorschriftsmäßigkeit und Abnormität sich unaufhörlich selbstbespiegelnd in der Zuversicht, nicht untergehen zu können und das Schoßkind der ganzen Welt zu sein, die überhaupt an nichts anderes denkt, als Fremde zu gruppieren, die diese Spezialität der Schöpfung zu besichtigen kommen werden. Aber überall dort, wo noch ein Gefühl für Menschenehre vorhanden ist, wird sich das Kulturniveau dieser absurden Gemeinschaft nicht so sehr in der Tatsache ausprägen, daß hier Schubert gelebt hat, als daß sie ihn in Schweineschmalz nachgebildet haben! Ich habe das Sängerbundesfest durchgehalten wie andere den Weltkrieg, doch ich habe davon keine andere Befestigung nationalen Fühlens empfangen als das Bewußtsein, daß noch nie, seitdem die Druckerschwärze erfunden ist, und nicht einmal in der Zeit, die groß war, weil sie vier Jahre gedauert hat, so gelogen wurde wie in diesen Julitagen. Die Wahrheit, die jeden Vorwand einer Huldigung für den Genius durchbricht, besteht in der Erkenntnis, daß, wenn schon die Vorstellung wenig erfreulich ist, wie ein einziger Bürgersmann ißt und trinkt etcetera, der Umstand, daß sich gleichzeitig hundertfünfzigtausend in diesem Zustand befinden, nichts Erhebendes an sich haben kann, ja daß die Sache nur unappetitlicher wird, wenn zum Überbau dieser Realität die Musik der Sphären herhalten muß. Das politische Moment der Anschlußidee spielt dabei eine untergeordnete Rolle gegenüber dem ethnologischen Kuriosum, daß eine Woche hindurch brave Leute, die Bändchen trugen, einander aufgeregt bestätigten, daß sie Deutsche seien was kein Mensch je bezweifelt hat. Wenn man den Sinn der Übung nicht etwa darin erkennen will, daß Legionen freigelassener Simandeln sich auf die armen Wiener Prostituierten gestürzt haben, so hat auch der Gedanke des Fremdenverkehrs eine Schlappe erlitten. Ganz nüchtern läßt sich der Eindruck so formulieren, daß bloß der Besoffenheit ein gigantischer Spielraum gewährt war – die Höchstleistung eines Sangesbruders soll die für den Anschluß ominöse Zahl von 66 Bierkrügeln gewesen sein – und daß lediglich die Toilettefrauen auf ihre Kosten kamen, indem sie die Nachfrage zu einem Preisaufschlag ausnützten, während die Praterwirte wegen der mitgebrachten »Dauerware« das Nachsehen hatten und grollend der Idee entsagten. Aber ich möchte glauben, daß ihre Politik die richtige ist. Nicht aus Zustimmung zu der landesüblichen Ranküne, die sich gleich hinter dem Schwung der Leitartikler mit hämischen Anekdoten gerieben hat und mit scherzhaften Beweisen, daß »sie ja doch eine andere Sprache sprechen«. Sondern weil ich mir den Anschluß einer norddeutschen Zone mit ihrer immerhin ordentlichen Verrichtung des äußeren Lebens, wo alles auf Sachdienst gestellt ist und 10 % gleich abgezogen werden – weil ich mir solchen Anschluß an ein Gebiet, wo nicht einmal die Schlamperei funktioniert, schlechthin nicht vorstellen kann und weil ich im Gegensatz zur hysterischen Furcht der Entente vor einem »Machtzuwachs« Deutschlands an dessen Schwächung durch den Anschluß glaube. Wer durch den Vordergrund der ökonomischen Dinge zur Betrachtung der Volksnaturen vordringt, wird hier die Geschichte von dem ins Konvikt eingepflanzten Knaben, der Deutsch lernen sollte und der ganzen Klasse das Mauscheln beigebracht hat, als ein weltgeschichtliches Motiv erkennen. Aber wie immer dem sein mag, für meine Person bin ich anschlußfreundlich, und wenn ich ein Ereignis bezeichnen soll, das diese Neigung befestigt und den Plan auszuwandern zur Reife gebracht hat, so möchte ich auf das Rosenfest hinweisen, das in der überwältigenden Fülle der freudigen Begebenheiten dieses Feiertagslandes, dieses wahren Festlandes, an dem die Wogen der Weltrevolution abprallen, vielleicht nicht gebührend bemerkt wurde und woselbst zu Ehren unseres Bundespräsidenten 600 Rechnungsräte, Konzeptsbeamte und sonstige Männer, die schon lange Hosen tragen, unisono »Mei Muatterl war a Weanerin« angestimmt haben. (Während gleichzeitig Funksprüche vom Nordpol und Bildübertragungen aus Tokio erfolgten.) Ich hatte das Gefühl, daß ich das nicht mehr würde darstellen können, erstens weil ich's nicht vermöchte, zweitens weil man mir's nicht glaubte und drittens weil doch der nächste Tag, die nächste Zeitungsspalte noch weit spukhaftere Begebenheiten heranbringt, etwa daß mein Schober von seiner Pflichterfüllung in den Festtagen spricht und die Taschendiebe, auf die er spitzte – wie glaubt man – nennt: »die Herren Langfinger«! Was nun den Castiglioni betrifft, bei dem er schon öfter gespeist hat, so dürfte die Phantastik der österreichischen Dinge wohl in der Tatsache gipfeln, daß wir dem Altmeister der Finanzkunst, der zu besonderen Anlässen nach der Feder greift, eine schwermütige Betrachtung verdanken, nämlich zur Verhaftung von Stinnes junior. Er hat, ohne daß der Kahlenberg zu speien begann, das Folgende ausgeführt:

Wie viele der Großen, der ganz Großen waren nach schweren Erschütterungen mit eisernem Willen und ehrlicher Einhaltung der übernommenen Pflichten wieder emporgekommen und so sehr auch solche Männer immer viele und mächtige Feinde gegen sich gehabt haben, eines muß man anerkennen: Die Öffentlichkeit, die große Öffentlichkeit ist auf die Dauer gerecht und versagt einem anständigen Menschen nie die endliche Anerkennung für die loyale und restlose Erfüllung seiner Pflichten.

Aber was Stinnes getan habe, sei unverzeihlich:

... denn nur solche Vorkommnisse geben der breiten Masse das Recht und die Berechtigung, an der moralischen Qualität solcher Männer zu zweifeln, welche jahrelang zu den Führern der Industrie, der Finanz, ja vielleicht sogar des Volkes gezählt haben ... Nur eines muß als schauerliche Lehre aus diesem entsetzlichen Fall gefolgert werden, daß nur wenige Menschen zu Führern berufen sind, solche Menschen, die die innere Reinheit besitzen, sich niemals von dem enggezogenen harten Weg der Pflicht und der Ehrlichkeit abbringen zu lassen und die es verstehen, sich in Ehrfurcht vor dem ewigen Gesetz zu beugen, daß, je höher die Stellung ist, die sie in der menschlichen Gesellschaft einnehmen, desto tiefer der Sturz sein muß, wenn sie aus Macht oder Geldgier Handlungen begehen, zu denen sie sich in ihrer Selbstüberhebung, als über den Grenzen des Guten und Bösen stehend, verleiten lassen.

Und er, Castiglioni zitiert Schicksalsworte aus Goethes Iphigenie, die er soeben durch Reinhardt kennen gelernt hat. An dem, was hier Setzer, also vermutlich Sozialisten, der Mitwelt unterbreitet haben, ohne daß die Lettern vor Scham geschmolzen sind, geht vor allem die Schlichtheit zu Herzen, mit der herauskommt, daß der Castiglioni ein Führer des Volkes ist, so etwas wie ein Hort der Republik, mit dem er ja schon die Pflichterfüllung gemeinsam hat. Freilich könnte man sagen, daß da das Volk zum Schaden den Spott erhält, nachdem es bisher nur die geringe Genugtuung erlebt hat, daß der Castiglioni, nach dem Gesetz der weltgeschichtlichen Vergeltung, wieder vom Bekessy ausgeplündert wurde. Aber wir erfahren ja, daß er sich wieder aufgerappelt hat, und heute kann er über den nach Moabit eingelieferten Stinnes junior eine Betrachtung anstellen und vor der »großen Öffentlichkeit« die Hand des Verhängnisses tätscheln, das vor einer Persönlichkeit seines Umfangs Respekt gezeigt hat. ja, er darf sogar »ein gebrochenes Mutterherz« beklagen, nicht ohne mit einem heitern Auge das Glück der Senioren zu preisen und das Bild des Vaters Stinnes beziehungsvoll bis zur Frozzelei der Justiz zu entfalten:

Seine Persönlichkeit und seine Individualität waren so mächtig, ich möchte ruhig sagen, so erdrückend, daß alle, Industrie und Finanz, Behörden und Staat, sich vor diesem trotz allem loyalen und aufrechten Manne beugten.

Das alles, mit der hochherzigen Anerkennung der großen Öffentlichkeit, die den Castiglioni wieder anerkannt hat – bis zu dem Grade, daß Gesandte zu ihm nachtmahlen gehn – ist pro domo, aber gegen das graue Haus gesprochen, dessen Hüter eben eine so starke Ehrfurcht vor dem ewigen Gesetz haben, daß sie sich scheuen, es anzuwenden. Das Überraschendste ist dabei die Enthüllung, daß der Castiglioni, der so viel von Pflicht redet, als ob er für den unwahrscheinlichen Fall der Demission Schobers zum Polizeipräsidenten ausersehen wäre (was ja ganz gut vorstellbar ist und auch in den »Briganten« von Offenbach vorkommt) – also die Enthüllung, daß der Castiglioni nebst Kunstschätzen die innere Reinheit besitzt. Daß das eines Tages herauskommen wird, habe ich mir immer schon gedacht. Das Geständnis wurde natürlich bei Lippowitz abgelegt, wo mindestens einmal in der Woche Ehrenwaschtag ist, aber bisher der Usus eingehalten wurde, daß die Ehrenmänner es sich gegenseitig besorgt haben. Erstaunlich ist da im Grunde nur das Beginnen, Eulen nach Athen zu tragen, nämlich Wien blöd zu machen. Nein, den Kursus haben wir nicht nötig! Aber ich denke, mit dem Faktum, daß der Castiglioni das Pech des jungen Stinnes beweint und »erschütternde Mahnworte« Goethes zitiert, der nebst Sascha Guitry zu seinen Hausdichtern zählt; ich meine, mit dem Schauspiel, wie der Castiglioni sich vor Ekel schüttelt, wenn er an das Laster der Geldgier denkt; mit der Dankesträne dafür, daß er wegen seiner inneren Reinheit und der Unschuld der österreichischen Behörden auf freiem Fuß geblieben ist und Feste geben kann – mit diesem Erlebnis dürfte wohl der Gipfel bezeichnet sein, den unsere kulturelle Entwicklung seit dem Umsturz erklommen hat. Und wenn sich solche Exhibition des finanziellen Gemütslebens in einer Stadt mit vierhunderttausend Arbeitern abspielen kann, ohne daß sich der revolutionäre Atem rührt, der diesen ganzen Spott zur Hölle fegt und diese ganze Maskerade von Übeltätern als Pflichterfüllern auf den Kehricht wirft, so wird wohl hinreichend glaubhaft, wie dem einzelnen Angreifer die Lust vergehen muß, seine Fähigkeit der Aufnahme und Gestaltung vom Ekel der unbeweglichen Dinge überwuchern zu lassen. Aber schließlich ist Herr Castiglioni als Führer des Volkes nur ein Spuk jener bürgerlichen Wirklichkeit, die wir doch alle mit dem Unterpfand einer besseren Hoffnung durchträumen. Wie nun, wenn die Schwaden der Sumpfregion auch dorthin übergegriffen hätten, wo der Begriff einer Führerschaft des Volkes zuständig ist? Wie, wenn ich auch hier isoliert wäre und mein Wirken gegen das alte Übel auf Konventionen stieße, die vom unausrottbaren Bürgergeist beschlossen sind? So bliebe mir das Echo der jungen Herzen, die nur die Macht haben, zu wollen! Wenn ich vor solchen Beschwerde führe über die Pein, die mir widerfahren ist von den zum Kampf Berufenen, dort, wohin kein anderer Glaube als der an die gemeinsame Sache mich gestellt hat, so werden Sie schaudernd das Verhalten gegen mich als Verrat an ihr selbst erkennen und mit Hohngelächter über einen Popanz von Disziplin, mit dem man Ihren revolutionären Drang abschrecken möchte, entschlossen sein, ihn innerhalb der Partei, der Sie angehören, zur Geltung zu bringen.

Nicht zum zehnten Gedenktag dieser Republik, die darin begründet ist, daß sie alle Übel der Monarchie mit Ausnahme eines Kaisers hat, spreche ich, sondern zum zehnjährigen Tag meines Aufrufes »An alle, die die Wahl haben«, durch den ich viele von Ihnen der Partei zugeführt habe, mit vielen Gründen und trotz »allen Interessen oder Idealen einer Friedenswelt, die mich von ihr geschieden haben«. Sie hat in diesen zehn Jahren nur zu sehr davon gelebt, daß keine andere Wahl blieb, und auch Sie müssen, wiewohl Sie Sozialisten sind, der sozialdemokratischen Partei angehören. Aber die Pflicht, die Ihnen das Ideal auferlegt, dem verhaßten Bürgergeist dort entgegenzutreten, wo er am verabscheuungswürdigsten ist: in den Kampfreihen, die gegen ihn aufgestellt wurden – diese Pflicht wird Sie mahnend ansprechen, wenn Sie hören werden, in welchen Formen er, dieser sozialdemokratische Bürgergeist, sich manifestiert hat, um gegen mich zu sein, nicht etwa dort, wo es mein literarisches Ansehn betraf und wo der Bürgerglaube seine Infamie auf meine Eitelkeit abschieben könnte, sondern dort, wo es den gemeinsamen Kampf gegolten hat. Sie werden gewahren, daß, nachdem ich mein Interesse hinter diesen Kampf zurückgestellt hatte, man ihn selbst hinter den Privathaß jener Kräfte zurücktreten ließ, die zwar unsichtbar, jedoch spürbar als sogenannte Parteischlieferl und Parteitinterl wirken. Das Ungeheuerliche besteht aber, wie Sie erkennen werden, nicht in den Übergriffen, die man pardonieren könnte, wäre nur ein einziges Mal von verantwortlicher Stelle ein Wort der Aufklärung erfolgt – jene Geste, die man jetzt in der politischen Philisterstube den Trennungsstrich nennt: wenn nicht gegen das Gelichter, so, wofern der Mut dazu vorhanden, gegen mich! Das Ungeheuerliche besteht in der stillschweigenden Deckung aus dem disziplinarischen Begriffe jener Art Gemeinsamkeit, die in einer bürgerlichen Kategorie als Corpsgeist von Generalstäblern, als Redaktionsehre oder als Glaserinnungsbewußtsein gar nicht bürgerlicher auftrumpfen könnte. Das Jahr der großen Trauer ist vorüber und Sie werden ersehen, wie ich unter vielem Verzicht seinen Anspruch erfüllt und nichts unternommen habe, was dem gemeinsamen Feind zu einem Gefühl der Schadenfreude verhelfen konnte. Sollte sich dieser Erfolg heute einstellen, so würde er sich nicht lange gegen die Todsicherheit behaupten, daß ich nicht aufhören werde, den Feind bis an das Ende meiner Tage zu verfolgen, und es wird klar sein, daß ich mich gegen den Mitkämpfer nur wende, weil er selbst den Kampf gefährdet und jenen Erfolg ausreichend herbeigeführt hat. Es würde mir mein Leben lang, also in der Zeit, da Herr Schober im Amte sitzt, nicht einfallen, darüber Beschwerde zu führen, daß die Arbeiter-Zeitung, die dem letzten bürgerlichen Operettenmist ihre erstaunliche Kunstrubrik offenhält, mein Wirken für Offenbach, das Kulturwerk meiner ganzen Vortragstätigkeit, ja meine besonderen Vorlesungen für Arbeiter mit keinem Ton beachtet. Was aber die sozialdemokratische Publizistik – mit Ausnahme des ›Kleinen Blattes‹, dem diese Extratour erlaubt war – an meinem Wirken gegen Schober versäumt hat, das und nur das kommt in Betracht, so sehr, daß die Frage, wessen Wille für diese Tücke anonymer Tat und insbesondere anonymer Unterlassung verantwortlich ist, ihre Antwort verlangt, wenn den Schuldigen nicht der Vorwurf der Erbärmlichkeit treffen soll. Denn die Komplettierung meiner Schuftengalerie durch einen Namenlosen brauche ich nicht! Ich habe schon am Ende der Bekessy-Epoche (Oktober 1926) die Umtriebe eines Mißwuchses gekennzeichnet, »der da«, wie ich schrieb, »unter parteiamtlicher Ägide hochkommt, um die letzte menschheitliche Zukunftshoffnung zur Spekulation des menschlichsten, bürgerlichsten, literatenhaftesten Ehrgeizes zu machen«. Aber schließlich hatte die »mit freiem Aug nicht bemerkbare Inferiorität« damals gegen mich die begreifliche Beschwerde, daß ich der Partei als unbequemer Mahner gegenüberstand, als der Mann, der ihre eigenste Pflicht gegen den Erpresser Groß-Wiens allein erfüllte und ihr nur den Anschluß an den Erfolg überließ, so daß ich sogar noch dessen schäbige Eskamotierung verstehen konnte. Es war die Zeit, wo man zuerst »andere Sorgen« hatte und nachher das Gfrett. Ist es aber verständlich, daß in einem Kampf, den die Sozialdemokratie von allem Anfang an führt, in dem Kampf gegen Bekessys Beschützer, sich das Gelichter wieder regen und den gleichgerichteten Angriff sabotieren darf? Bliebe da außer der tiefen Ranküne eines durchschauten Parteibeamtentums eine andere Erklärung als die der Furcht vor jener stärkeren Wirkung auf die Jugend, die irgendeinmal einer nicht genehmigten Tendenz zustattenkommen könnte? Wie immer dem sei, in keinem Fall, so sollte man glauben, hätte diese Wirkung gegen einen Feind ungenützt bleiben dürfen, den man ernsthaft beseitigen wollte. Daß man Herrn Schober mit dem 15. Juli, der ihn doch erst zum bürgerlichen Machtsymbol erhoben hat, nicht nahetreten konnte, wurde allmählich klar. So blieb mit einiger Aussicht auf praktischen Erfolg nur die Verwendung der von mir erlebten Dinge, die ihn wenigstens vor jener Bürgerlichkeit, die nicht von der Mordglorie bestochen ist, entblößen konnten. So blieb jedenfalls das Interesse an einer Popularisierung der Wacker-Figur, die mit der Litanei von der Pflicht schließlich doch weiteste Kreise aufgerüttelt und jedenfalls das Herz der Proletarier erfreut hätte. Dokumente sollen beweisen, wie die Sozialdemokratie dieses Interesse wahrgenommen hat.

Ein geringfügiger Konflikt und die umso eindrücklichere Art seiner Bereinigung bildet den Ausgangspunkt einer Reihe von Ungeheuerlichkeiten, die so lange Unbegreiflichkeiten sind, als man zwar bereit ist, Dummheit als den Urgrund der meisten menschlichen und insbesondere politischen Verfehlungen anzunehmen, aber doch wieder nicht an eine solche Konsequenz der Dummheit glauben könnte, wie sie sich da offenbart hat. Jener Verwechslungskritiker der Arbeiter-Zeitung, der Mann, der selbst fataler Weise den Namen eines Blutlyrikers führt und darum die Ursache ist, daß Beiträge von eben diesem in ein sozialdemokratisch approbiertes Schulbuch aufgenommen wurden, hatte meinen Namen in einen völlig verkehrten Zusammenhang mit Nestroy und Hopp gebracht. Ich sandte – vor dem Juli 1927 – eine Berichtigung, deren absolute Gesetzmäßigkeit gerade bei der Arbeiter-Zeitung Anwert finden mußte. Sie erschien verspätet, vielfach verstümmelt, und just an der wesentlichsten Stelle, die die Unwissenheit des Kritikers bloßlegte, begann die Setzmaschine auszusetzen und zu stammeln. Ich will nicht behaupten, daß sie aus Teilnahme gehandelt hat, denn ich habe zwar im Kerr-Heft die Möglichkeit offen gelassen, daß die Zeit kommen könnte, wo mich die Arbeiter-Zeitung wieder einen Verleumder nennt, doch das soll ihr erst ermöglicht sein, wenn ich sagen werde, daß die Annoncen der Firma Krupnik eine Schande für ein proletarisches Blatt sind! Anstatt sofort die Klage einzubringen, begnügte sich mein Anwalt, um Korrektur der verdruckten Stelle zu ersuchen und einen Sühnebetrag für Notleidende, darunter einen bedürftigen Parteigenossen, anzusprechen. Es erfolgte eine briefliche Erwiderung des verantwortlichen Redakteurs, deren juristische Unwissenheit nur von der Überheblichkeit übertroffen wurde, mit der unter anderm von einer »angeblich unrichtigen Angabe« des Kunstkritikers die Rede war und die Korrektur nur zugesagt wurde unter der Bedingung des Verzichts auf den Sühnebetrag wie der ausdrücklichen Anerkennung, daß die Berichtigung ungesetzlich gewesen sei. Dieses Schreiben wurde mit der Klage beantwortet, da es klar war, daß der verantwortliche Redakteur zur Aufnahme der Berichtigung und wegen der Verstümmlung selbst dann verurteilt werden mußte, wenn jene nicht dem Gesetz entsprochen hätte. Dies alles spielte sich vor dem 15. Juli 1927 ab. Der Gerichtstermin war auf den 19. Juli angesetzt und der Beklagte nicht erschienen. Am 21. Juli schrieb auf meine Veranlassung mein Anwalt den folgenden Brief an den Vertreter der Arbeiter-Zeitung:

Ich hatte, wie Ihnen bekannt, im Vollmachtsnamen des Herrn Karl Kraus eine Berichtigungsklage gegen den verantwortlichen Redakteur der ›Arbeiter-Zeitung‹ eingebracht, über welche auf den 19 Juli die Verhandlung anberaumt wurde. Diese Verhandlung wurde vertagt, weil die Zustellung an den Beklagten nicht ausgewiesen war. Ich beehre mich Ihnen nunmehr im Namen meines Mandanten die folgende Mitteilung zu machen. Da er es für unangebracht hält, angesichts des Ungeheuerlichen, das wir inzwischen erlebt haben, über eine preßrechtliche Angelegenheit formaler Natur entscheiden zu lassen, so war schon für den Termin vom 19. Juli beabsichtigt, auf die Durchführung der Verhandlung zu verzichten und dem Beklagten nahezulegen, den seinerzeit in Vorschlag gebrachten Sühnebetrag der Sammlung für die Opfer der Katastrophe zu widmen, welchem Zweck ich auch meine Kosten zugedacht hatte. Da der Termin nun vertagt wurde, gebe ich Ihnen bekannt, daß mein Mandant – unbeschadet unserer Rechtsansicht, nach der die Berichtigung dem Preßgesetz vollkommen entsprochen hatte, aber auch ganz jenseits dieser Frage der verstümmelte Abdruck gesetzwidrig war – auf den Prozeß in der folgenden Erwägung verzichtet. Es wäre ihm der Ausgang, an dem er gar nicht zweifelt: daß die ›Arbeiter-Zeitungs‹ zum Abdruck der Berichtigung gezwungen wäre, nunmehr geradezu unwillkommen. Denn da er den Wunsch hat, daß die ›Arbeiter-Zeitungs‹ den Raum ihrer nächsten Wochen mit keinem anderen Text fülle als mit der Beweisaufnahme über die Untaten der Polizei und mit der Sammlung von Dokumenten wie dem erschütternden Bericht der armen Frau aus Floridsdorf, so kann er doch gewiß nicht wünschen, diese Gelegenheit selbsttätig durch Einrückung einer Zuschrift zu verkürzen, die beim nichtorientierten Leser den Eindruck erwecken müßte, als ob eben ihrer Materie sein derzeitiges Interesse gewidmet wäre. Ich bitte Sie überzeugt zu sein, daß diese Erwägung und keine andere das Motiv für die Zurückziehung der Preßklage bildet, welche natürlich bedingungslos erfolgt.

Die Antwort war ein warmes Schreiben, das mit den Worten begann:

Alle Beteiligten haben volles Verständnis dafür, daß Ihr geehrter Herr Mandant gegenwärtig keinen Sinn für die Austragung von Angelegenheiten, wie die in Ihrem geehrten Schreiben erwähnte Berichtigungssache, hat.

Zum Schlusse wurde angeboten, bei einer Parteispende, die ohnedies für die Opfer der Katastrophe erfolge, mitzuteilen, daß sie in meinem Namen gemacht werde; worauf natürlich verzichtet wurde. Als die Konzeptsbeamten gegen mich demonstrierten, als der »Hort der Republik« und »Mein Abenteuer mit Schober« kamen, stellte sich die Arbeiter-Zeitung mit Zitierungen und Würdigungen ein, die immerhin der Sache des Kampfes gerecht zu werden schienen. Da kamen die »Unüberwindlichen« heraus, und mit allen eingeweihten Lesern wartete Herr Schober auf den Tag, da die Arbeiter-Zeitung wenigstens von der Tatsache des Erscheinens, von der Festlegung der Wacker-Gestalt Notiz nehmen werde. Ich war zu einer Vorlesung vor Arbeitern aufgefordert worden durch das Schreiben einer Unterrichtsorganisation, worin es hieß:

14. Februar

Einem allgemeinen Wunsche unserer Mitgliedschaft folgend, gestatte ich mir Ihnen die ergebenste Bitte zu unterbreiten, aus »Eigenen Schriften« – den 15. Juli behandelnd, zu lesen.

Wir bewundern den heroischen Kampf, den Sie neben der sozialdemokratischen Partei als Alleinstehender gegen die brutale Willkür der Wiener Polizeigewaltigen führen und wir wären glücklich, Ihnen, Aug' in Aug' gegenüber, den Ausdruck unserer Verehrung zollen zu können ...

Wir wagen der Hoffnung Raum zu geben, daß Sie als altbewährter Freund unserer Kulturbestrebungen unserer Bitte willfahren werden.

In Verehrung

Die Vorlesung fand statt, und unter anderm hat der Eindruck des dreimal gebrachten Schober-Lieds die Veranstalter zu dem folgenden Dankschreiben bewogen:

17. Mai

In der gestern stattgefundenen Sitzung des Unterrichts-Ausschusses wurde der Bericht des Obmannes über den Verlauf der am letzten Freitag stattgefundenen »Karl Kraus-Vorlesung« mit großer Freude und Befriedigung entgegengenommen.

Die Begeisterung, die alle Hörer erfüllte und mitriß, ist sicherlich für Sie der schönste Dank. Für die Arbeiter Hietzings ist diese Vorlesung ein wirkliches Erlebnis gewesen. Der übergroße Teil der Zuhörer hatte zum erstenmal Gelegenheit, einer Vorlesung von Ihnen beizuwohnen, und es wird in unseren Reihen jetzt nur der einzige Wunsch geäußert, daß bald wieder eine Karl Kraus-Vorlesung stattfinden möge.

Seien Sie nochmals unseres herzlichsten Dankes versichert. Ihre Vorlesung war ein flammender Protest gegen so vielfältig geübtes Unrecht.

In Verehrung

Damals faßte mich ein Staunen, daß Parteifunktionäre, die doch Zeugen dieser Wirkung waren, nicht auf die Idee kamen, ihnen zu gestatten, dieses Couplet als Zehngroschen-Ausgabe in einer Auflage von 150 000 Exemplaren zu verbreiten. Denn wenn es auch leider wahr ist, daß in Wien die Lächerlichkeit nicht mehr töten kann, so wäre es doch ein unvergleichlicher Erfolg gewesen, wenn das Lied als Gassenhauer aus Proletarierwohnungen gedrungen wäre und die Passanten, die in Wien ohnedies hauptsächlich Wachleute sind, angeheimelt hätte wie nur einst der Nechledil-Marsch oder »Das ist mein Freund, der Löbel«. Und warum soll denn nicht auch einmal ein gutes Couplet, noch dazu auf der Grundlage von »Üb' immer Treu und Redlichkeit« und dem Radetzkymarsch, populär werden? Da sich die Parteifunktionäre nicht regten, ließ ich, zu jedem Entgegenkommen in diesem Kampf bereit, meinen Verlag an sie herantreten. Dieser wurde von der Unterrichtsorganisation an die Volksbuchhandlung gewiesen, die ihn an die Jugendorganisation wies. Das Ergebnis der Verhandlung wurde von dem Leiter des Verlags in einem Gedenkprotokoll verzeichnet, das wieder der Unterrichtsorganisation mit dem folgenden Schriftstück zuging:

Wien, 9. Juli 1928

Sie waren so freundlich, die Volksbuchhandlung zu veranlassen, sich mit mir in Verbindung zu setzen, und so teile ich Ihnen das Ergebnis mit, das mit dem Versuche erzielt wurde, der Sonderausgabe des Couplets, dessen Wirkung auf ein Arbeiterauditorium Sie erlebt und so dankbar bezeugt haben, dem moralischen wie materiellen Zweck zuliebe die weiteste Verbreitung zu verschaffen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist in der folgenden Aufzeichnung niedergelegt:

27- VI- 1928

Herrn Karl Kraus

Auf Veranlassung des Herrn Scholz von der Volksbuchhandlung setzte ich mich mit Herrn Pleyl von der Sozialdemokratischen Jugendorganisation in Verbindung. Ich sagte ihm, daß wir von der Volksbuchhandlung an ihn gewiesen wurden. Es sei eine Aktion zu Gunsten der Juli-Opfer geplant und zwar der Vertrieb eines Couplets aus den »Unüberwindlichen«, dessen Reingewinn eben diesen Opfern zugedacht ist. Herr P. sagte, daß sie keine Zeit dafür hätten, sie seien mit den Vorbereitungen für verschiedene Veranstaltungen beschäftigt. So bereiteten sie ein Sommerfest vor, dann noch einiges und auch für den 15. Juli. Auf meinen Vorhalt, daß sich die Aktion gleichfalls auf diesen Termin beziehe, wiederholte er seine Worte und sagte, daß sie jetzt dafür unmöglich in Betracht kämen.

Ich war sehr erstaunt, daß man einer Aktion, die von Ihnen ausgeht, an dieser Stelle so wenig Interesse und so gar kein Verständnis entgegenbrachte, ja nicht einmal einige Worte des Bedauerns fand, daß man sich in dem Vertrieb nicht beteiligen könne.

Welche Wiederkehr des Motivs, andere Sorgen zu haben! So wurden denn aus eigener administrativer Kraft, ferner mit Zuziehung der Volksbuchhandlung und hauptsächlich der »Roten Hilfe«, etwa 19 000 Exemplare verbreitet, die bei tätigem Eingreifen der sozialdemokratischen Organisationen hätten verzehnfacht werden können. Es wäre auch erwünscht gewesen, wenn die Arbeiter-Zeitung das Couplet abgedruckt hätte. Es war mir bekannt, daß sie nahe daran war, aber weit entfernt, es zu tun. Sie hat Herrn Schober den Schmerz erspart. Ihr selbst aber, die von der Tatsache der »Unüberwindlichen« bis zum 15. Juli 1928 keine Notiz genommen hatte, konnte ich den Schmerz nicht ersparen, daß sie an diesem Tage, an dem sie auch allerlei Motive aus den »Unüberwindlichen« verwendete, in der Rubrik »Mitteilungen aus dem Publikum« das folgende Inserat enthielt:

Soeben erschienen: 2223

Karl Kraus, Das Schoberlied

(mit Noten). Preis: 10 Groschen. (Der Ertrag für die Opfer des 15. Juli.) Sonderdruck aus dem Nachkriegsdrama:

»Die Unüberwindlichen«

Preis: geheftet S 5.-, in Ganzleinen gebunden S 6.50. (Von der bürgerlichen Presse totgeschwiegen.) Zu beziehen durch die Buchhandlung RICHARD LANYI, Wien, I. Kärntnerstr. 44.

Mit diesem Epigramm hatte ich nicht nur ein aktuelles publizistisches Problem, sondern auch das alte Inseratenproblem der Arbeiter-Zeitung zum Klappen gebracht. Denn warum sollte ich nicht treffen, was Krupnik trifft? Und wahrlich, es war einmal ein sauberes Inserat, das die Arbeiter da zu Gesicht bekamen und das keine Schleuderpreise einer Firma pries, die man gelegentlich ja doch eine Schinderfirma nennen muß. Was dann geschah, ist noch erinnerlich. Herr Schober unternahm den dreisten Bruch des Kolportagegesetzes, ein Fall, der unter anderen Umständen die Arbeiter-Zeitung selbst dann zu einem preßrechtlichen Artikel alarmiert hätte, wenn die Sphäre des Übergriffs nicht der Polizeikampf selbst gewesen wäre. Da nun mein zweites Sonderheft der Fackel erschienen war und die Arbeiter-Zeitung offiziell Kenntnis von dem Kolportageverbot erlangt hatte, kam Herr Schober mit einem Notizchen davon, in der Art jener gelinden und sichtlich gedrosselten Verweise aus der Bekessy-Zeit, wo, ehe der freie Ausbruch erfolgen durfte, die »Methoden« der ›Stunde‹ getadelt waren, die post festum als der Inbegriff des Kulturverbrechens zum Himmel schrien. Die »Unüberwindlichen« erschienen wie ein Faktum erwähnt, das den Lesern der Arbeiter-Zeitung längst bekannt ist. Am 5. August nun wurde das Fest des Liedes »Die Arbeit hoch!« gefeiert, an dem – mit allem Respekt vor einer vorhandenen proletarischen Parole – wirklich mehr das Alter als der Kunstgehalt ehrwürdig empfunden wird. Die ›Rote Hilfe‹ dachte sich mit Recht, daß man die Gelegenheit benützen könnte, den Arbeitern auch ein Lied darzubieten, das einen sie unmittelbar berührenden Inhalt hat, indem doch Schober verständlicher ist als die Cheopspyramide und aktueller sogar als der Galilei, der in diesem Fall allerdings die Unbeweglichkeit bekannt hätte. Das Ergebnis des Versuches, das Schober-Lied am 5. August zu verbreiten, ist in der folgenden Zuschrift der ›Roten Hilfe‹ niedergelegt:

Wien, 6. August 1928.

... Bei der gestrigen Kolportage anläßlich des Arbeiter-Sängerfestes ist die Polizei in ganz unerhörter Weise gegen die Kolporteure vorgegangen. Wir hatten an vielen Stellen das »Schoberlied« kolportiert und zwar hauptsächlich in der Hauptallee und in der Nähe der Sängerhalle. Die Ausgabe hatte einen glänzenden Absatz. Nach einer Stunde Arbeit wurden jedoch unsere Kolporteure verhaftet. – –

Der in dem Polizeikommissariat Ausstellungsstraße diensthabende Wachmann – sein Name konnte bisher nicht festgestellt werden, wir bemühen uns aber, diese Feststellung zu machen – sagte einem unserer Kolporteure, indem er die Hand zum Schlage ausholte, folgendes: Schon wieder einer von Ihrer Rass und von Ihrem Charakter, denn nur solche Leute können solche niedrige Lieder gegen unseren Polizeipräsidenten verkaufen! Es ist eine Schande, bei einem Sängerfest unseren Herrn Präsidenten herabzuwürdigen, haben Sie so etwas auch beim deutschen Sängerfest gesehen? ...

In diesem Tone wurde die Untersuchung fortgesetzt und daß der Polizist unserem Genossen keinen Schlag versetzt hat, ist nur dem besonnenen und energischen Verhalten des Genossen zu verdanken, der ihm sagte: Es ist keine Kunst, als Schwerbewaffneter gegen einen wehrlosen Menschen stark zu sein.

Einem anderen Kolporteur sagte derselbe Beamte: Schämt ihr euch nicht, gegen unseren Präsidenten, vor dem jeder den Hut ziehen muß, solche Lieder zu verbreiten? ... Der 15. Juli war für euch zu wenig, aber wir werden es schon besser machen. Dabei nannte der Wachmann als Beispiel einige Terrorländer, wie Italien, Ungarn und Polen u. s. w. Die Genossen wurden so lange am Kommissariate behalten, bis über sie Information eingeholt wurde, daß sie ordentlich gemeldet seien und gegen sie nichts vorliege.

Die Kolportage wäre glatt vor sich gegangen, wenn es möglich gewesen wäre, am Festplatz selbst sie zu betreiben. Das gestatteten jedoch die sozialdemokratischen Funktionäre nicht und erklärten, daß sie den Platz gemietet hätten und falls die Genossen nicht sofort weggingen, sie sie verhaften lassen würden. Die Schwierigkeiten wurden also nicht nur von der Polizei, sondern auch von den offiziellen Veranstaltern des gestrigen Arbeiter-Sängerfestes gemacht.

Wir senden heute einen Bericht an die proletarischen Pressen über die gestrigen Verhaftungen und insbesondere über die Brutalitäten der Polizei gegenüber den Kolporteuren.

Wir werden trotz diesen Erfahrungen die Kolportage fortsetzen, zumal da das Schoberlied sehr gerne gekauft wird. Wir werden über die Erfahrungen der anderen Bezirkskolporteure berichten, sobald wir Kenntnis hievon erhalten.

Ich brauche dem, der mich kennt, nicht zu sagen, daß ich die Ausforschung des sympathischen Wachebeamten veranlaßt habe und die diesbezügliche Strafamtshandlung einleiten werde. Die Arbeiter-Zeitung, der der Vorfall auf dem Kommissariat von der Roten Hilfe berichtet wurde, hat knapp erwähnt, daß Polizisten Kolporteure verhaftet haben, und auf den Landeshauptmann verwiesen, der Herrn Schober schon eines Besseren belehren werde. Daß aber die Arbeit muntrer fortfließt, wenn gute Lieder als wenn gute Reden sie begleiten, beweist die folgende drollige Mitteilung der ›Roten Hilfe‹:

Einem unserer Kolporteure, der vorgestern in der Postgasse innerhalb einer Stunde von 200 Exemplaren des Schober-Liedes 197 verkauft hatte, sind von der dortigen Wachstube die restlichen 3 konfisziert worden.

Wie energisch die Sozialdemokratie in all der Zeit bemüht war, den Kampf gegen Schober dort zu verlassen, wo ich ihn führte oder wo er in meinem Zeichen geführt wurde, zeigt am anschaulichsten der folgende Fall. Aus München kam eine Sendung:

München, den 23. Juli 1928.

An den

Verlag der Fackel

Wir erlauben uns, Sie in Kenntnis zu setzen, daß der beiliegende Brief I (zusammen mit einer Abschrift des Offenen Briefes an Schober) an die Redaktionen der folgenden Blätter abgegangen ist: Arbeiter-Zeitung, österreichischer Volkswirt, Kleines Blatt; Münchner Post, Neue Zeitung (München); Welt am Abend, Literarische Welt (Berlin); Prager Tagblatt, Prager Presse, Sozialdemokrat (Prag); Karlsbader Tagblatt; Frankfurter Zeitung; Berliner Börsencourier; Fackelreiter; Zwiebelfisch. Außerdem haben wir heute den Brief an Schober selbst eingeschrieben abgesandt und den beiliegenden Begleitbrief II mitgeschickt.

Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung

Heinrich Fischer, Dramaturg

Max Bunzl, stud. phil.


I.

An die

Redaktion der Arbeiter-Zeitung

Sehr geehrte Herren!

Der beiliegende Offene Brief an den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober wurde zuerst in München zur öffentlichen Unterzeichnung aufgelegt und hat binnen ganz kurzer Zeit in München gegen 600 Unterschriften erhalten. Unter den Persönlichkeiten, die sich dem von Heinrich Fischer und Max Bunzl initiierten Protest angeschlossen haben, befinden sich unter andern die Schriftsteller [folgen Namen]. Außer in München wurde der Offene Brief nun auch in Berlin, Hamburg, Paris, Prag, Düsseldorf und Zürich zur Unterschrift aufgelegt. Wir nehmen an, daß diese Tatsache sowie der Inhalt des Protestes für Ihre Zeitung von Interesse sein dürfte ...


II.

München, den 23. Juli 1928.

Herrn

Johann Schober, Polizeipräsident

Hierdurch teilen wir Ihnen mit, daß der beiliegende Brief zunächst in München zur öffentlichen Unterschrift aufgelegt wurde und binnen ganz kurzer Zeit gegen 600 Unterschriften erhalten hat. Unter den Unterzeichnern befinden sich u. a die folgenden: [Folgen 55 Adressen, darunter eine: München, Rückertstraße. 7]

Der Brief wurde nunmehr auch in Berlin, Hamburg, Paris, Prag, Düsseldorf und Zürich zur Unterschrift aufgelegt. Nach Abschluß der Aktion werden Ihnen die Namen der Subskribenten aus dem Ausland zugehen.

Herrn

Johann Schober,

Polizeipräsident der Stadt Wien

Dieses Schreiben soll Ihnen klarlegen, daß das Schweigen der österreichischen Presse nicht imstande ist, einen Sachverhalt zu verhüllen, der in seinem jetzigen Stadium aufgehört hat, eine bloß inner-österreichische Angelegenheit zu sein. Sie sollen wissen, daß und in welchem Maße Ihr politisches und geistiges Verhalten bei politisch und geistig interessierten Menschen Befremden erregt.

Der Herausgeber der »Fackel«, Karl Kraus, hat in den Aufsätzen »Der Herr der Republik«, »Mein Abenteuer mit Schober«, »Das Ereignis des Schweigens«, »Blut und Schmutz oder Schober entlarvt durch Bekessy« sowohl in Druckwerken, als auch in zahlreichen mündlichen Vorträgen im In- und Ausland heftige Angriffe gegen die Wiener Polizei wegen ihres Verhaltens an dem ereignisschweren 15. Juli, wie auch insbesondere in der Angelegenheit des wegen Erpressung steckbrieflich verfolgten ehemaligen Herausgebers der »Stunde«, Emmerich Bekessy, gerichtet und in dieser Angelegenheit gegen Sie den nachdrücklichen Vorwurf des Mißbrauchs der Amtsgewalt, der Lüge, der Fälschung und der Felonie erhoben .

Sie haben dieser Anschuldigung nie widersprochen, sich in keiner Weise gegen sie verwahrt und nur im Gerichtssaal zugegeben, daß es sich »um konkrete Anwürfe handele, über die Sie Ihren vorgesetzten Behörden Bericht erstattet hätten«. Dieses Forum ist unzureichend. Was Sie Ihren vorgesetzten Behörden erklären, könnte dann genügen, wenn es sich um die amtliche Anzeige eines Staatsbürgers handelte. Sie müssen einsehen, wie absurd unangemessen, wie grotesk-ohnmächtig für einen Polizeipräsidenten, der die Macht hatte, an einem Tag neunzig friedliche Bürger hinmorden zu lassen, solche Art von Replik ist. Jene geistigen Menschen Europas, die die schweren Anschuldigungen durch Karl Kraus aus der »Fackel« oder in den Vorlesungssälen von Wien, Berlin, München, Paris und Prag vernommen haben, verlangen von Ihnen nicht, daß Sie der geistigen Gewalt der polemischen Aufsätze des Karl Kraus mit ähnlichen Worten »in öffentlicher Arena« entgegentreten; sie wollen Ihnen nur, falls Sie das Gefühl Ihres guten Gewissens, das Bewußtsein erfüllter Pflicht und das Wohlwollen der öffentlichen Meinung ausschließlich aus den Versicherungen der Ihnen gesinnungsgemäß und literarisch attachierten Wiener Presse beziehen sollten, mitteilen, daß es in nicht geringer Zahl, auch außerhalb Österreichs, im Proletariat wie im Bürgertum Menschen aller Stände und vor allem aller geistigen Stände gibt, die es mit der Ehre eines der höchsten Beamten im Staate nicht vereinbar finden, die Antwort auf so »konkrete Anwürfe« in öffentlichen Angelegenheiten nur im Wege des Amtsgeheimnisses zu geben. Wenn Ihnen von einer Wiener Zeitung nachgerühmt wurde, daß Sie nicht nur eine österreichische, sondern eine europäische Figur geworden seien, so müssen Sie erfahren, daß Sie diese Berühmtheit bei vielen Menschen der besonderen Konsequenz Ihres Stillhaltens zu verdanken haben, und daß von Ihnen nun endlich ein Wort der öffentlichen Rechtfertigung erwartet wird, da sonst Gefahr bestünde, daß die europäische Figur ihren Namen ausschließlich von der Tatsache einer europäischen Blamage bezieht.

Die Verblüffung des Herrn Schober, der nach dem Ton der Einleitung eine Vertrauenskundgebung des Auslands erwarten mußte, dürfte so stark gewesen sein, daß ihm nichts übrig blieb, als zur Tagesordnung zu schreiten. Die Wichtigkeit und Verdienstlichkeit der Aktion wird kein Sozialdemokrat in Abrede stellen. Die Wiener sozialdemokratischen Blätter haben den Aufruf nicht gedruckt, mit keinem Wort erwähnt, ja den mutigen Einsendern nicht einmal geantwortet. Unter anderen Blättern des Auslands hat ihn der Prager ›Sozialdemokrat‹ aufgenommen, das Zentralorgan der tschechoslowakischen Partei, die doch in diesem Falle wirklich sagen könnte, daß sie andere Sorgen habe. Herr Schober mag aufgeatmet haben, als er den todsicher erwarteten Abdruck in der Arbeiter-Zeitung Tag für Tag vermißte. Die Unterdrückung einer publizistischen Tatsache, von der man meinen sollte, daß sie, wenn irgendwohin, so in das Zentralorgan des Kampfes gegen Schober gehört, wurde auch sonst geübt. Die Hörer der letzten Vorlesung haben auf dem Programm eine Mitteilung gefunden, die folgendermaßen lautet:

Die »Österreichische Rote Hilfe« schreibt:

Dr. Szekely, der zusammen mit Bela Kun verhaftet wurde, teilt uns folgendes mit:

Auf sein Verlangen wurde ihm Ihr Buch »Die letzten Tage der Menschheit« ins Landesgericht geschickt. Der Untersuchungsrichter Dr. Meixner teilte ihm mit, daß das Buch eingesendet wurde, jedoch mit dem Bemerken, daß dasselbe Dr. Szekely nicht ausgefolgt wird, da dieses Buch im Landesgericht nicht gelesen werden darf.

Schon vorher hatte die Rote Hilfe auch der Arbeiter-Zeitung direkt Anzeige von diesem Fall einer republikanischen Binnenzensur gemacht. Die Arbeiter-Zeitung brachte kein Wort, weil oder wiewohl ein Kommunist der Häftling war, der das Buch verlangte; weil oder wiewohl dieses »Die letzten Tage der Menschheit« waren. Und nun ein Fall der Art, wie man mit deren Autor und Vortragenden in Parteikreisen – das heißt dort, wo offenbar die Schlieferl und Tinterl ein anonymes Machtwort zu sprechen haben – umzuspringen wagt. Mit dem Mann, der sich ihnen noch nie – es wäre denn zum Sachdienst des Polizeikampfs angeboten hat. Der seltene Fall, dort brüskiert zu werden, wo man um eine Gefälligkeit gebeten wird, hat sich ereignet. Hat einer von Ihnen es vielleicht schon erlebt, daß er auf der Straße um Feuer angegangen wurde und daß ihm der Bittende noch vor Erfüllung den Rücken kehrte? Dieses Absurdum ist mir in größerem Umfang zugestoßen. Ich erhalte durch Eilboten einen Brief, der also etwas Dringendes zu enthalten scheint:

Mieterausschuß des Gemeindeneubaues Wien, 4. Juli 1928.
X. Neilreichgasse 105.

Herrn
Karl Kraus, Wien III.
Hintere Zollamtsstr. 3.

Sehr geehrter Herr Kraus!

Unser Gemeindebau wird am 21. ds. auf unser Verlangen nach Jean Jaures benannt. Wir haben den Bezirksvorstand ersucht aus dieser Feier eine Antikriegskundgebung zu machen. Wir richten an Sie die Bitte bei dieser Gelegenheit für die Arbeiter unseres Bezirkes eine Vorlesung aus Ihrem Werk »Die letzten Tage der Menschheit« zu halten.

Vielleicht interessiert es Sie zu hören, daß die französische sozialistische Partei zur Teilnahme an dieser Feier eingeladen wurde.

Wir werden uns erlauben Ihre Antwort morgen, Donnerstag, Vormittag telephonisch im Verlag einzuholen.

Wir zeichnen hochachtend

Der telephonische Anruf erfolgt nicht. Die Feier findet statt und ein Schauspieler liest aus dem »Grabmal des unbekannten Soldaten«. Am Vortag erging der folgende Brief an das Komitee:

20. Juli

Sie haben am 4. Juli mittelst Rohrpostbriefes an Herrn Karl Kraus die Einladung gelangen lassen, aus Anlaß der Eröffnung des nach Jean Jaures benannten Gemeindebaues eine Vorlesung zu halten. Sie wollten am 5. Juli telephonisch im Verlag die Antwort einholen.

Ihre Anfrage hat mindestens die Mühe der Behandlung und Erledigung erfordert und konnte für den Fall, daß diese in zustimmendem Sinne erfolgt wäre, eine besondere Einteilung, etwa auch die Änderung einer Reisedisposition, unmittelbar zur Folge haben.

Es ist nun weder am 5. Juli telephonisch im Verlag angefragt worden noch haben wir seit damals ein Wort einer Erklärung erhalten, warum dies unterlassen wurde oder daß Sie die Einladung als ungeschehen zu betrachten wünschen.

Wir können wohl annehmen, daß Sie diese Erklärung nunmehr nachholen werden.
Hochachtungsvoll

Keine Antwort. Man schickt eingeschrieben den folgenden Brief:

1. August

Da unser noch nicht beantwortetes Schreiben vom 20. Juli möglicherweise in Verlust geraten ist, senden wir Ihnen eine Kopie. Hochachtungsvoll

Keine Antwort. Man schickt nun den folgenden Brief:

19. September

Sie haben bis heute unsere Schreiben vom 20. Juli und vom 1. August unbeantwortet gelassen und somit eine Aufklärung Ihres Verhaltens verweigert. Wir möchten Sie nun daran erinnern, daß Sie am 4. Juli, um Ihre eigenartige Bewerbung schmackhafter zu machen, Herrn Karl Kraus erzählt haben, daß auch die französische sozialistische Partei zu der Teilnahme an der Feier, an der er mitwirken sollte, eingeladen wurde. Ob Sie sich gegenüber den Franzosen, die der Feier tatsächlich ferngeblieben sind, in ähnlicher Weise wie gegen den Inländer benommen haben, von dem Sie eine Vorlesung aus den »Letzten Tagen der Menschheit« begehrten, entzieht sich unserer Kenntnis. Wären jene erschienen, so hätten wir nicht verfehlt, ihnen von einem Fall Mitteilung zu machen, der in der Geschichte menschlicher Manierlosigkeit einen Markstein bedeuten dürfte. Wir stehen jedoch nicht an, Ihr Benehmen mit der Feigheit zu entschuldigen, die Sie offenbar verhindert hat, die unreinen Beweggründe zu bekennen, aus denen eine ergangene Einladung stillschweigend zurückgezogen werden und bloß als Belästigung wirken sollte. Wir gewahren hierin eine durchaus glückliche Ergänzung des Systems machtbürgerlicher Tücke, des Totschweigens und sich Totstellens, das gegen den zeitweise Umworbenen nunmehr in allen Lagern angewandt wird. Sollten Sie diese Entschuldigung nicht annehmen und darin im Gegenteil eine Kränkung erblicken, so ist Herr Karl Kraus, der die Verantwortung für dieses Schreiben trägt, bereit, Ihnen die Genugtuung eines Wahrheitsbeweises vor dem zuständigen Forum angedeihen zu lassen. Wir vermuten jedoch, daß Sie, wie Herr Schober durch den Gewerbeverein, die Rehabilitierung durch den Konsumverein vorziehen werden, um wie jener zur Tagesordnung zu schreiten.

Nachträglich kann ich verraten, daß ich zufällig nicht in der Lage gewesen wäre, dem Mann, der mich um mein Feuer bat, es zu geben. Soll ich noch von den Spielen erzählen, die der Leiter der »Kunststelle« seit Jahren aufführt, nämlich mit mir, aber ohne mich? Es hat schließlich nichts mit dem Vorwurf zu schaffen, daß eine gemeinsame gegenständliche Aktion verlassen wurde, aber es ist doch mehr als meine persönliche Angelegenheit und es kommt symptomatisch in Betracht, weil die tief bürgerliche Velleität, die ganze Halbschlächtigkeit dieser Kulturverfügung sich gerade hier und an mir zur Geltung gebracht hat: die Taktik, die ein Kunstrevolutionär »das ruhige Abwägen der Gegebenheiten und Möglichkeiten« nennt. Mein »Wolkenkuckucksheim«, dieses eigentliche Festspiel einer Republik, wurde für fünf Bühnen angezeigt und prangte zum Theaterfest der Stadt Wien in Messeprospekten. »Die letzten Tage der Menschheit« hat nur eine Bühne auf dem Repertoire, aber das ist ausgiebiger. Sie wissen doch aus unaufhörlichen Ankündigungen, daß eine »Bühnenbearbeitung« existiert? Ich nicht. Ich hatte das Werk dem Piscator verweigert, weil er mir mit sämtlichen Nachahmungen bis zur Pleite auszukommen schien und weil es ja ursprünglich einem Marstheater zugedacht war und keinem Merkurtheater. Ich hatte, trotz allen Enttäuschungen durch die Wiener Kunststelle, kein Recht, es den Wiener Arbeitern vorzuenthalten wie den Berliner Jobbern, und als mir der Leiter der Kunststelle, trotz allen Enttäuschungen durch mich, sagen ließ, es ginge der Traum seines Lebens in Erfüllung, wenn ich erlaubte, daß das neue Carl-Theater damit eröffnet würde, gab ich meine grundsätzliche Einwilligung, für den Fall, daß er einen szenischen Plan hätte. Freilich mußte ich annehmen, daß er ihn schon hatte. Kaum hatte ich eingewilligt, erschien die Ankündigung, daß das Carl-Theater mit einem Stück »Lenin« eröffnet werde. Da ich doch Zweifel äußerte, daß es die Bühnenbearbeitung der »Letzten Tage der Menschheit« sei, erschien eine pompöse Ankündigung, daß sie zur Republikfeier aufgeführt werden sollten, nach »Lenin«, »Kaiser und Galiläer«, Rehfisch und was es sonst noch gibt, das in sechs Wochen einstudiert werden kann. Später ging das Gerücht herum, sie seien für den 1. Mai geplant, und außerdem ließ mir der Leiter der Kunststelle – ich glaube vor dem 1. April – sagen, ich würde demnächst von der neuen Bühne den »Vorvertrag« erhalten. Nach einer Reihe von unbestimmteren Nachrichten und Notizen erkundigte sich eine Berliner Direktion telegraphisch mit bezahlter Antwort, wann »Die letzten Tage der Menschheit« aufgeführt würden und von wem die Bearbeitung stamme. Die Antwort lautete:

Letzte Tage kaum vor Mai. Bearbeitung unbestimmt.

Berisch

Zum Republiktag soll einem Ondit zufolge »Wilhelm Tell« aufgeführt werden, eines der wenigen Piscator-Dramen, die bestimmt nicht von mir sind. »Die letzten Tage der Menschheit«: wenn eben die vorbei sind. Ich bin überzeugt, daß der Leiter der Kunststelle nie auch nur eine Vorstellung von einer Vorstellung dieses Werkes gehabt hat. Warum er im Verein mit Herrn Berisch es im Repertoire seiner Träume hielt und ob sie geglaubt haben, mich mit Notizen zu erfreuen, weiß ich nicht. Er meint es sicherlich gut mit mir und glaubt offenbar, daß auch ich einen Lebenstraum habe, den er möglichst verlängern will. Nun schön, Epimetheus hascht nach Elpore, die »nicht zu fassen« ist. »Schmeichelnd fließt Versprechen ihr vom Mund«; mit ewigem Verwandeln täuscht sie seinen Kummer, täuscht zuletzt den Flehenden auf Ja und Ja. Ich bin in dieselbe Situation geraten, ohne zu flehen, ohne nach dem Trugbild zu haschen. Ich hasche nach gar nichts, nach keiner Aufführung und keinen Theaternotizen, sondern will Ruh haben. Mit mir macht man keine Elpores! Ich erwähne den Fall, weil er zeigt, daß ich den Kulturbestrebungen der Sozialdemokratie zwischen Totschweigen und sich Totstellen als Garnitur tauge. Drängte ich auf Entscheidung, ich erlangte sie nie, und der die Frage an mich gestellt hat, verweigert mir die Antwort. Wie sich die Bürger in »Egmont« schweigend trollen, das ist Revolution gegen das, was sich in Wien tut!

Aber Totschweigen und sich Totstellen ist wieder nichts gegen den Ausweg, mich dort noch hinauszufälschen, wo ich fataler Weise schon vorhanden bin. Und da will ich eine Geschichte erzählen, die ich bis zum Erlebnis selbst für erfunden gehalten hätte. Sie wäre, selbst wenn sie mich nicht beträfe, bloß vom Gesichtspunkt der journalistischen Norm aus eine Monstrosität, als Vergewaltigung eines Mitarbeiters, an dessen Manuskript hinterrücks die Tat begangen wurde und zwar ausschließlich aus dem Grund, weil mein Name im Spiele war. Es ist eine Angelegenheit, die den Fall Schober nicht berührt und an der mich nicht einmal die Evidenz der in Parteikreisen gegen mich vorrätigen Gesinnung erschüttert, sondern objektiv die Möglichkeit eines journalistischen Handelns, von dem sich für die künftige Meinungsbildung in sozialdemokratischen Dingen nichts Gutes erwarten läßt. Am 15. Juli erschien jene »Mitteilung aus dem Publikum«, durch die ich in den Lettern der Arbeiter-Zeitung ausgesprochen habe, wieweit ich den Begriff der »bürgerlichen Presse« gespannt sehen möchte. Wie zu innerst berechtigt diese Einschaltung war, zeigt der Fall, der sich am 12. Juli zugetragen hat und den ich trotz seiner Unscheinbarkeit für eine radikale Wesensenthüllung halte. Zum 6o. Geburtstag Stefan Georges erschien da in der Arbeiter-Zeitung ein kurzer Essai eines jungen Berliner Schriftstellers. In sämtlichen Festartikeln hatte ich Motive gefunden, die ohne die geringste Beziehung auf mein Werk der Sprachbetrachtung diesem bewußt oder unbewußt abgenommen waren. Einzig in dem Beitrag der Arbeiter-Zeitung schien die Beziehung, die sich dem kundigen Leser von selbst ergab, deutlich intendiert, aber sichtlich, ja absichtlich nicht hergestellt. War anderwärts nur die Parallele zu vermissen, so schien hier ein Kontrast betont, aber nicht zum Ausdruck gebracht, und der Abbruch war unverkennbar. Es wurde an das Problem gerührt, daß die Sprachschöpfung Georges in stofflicher Zeitferne zustandegekommen sei, und dagegen vom sozialistischen und aktivistischen Standpunkt ein Bedenken geäußert. Es war zu spüren, daß der Autor kontrasthaft vor allem an meine Arbeit gedacht hatte, was zu vermuten ich umso eher berechtigt war, als mir seine wiederholten enthusiastischen Befassungen mit ihr bekannt waren. Die Stelle lautet:

Dennoch fühlt unsereiner sich diesem Aristos heute so fremd, wie er sich von jeher unsereinem. Die Zeit, da es in »Zeitgedichten« die Zeit zu überwinden galt, ist um! Mag auch immerdar das echte Kunstwerk ins Überzeitliche ragen und im Übersinnlichen wurzeln – die jeweils gegenwärtige Zeit und ihre physischen Nöte sollten in sie eingehen. Überzeitlich aus der Sprache schaffen und in der Zeit kämpfen, das schließt einander nicht aus. »Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen; er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht« – dieser Satz Kierkegaards trifft zu, wenn ein großer Einzelner sich abschließt. Schließt er sich jedoch mit einzelnen, die Gleiches fühlen, wiewohl sie weniger vermögen, zu einer Phalanx zusammen, dann kann er der Zeit helfen ...

Es bedurfte nicht meines Verfolgungs- oder Beziehungswahns, um zu behaupten, daß hier etwas passiert war. Selbst wenn das Kierkegaard-Zitat nicht klarer Weise der Fackel entnommen und wenn es nicht einleuchtend wäre, daß der Autor hier eben dem, der es gebracht hat, sagen wollte, wie der Zeit zu helfen sei, so war an und für sich ersichtlich, daß er Beispiele oder ein Beispiel dafür, daß die Schöpfung aus dem Übersinnlichen und das Wirken in der Zeit einander nicht ausschließen, doch im Sinne hatte. Nach dem Satz vom Nichtausschließen mußte das Beispiel kommen, mußte es ausdrücklich angeführt sein, weil es ein Nonsens wäre, gegen George diese Möglichkeit als eine Wirklichkeit zu verteidigen, ohne auf der Stelle den Beweis anzutreten, daß es dergleichen geben kann, eben das Beispiel dafür zu setzen, daß es das gibt. Meinetwegen durfte er Herrn Thomas Mann anführen, aber einen Namen brauchte es, und ich durfte schon glauben, daß er den meinen im Sinne hatte. Es war mir absolut klar, daß zwischen jenem Satz und dem Kierkegaard-Zitat ein stilistisch unerläßliches Glied herausgebrochen war. Die Möglichkeit, daß der junge Schriftsteller den Gedanken, den er offenbar gedacht hatte, selbst verstümmelt hätte, um nicht bei der Redaktion der Arbeiter-Zeitung anzustoßen, wies ich ab; er mußte ja, ahnungslos wie er war, eher vermuten, daß dort, wo ich für den zweifachen Nobelpreis vorgeschlagen wurde, gegen die Nennung meines Namens in ehrendem Zusammenhang kein Vorurteil bestehe. Es war mir nun aus gutem Grunde unmöglich, bei dem jungen Schriftsteller anzufragen, und ich fürchtete schon, daß ich nie erfahren würde, was da passiert sei. Ich äußerte zu jemand die Vermutung, daß die Arbeiter-Zeitung an einem Manuskript etwas getan habe, was selbst die Neue Freie Presse nicht imstande wäre zu tun, die sich in solchem Falle wohl damit begnügen würde, dem Einsender das Manuskript zurückzustellen, wenn sie sich nicht sogar, wie es einmal geschah, entschlösse, es mit der Pein meines Namens in Kauf zu nehmen, weil sie schließlich dem Stefan Zweig die Verantwortung dafür überlassen kann, daß ich auf der Welt bin. Die amtliche Wiener Zeitung hat einem Nestroy-Forscher aus seiner Abhandlung eine Stelle über mich entfernt, aber sie war vielleicht nicht stilistisch wesentlich und es geschah wohl nicht hinter seinem Rücken. Der Bekannte, dem ich meine Entdeckung mitteilte, schwor, daß es sich erweisen werde, ich hätte mit meinem Verdacht der Arbeiter-Zeitung unrecht getan, weil eine solche Lumperei in solchen publizistischen Kreisen denn doch nicht möglich sei, eine Lumperei gegen den Einsender, dem ein geistiges Recht verkürzt wird, eine Lumperei gegen mich, dem er die geistige Ehre zuerkennen wollte. Der Bekannte zog das Absurdum der Deutung vor, daß der Autor selbst die Verstümmelung, die freilich offenbar sei, aus irgendwelchen Gründen vorgenommen und den Namen dessen, an den er zweifellos gedacht hatte und den er ehrlicher Weise nennen mußte, unterdrückt habe. Das sei eben bei aufstrebenden Literaten möglich, aber eine Schmutzerei, wie sie hier sowohl durch die Handlung wie insbesondere durch ihre Heimlichkeit begangen wäre, im Milieu einer Arbeiter-Zeitung undenkbar. Schon wegen der Dummheit einer Tat, die doch in solchem Fall schließlich ans Licht kommen mußte. Selbst daß die Stelle nach vorhergehender Anfrage entfernt worden sei, so daß zwar eine einverständliche Gemeinheit gegen mich, aber keine gegen den Autor vorläge, sei nicht anzunehmen; der müsse sie vielmehr selbst begangen haben. Am nächsten Tag erhielt der Verlag der Fackel das folgende Schreiben:

Berlin, 14. Juli 1928.

An den Verlag ›Die Fackel‹

Die Wiener Arbeiter-Zeitung enthält in ihrer Nr. 192 vom 12. Juli einen kleinen Beitrag von mir »Zum sechzigsten Geburtstag Stefan Georges«. In diesem Beitrag hat die Redaktion – außer anderen Entstellungen, die ich am Rande des beigefügten Exemplars zum Teil korrigiert habe – eine »Kürzung« vorgenommen, die ich Ihnen mitteilen muß. Der vierte Satz des letzten Absatzes lautete in meinem Manuskript: »Überzeitlich aus der Sprache schaffen und in der Zeit kämpfen, das schließt einander nicht aus; edelstes Beispiel: der Kampf, den Karl Kraus, der treueste Diener am Wort, gegen so ephemere Figuren wie Schober und Bekessy führt.« Alles, was hinter dem Semikolon steht, hat die Redaktion aus diesem Satze gestrichen – während nicht nur die linksradikale ›Neue Bücherschau‹ (Berlin), sondern sogar die bloß linksliberale ›Wahrheit‹ (Prag), wo der Beitrag gleichfalls erschien, jene Stelle gedruckt hat. Ihre Weglassung in der Wiener Arbeiter-Zeitung ist mir umso peinlicher, als dadurch das unmittelbar folgende Kierkegaard-Zitat, das ich der ›Fackel‹ verdanke, wie ein Zitat-Plagiat, und die Kritik, die ich daran übe, wie eine Krypto-Polemik gegen Karl Kraus wirkt. Ob die Arbeiter-Zeitung jene Stelle weggelassen hat, weil auch sie den Namen Karl Kraus nun preßwidrig findet, das weiß ich nicht; ich bin jedenfalls neugierig, ob sie sich morgen, am Jahrestag des Juli-Verbrechens, eines »wackeren« Polizeipräsidenten erinnert.

In höchster Achtung
ergebenst:
Franz Leschnitzer.

Sie tat es in einer Annonce. Später hat sich noch herausgestellt, daß der Autor die Redaktion auf den Satz, der ihm besonders wichtig war und auf den nach seiner Vermutung auch sie Wert legen würde, eigens hingewiesen hatte. Er drückte ihr nun sein Befremden aus; gleichwohl wurde die Wiederherstellung des textlichen Sachverhalts unterlassen. Wer wollte zweifeln, daß die Arbeiter-Zeitung befugt gewesen wäre, dem Landesgericht einen Akt von Hauszensur zum Vorwurf zu machen? Nunmehr legte der Anwalt des Autors in einem ausführlichen Schreiben der Redaktion das vielfach schwere Unrecht dar, das hier gegen eine geistige Tatsache und gegen das Recht eines Schriftstellers verübt worden war. Ein privates Wort der Versicherung, daß sie mit dem Übergriff des einzelnen Redakteurs nicht einverstanden sei und ihr die Beschämung einer öffentlichen Remedur zu erlassen bitte, hätte hingereicht. Sie erklärte sich solidarisch. Der Täter war der Kritiker, dem die Setzmaschine ein Jahr zuvor die Blamage und ich den Berichtigungsprozeß erspart hatte. Der Autor klagte beim Zivilgericht, welches sich mit der Arbeiter-Zeitung gegen den geistigen Arbeiter auf den kapitalistischen Standpunkt stellte, daß eine Redaktion mit der Honorarzahlung alle Pflicht gegenüber dem Mitarbeiter erfüllt habe und daß es ihr Recht sei, an einem Manuskript jede Änderung, also auch eine gegen den Sinn, nach Belieben vorzunehmen. Befragt, warum die Änderung im gegenständlichen Falle erfolgt sei, gab der Vertreter der Arbeiter-Zeitung »technische Gründe« an. Die Zeile, die meinen Namen nannte, hatte die Arbeiter-Zeitung ersparen müssen, weil ja sonst leicht in einem ihrer Operettenreferate oder noch üppigeren Gerichtssaalberichte aus der Welt der Gspusis eine sinnstörende Kürzung aufgefallen wäre.

Als ich dafür kämpfte, die Schutzpolizei der öffentlichen Meinung aus den Umstrickungen eines Erpressers zu befreien, als sie mir antwortete, sie hätte andere Sorgen, also lange vor der Aufraffung, mit der alles Versäumte nachgeholt wurde, weil der Dreck endlich sie selbst betraf, wurde von einem Parteikommis die Frage aufgeworfen, ob ich ein »Revolutionär« sei – von demselben Parteikommis, der hinterher die Stirn hatte, die Vertreibung des Bekessy auf das sozialdemokratische Erfolgskonto zu buchen. Der Erfolg bleibt eine zeitgeschichtliche Groteske und stets wird ernstlich nur von der publizistischen Ehrenrettung des Einen, der allzuspät eingreifen durfte, niemals von der der Partei die Rede sein. Doch ob ich ein Revolutionär bin, wird ganz gewiß nicht von jenen armen Witzhaschern entschieden werden, die seit Jahren von meinen satirischen Motiven leben und nur manchmal zu kurz kommen, wenn ihnen der Druckfehlerteufel meinen »jungen Springinsgeld« wieder auf einen Springinsfeld reduziert. (Denn solange ich nicht für meine Plagiatoren auch die Korrektur besorge, ist es nicht das wahre Leben.) Die Entscheidung, ob einer ein Revolutionär ist, habe ich schon im Oktober 1926 »mehr von geistigen Taten abhängig gemacht als von der Approbierung durch Schlieferl und Tinterl«, die ich bereits damals in jeglicher Gewandung erkannte. »Die Möglichkeit, ein Dummkopf in Reih und Glied zu sein« wollte ich zugeben, »disziplinierte Frechlinge« nannte ich ein Absurdum. Aber daß sich danach Sozialdemokraten, die von mir gelernt haben, den Kram der bürgerlichen Lebensformen satirisch zu betrachten, nicht schämten, den ältesten Ladenhüter bürgerlicher Gesinnung, den Vorwurf der Eitelkeit gegen mich zu verwenden – diese Reaktion bewies deutlich, daß sie berechtigt waren, die Frage zu stellen, ob ich ein Revolutionär sei! Antworten werden die Arbeiterauditorien, wenn sie mich hören und wenn sie das Kaliber hören, das die Frage aufwerfen darf. Und mindestens glaube ich, daß ich, wenn schon kein Revolutionär, so doch ein Bürgerschreck bin – bis zu dem Grade, daß ich Revolutionäre in Bürger verwandle und die Arbeiter-Zeitung zur Neuen Freien Presse. Mehr als das: zur Polizeidirektion! Ist denn nicht, ohne daß ich das geringste dazu tat, nein, während ich nichts tat als dastehn und einen Kampf führen, in dem jeder Revolutionär, jeder fühlende Mensch zu mir treten mußte, an mir von vermeinten Bundesgenossen eben das verübt worden, wogegen ich kämpfte? Mißbrauch der Amtsgewalt, Lüge, Fälschung und Felonie! Ist es nicht gelungen, Zug um Zug zu beweisen, daß die Bundesgenossen nicht anders an mir gehandelt haben als der Feind? In Tagen, wo ich mich gegen Troglodyten wehrte und Hakenkreuzdrohungen mir ins Haus kamen, hatten Bureaukraten, die die Jugend zu organisieren behaupten, andere Sorgen; mußte ich den Arbeitern im Inseratenwege bekanntgeben, daß ein volkstümliches Lied erschienen sei; mußte ich mit der Qual widersprechender Empfindungen, die den Stand so schwer macht, zugleich für jede Regung gegen den Feind dankbar sein und die kalte Schulter eines Verhaltens spüren, dessen psychologische Wurzel eben in der Feindeswelt lag.

Aber zum Trost, zur Erkenntnis der Menschen, die so an mir gehandelt haben, wiewohl ich nichts für mich und alles für den gemeinsamen Zweck von ihnen wollte, bewahre ich einen Satz, mit dem die Sorte ein für allemal gezeichnet ist:

Ob sie echt und wahr, oberflächlich und verlogen sind, das erkennt man daraus, wie sie zu Karl Kraus stehen.

Dieses von einem Herzen diktierte Wort der Arbeiter-Zeitung über ihre Leute, dieses Wort, das mich einmal dafür entschädigt hat, daß ich noch früher ein Verleumder war – es würde mir zwar heute kaum gelingen, es auch nur unter »Mitteilungen aus dem Publikum« in die Arbeiter-Zeitung zu lancieren und ich glaube, es wäre zum sechzigsten Geburtstag Georges gestrichen worden, weil es eben nur zu meinem fünfzigsten gepaßt hat. Aber ich halte mich an das Wort, und einmal als »Wertmesser der Literaten« eingesetzt, beharre ich dabei, daß ich es auch für die der Arbeiter-Zeitung bin, und wenn ich ihr so nicht gefallen sollte, wird sie doch nicht leugnen können, daß ich auch ihr gegenüber in bestem Glauben handle, ich, von dem sie doch gesagt hat, ich hätte »nicht eine einzige Zeile geschrieben, die nicht innerstem Antrieb entsprungen wäre«. Es ist unerläßlich geworden, daß sie als Ausdruck des Parteiwillens zu diesem Zwiespalt Stellung nimmt, damit einmal klar herausgesagt werde, ob man es vorzieht, meinen Mut der proletarischen Sache dienen zu lassen oder sein subalternes Mütchen an mir zu kühlen. Jenes wird nie von diesem abhängen. Aber mein Mut wird sich auch zu der Forderung erheben, daß unter Verzicht auf Schmutzereien, die den gemeinsamen Kampf beflecken, endlich das Bekenntnis abgelegt wird, man sei bereit, mit dem Geschmeiß tabula rasa zu machen statt sich mit ihm nach dem Muster aller bürgerlichen Ehrenkomments solidarisch zu erklären. Die Ablehnung dieser verhängnisvollsten Erbschaft des bürgerlichen Geistes, dieser Vereinsehre, in deren Zeichen jede Lumperei gedeckt wird – das ist die Tat, zu der ich der Jugend Mut von meinem Mute machen will, gegenüber den Befriedigten, die auf den Errungenschaften Siesta halten und darum von denen, die ein Ideal unzufrieden macht, verlangen, daß sie bloß Disziplin halten oder auf deutsch: das Maul! Aber gerade, weil Sie fühlen und wissen, wie wertvoll das Errungene ist, werden Sie nicht dulden, daß es zum Vorwand mißbraucht wird, geistigere Begierde zu ersticken. Ihr sozialistischer Drang kann jeden einzelnen von Ihnen vermögen, sein Leben für die Rettung tuberkulöser Kinder zu opfern, aber keinen einzigen zu der Sympathie mit einer bureaukratischen Machtverfügung, die auf den Resultaten der Gesundheitsfürsorge oder des Mieterschutzes lebenswichtige Ansprüche des antibürgerlichen Denkens abweist. Was mir widerfahren ist, sei Ihnen, so schmerzhaft Sie es mit mir empfinden mögen, nur der Stachel, der Sie antreibt, die Dinge zum Besseren zu wenden und es zu ändern, daß die überlebten Formen der Machtspielerei sich dort im wahrsten Sinne des Wortes einbürgern konnten, wo sie bloß zu vermuten dem revolutionären Glauben Lästerung bedeutet. Mein Fall sei der Wink, diese Ungeistigkeit überall aufzuscheuchen und ihr, uneingeschüchtert durch bureaukratische Drohung, mit dem Unwillen zu begegnen, der sozialistischer ist als Disziplin. Sie sind noch verdammt, einer Menschheit anzugehören, deren kapitalistischer Hochflug die Marke »Persil« zum Himmelszeichen erhoben hat. Aber wenn Sie in der Zeitung Ihrer Partei ein Wort der Befremdung über solches Zeitsymptom finden, so halten Sie ihr nur unerschrocken vor, daß der Fortschritt der Himmelsschrift sogar ihren Annoncenteil erreicht hat; fragen Sie sie, ob diese Gleichzeitigkeit von Kulturkritik und kommerzieller Anpassung mehr für die Unabhängigkeit des redaktionellen oder des administrativen Teiles zeuge, und sagen Sie ihr, daß dieser Zwiespalt abscheulicher sei als das klare Persil am Himmel! Werden Sie ungeduldig, wo das ruhige Abwägen der Gegebenheiten und Möglichkeiten betrieben wird! Und wenn Ihnen dann wieder in flachster Begeisterung für einen technischen Fortschritt, der so überwältigend ist, daß er vom geistigen Rückschritt stündlich überholt wird, der Leitartikler davon schwärmt, daß Nordpolflieger die Hilfe einer in Erbarmen geeinten Menschheit durch das All herbeirufen können – so fragen Sie ihn als Sozialisten, die Sie sind, ob der Fortschritt auch jedem, der in Lebensnot verreckt, ohne sein Lebtag aus seinem Hundeloch herausgekommen zu sein, einen Funkapparat garantiert, und ob im Gebrauchsfalle die Menschheit zur Rettung herbeieilen würde! Lernen Sie Verachtung für die sozialistisch verkappten Emissäre der alten Geisteswelt, die Ihren Hunger mit den mitgebrachten Brocken abspeisen möchten und optimistische Gemeinplätze zur Siedelung empfehlen. Und wenn Ihrem Ungestüm entgegengehalten wird, daß die Probleme der leiblichen Wohlfahrt erst unter Dach gebracht werden müssen und daß diese Sorge alles Kulturverlangen zum Übermut stemple, so mißtrauen Sie einer Führung, die das primum vivere so banausenhaft traktiert, daß hinter diesem Primat keine höhere Verheißung mehr sichtbar wird als die lässige Hand, die die Reste vom Tische der bürgerlichen Kultur verabreicht – ein Ersatz, dem wir den Verzicht vorziehen; ein Trost, mit dem verglichen die gefühlte Tragik dieser Erdgebundenheit Erhebung wäre. Mißtrauen Sie schon der Sprache, die Ihnen so vordergrundhaft die sozialen Dinge schlichtet! Die Meinung täusche nicht über die bürgerliche Denkform, die in jedem Tonfall zu fassen ist; über eine Unwesenhaftigkeit, die doch nur des liberaleren Pulses entbehrt, den der Karnpfstil der Älteren besaß. Aus diesem Geist würde die Welt, auch wenn sie ihm längst das Dach überm Kopf verdankte, um keinen Zoll fortbewegt! Es gilt, vor dieser Entwicklungsbureaukratie auf der Hut zu sein; aber Ihre Sache ist es nicht, sich gleich mir von ihr das Leben vergällen zu lassen. Ich freilich muß sie mit allem, was sie mir angetan hat, mit allen ihren Gegebenheiten und Möglichkeiten einbeziehen in den Bereich des Unerträglichen, des unverrückbar Hiesigen, das mich nicht mehr dauernd umgeben darf, wenn mich noch das Betreten dieser Insel beglücken soll. Ich habe mehr Nächte hindurch als Bismarck gehaßt und dieser Haß hat mich jung erhalten und bereit zur Liebe einer Menschheit, die ich vergebens in diesem Zerrbild suche. Aber die Menschheit ist es, was ich im tiefsten Grunde bejahe, nicht die Nation, der ich im tiefsten Grunde abgeneigt bin, und da gilt keineswegs, daß ich zu jenen Raunzern gehöre, von denen es immer begütigend heißt, daß sie ja doch nur das Österreichertum tadeln, weil verirrte Liebe ihr ganzer Zorn ist. ja, Schmarren! Schubert aus Schweineschmalz! »Aus Tod wird Tanz, aus Haß wird Gspaß« meint das österreichische Antlitz des fidelen Henkers. Aber so invertieren wir nicht! Liebe zu einer Nation, deren Bodenständigste einen Schlächter, der vom Menschenmord freigesprochen ward, mit dem Ruf umjauchzten: »Heil! Wir essen nur noch Wagner-Würstel!« Nein, aller Unrat dieser Örtlichkeit hat sich mir immer und heute mehr als je in den Phäakalien offenbart, die mit einer Unbefangenheit ohnegleichen der Welt dargeboten werden, während ich vor Scham versinken möchte, tiefbewußt, daß die Vögel, die ihr eigenes Nest beschmutzen, doch nur die sind, die darin nichts als das Geschäft der Verdauung leisten. Und meine Landsleute können es von mir noch erleben – aber diesen letzten Streich behalte ich mir vor –, daß ich vor aller Welt bekenne, wo anders sei sogar das Rindfleisch besser! Wenn ich das ausgesprochen haben werde, wird man zugeben, daß der Timon von Athen ein Lokalpatriot gegen mich war. Aber mein Haß, er hat vielleicht doch etwas hervorgebracht, was den Zukunftsfähigen dieser Region nützen kann, wenigstens durch das Beispiel der Verantwortung, mit der der Einzelne einer Vielheit gegenüberstand, deren Haß noch weit größer war. Denn in diesem Haß hat sich nach zehn Jahren der Freiheit der Begriff von bürgerlicher Einheitsliste so erfüllt, daß er noch die Gegenpartei erfaßte. Mögen Sie in dieser so wirken, daß ihr selbst nutzbringend ein moralischer Schauder davon verbleibe, wie sie an dem Fall eines Kämpfers für die Sache der Freiheit in die heillose Verbindung mit allem Bürgerlichen geraten war. Mir aber bleibt nach dieser dreißigjährigen Niederlage, die alle jüngeren ermutigen könnte, die Parole: Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Osterreicher!


 << zurück weiter >>