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9.

»Hören Sie, Doktor«, sagte er am andern Tage zu Apotheker Dähne, der, von Haarbalsamdüften umwogt, in seinem »Laboratorium« stand, wie ein Gefangener seine Arbeit verrichtete und nun beim unverhofften Auftauchen seines Gebieters leicht zusammenschreckte. »Hören Sie, Doktor, haben Sie nicht ein neues Mittel gegen rote Hände?« Er wollte schon hinzufügen, daß er gerne einen Extrataler springen lassen würde, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß er dafür am nächsten Sonntag zwei anständige Buketts bekommen könne und daß dieser Geschäftssklave ohnedies verpflichtet sei, etwas zur Verschönerung seines Chefs beizutragen.

Dähne strich mit den befetteten Fingern an seinem schmutzigen Kittel hinunter und lächelte blöde, wie ein halb Stumpfsinniger, der erst allmählich aus seiner Betäubung erwacht. Sobald er nüchtern war, sprach er nicht viel; erst der Alkohol heizte seinen Geist und ließ zur Nacht den andern in ihm auferstehen, den er am Tage unterdrücken mußte. Er war grauer geworden; lange Strähnen des wirren Haares umschlängelten seine Glatze, und unter den glanzlosen Augen lagen jene tiefen, von Krähenfüßen durchfurchten Säcke, die ihm das Kneipenlaster aufgedrückt hatte. Der breite Rücken seiner mächtigen Gestalt war krumm geworden durch das ewige Bücken über seine Mischungen. Trotzdem empfand er nicht das Unwürdige seiner Tätigkeit, die ihm wie ein notwendiges Übel erschien, über das er mit aufgezwungener Enthaltsamkeit hinwegkommen müsse.

Noch im vergangenen Winter hatte er Gläser eine Art von Cremesalbe verschrieben, weil dieser behauptete, das übliche Glyzerin vertreibe ihm doch nicht die alte Röte, die merkwürdigerweise an gewissen Tagen immer wiederkehrte. Dähne ergriff die Hände, betrachtete sie wie ein Arzt und sprach seine Verwunderung über diese sonderbare Erscheinung aus, die er schon längst verschwunden glaubte. Endlich aber sagte er: »Mein verehrter Gönner, Pardon – Herr Gönner wollte ich sagen – da dürfte wohl schließlich nur noch eine Schwefelpaste helfen, die die Röte herauszieht. Wenn Sie es richtig und andauernd anwenden, dann wird's werden. Aber vier Wochen wird es dauern. Immer des Nachts auflegen, womöglich am Tage aufbehalten.«

»Sie sind ein gelehrtes Schaf«, erwiderte Gläser, ärgerlich darüber, diese Aussicht für den Sonntag zu empfangen, wo er unmöglich in Glacéhandschuhen an der Tafel sitzen konnte.

»Nun, dann versuchen Sie's vorläufig mit Puder, mein hoher Gönner«, sagte Dähne wieder und rieb sich mit dem schmutzigen Daumen die massive Nase, gleichsam, als wollte er unbewußt andeuten, daß auch bei ihm an dieser Stelle unvergängliche Röte vorhanden sei.

Gläser empfand den Spott dieser Vertraulichkeit, aber wie immer wehrlos dagegen, konnte er nur aufbrausen: »Ich bin weder Ihr Gönner noch Ihr hoher Gönner, verstehen Sie? Sondern Ihr Chef, verstehen Sie? Ich habe Ihnen das bereits mehrmals angedeutet. Die alten Zeiten sind vorüber ... Übrigens wird Ihr Balsam immer mangelhafter, die Kunden beschweren sich dutzendweise darüber ... Ich werde mich nach einer anderen Kraft umsehen müssen.«

Er ging hinaus und warf klirrend die Glastür hinter sich zu, während Dähne mit ausgebreiteten Händen in seinem Laboratorium stehen blieb, gleich einem gedrückten Manne, dem man das letzte Wort abgeschnitten hat. Solche Szenen ereigneten sich öfter, ohne daß sie jedoch ein ernstes Zerwürfnis im Gefolge hatten. Beide wußten, daß sie einander wert waren, und daß die Gewohnheit sie zusammengekittet hatte wie zwei Körper ungleicher Größe, die, lose geworden, sich immer aufs neue suchen. Es dauerte auch nicht lange, so steckte Gläser wieder den Kopf hinein und rief dem Küchenmeister in der alten gewöhnlichen Tonart zu: »Die Schwefelpaste könnten Sie mir doch verschreiben, lieber Doktor. Dann machen Sie für mich eine Flasche extrafeinen Balsam zurecht, stark und rasch wirkend, wissen Sie – einen, wonach die Haare in der Nacht wachsen.«

Das war ein besonderer Witz zwischen ihnen, den sie sich aber nur unter vier Augen leisteten. Dähne, der bereits um den Taler gefürchtet hatte, lachte und machte seine Verbeugung nach der Glastür zu, erfreut darüber, sich die Gunst für die nächsten Tage wieder erworben zu haben. Und mit ausdruckslosem Gesicht, ging er, wie ein Tagwandler, in dem engen Raum von einem Tisch zum andern und stampfte und goß und rührte ...

Am Sonntag belegte Frau Teichert Gläser sofort mit Beschlag und führte ihn in das kleine einfenstrige Vorderzimmer, bevor er dazu kam, sich des zweiten Rosenstraußes zu entledigen.

»Sie dürfen hoffen, seien Sie nur recht nett zu Klothilde«, raunte sie ihm rasch zu, während aus einem der andern Räume lustiges Geplauder hereindrang, das ihn unangenehm berührte, weil ein vorlauter Mann die Hauptrolle dabei spielte. Sie merkte ihm die Mißstimmung an und klärte ihn auf: »Es sind nur Herbstens, Bruder und Schwester. Wir haben kein Geheimnis vor ihnen, Sie dürfen also ganz beruhigt sein. Wenn Sie mal für den jungen Menschen etwas tun könnten, würde er Ihnen sicher dankbar sein. Gewiß haben Sie doch allerlei Beziehungen ...«

Trotzdem er ärgerlich war, fühlte er sich durch die letzten Worte zu einer gewissen Größe gestempelt, und seine Sicherheit wuchs bedeutend, als Frau Teichert ganz von selbst auf ihren Besuch bei ihm zu sprechen kam und lebhaft bedauerte, ihn nicht angetroffen zu haben, weil er bereits auf dem Gang zur Börse gewesen sei. Daher also dieser plötzliche Umschwung, wie er richtig angenommen hatte! Natürlich, so etwas zog immer! Gläser, dessen Taille ein gut sitzender Gehrock umschloß, reckte den wohlfrisierten Kopf aus dem Stehkragen mit weißer Binde heraus und erwiderte wie ein richtiger Wichtigtuer: »Ja, man muß die Konjunkturen wahrnehmen. Ich fixe jetzt in gewissen Eisenbahn-Aktien, das sollten Sie auch einmal tun. Dann könnten Sie bald Ihr Vermögen verdoppeln.« Fortwährend sah er ihren falschen Scheitel an, was sie fast in Verlegenheit brachte, denn sie witterte seinen scharfen Blick. Um ihn daher auf andere Gedanken zu bringen, fuhr sie in ihren Ermahnungen fort: »Seien Sie nur recht lieb und aufmerksam zu meiner Tochter, hören Sie? So ist sie noch am besten zu gewinnen. Und dann nehmen Sie es ihr nicht übel, wenn sie ein Wort zuviel sagt. Sie ist nun mal ein ausgelassenes Mädchen. Und wenn Sie heute zufrieden mit ihr sind, dann sprechen wir nächste Woche ein ganz ernstes Wort ... Übrigens danke ich Ihnen noch für die schönen Maiblumen.«

Gläser glaubte in Wonne zu schwimmen, als Klothilde ihm mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegenstreckte und sofort ihr Näschen in die dunkelroten Rosen vergrub, die sie mit Dank angenommen hatte. Eine völlig Andere stand vor ihm, ein Wesen mit unberechenbarem Sinn, das ihn nicht mehr wie früher übersah, sondern ihn als vollwertigen Mann betrachtete. Durchaus ernst stellte sie vor: »Herr Kaufmann Gläser – meine Freundin, Fräulein Herbst ... Herr Referendar Herbst.«

Ein geschniegelter Mensch, hübsch und geschmeidig, verbeugte sich zugleich mit einer schlanken, sommersprossigen Hellblondine, auf deren pikantem Gesicht der letzte Glanz einer abgestandenen Schönheit lag.

»Freut mich sehr«, sagte Gläser und reichte ihnen mit plumper Vertraulichkeit zugleich beide Hände, die noch immer in den neuen Glacés steckten; dann aber, als er ein paar Worte mit Klothilde wechselte, gefiel ihm das heimliche Lachen von Bruder und Schwester nicht, die hinter seinem Rücken etwas Bedeutsames zu sagen schienen.

»Nun, haben Sie wieder etwas von Ihrem Schützling gehört?« begann Klothilde, um über die Verlegenheit hinwegzukommen, denn sie ahnte, was zwischen den Beobachtern vorging. Ein kaum merkliches Hohnzucken umspielte ihre Lippen, und ein unbestimmter Ausdruck schwamm in ihren großen Augen, wie trübes Licht auf grünschillernden Riesentropfen.

Eine schöne, verbrauchte Larve stand vor Gläser, aber er sah es nicht; sein beweglicher Blick umfaßte nur ihre üppige Gestalt und den weißen, vollen Hals, der frei im Ausschnitt der seidenen Bluse lag. Und er hätte ihr zurufen mögen: »Frag' doch nicht danach! Was geht dich dieses dumme Mädel an? Laß uns vergnügt sein! Ich freue mich, daß du heute so vernünftig bist. Gib mir die Hand und sage ja, denn sicher hat dir deine Mutter schon alles gesteckt.«

Er zuckte mit den Achseln und sagte wegwerfend, während er Unbehagen empfand: »Die ist wahrscheinlich schon perdu. Was kümmert mich das Frauenzimmer überhaupt, reden wir nicht darüber.« Dabei blickte er an ihr vorüber und in das große Speisezimmer hinein, eigentlich aber sah er ins Wesenlose.

»Ja, Mama hat mir schon erzählt. Recht schade eigentlich, denn ich habe sie ganz gern gehabt.«

»Ich auch«, erwiderte Gläser, aber nur in Gedanken. Lautes Kichern am Fenster stimmte ihn noch verdrießlicher. Es war immer, als lachte man über ihn.

Man ging zu Tisch, denn die Suppe dampfte schon. Gläser saß neben Klothilde, ganz wie ein richtiger Zukünftiger, der die Tochter vom Hause auszuzeichnen hat. Er hatte sich endlich die Handschuhe abgestreift und musterte nun rasch unter der Tafel die mit Puder beriebenen Hände, die ein scheckiges Aussehen bekommen hatten. Ärgerlich darüber wischte er verstohlen den letzten Staub von den Fingern und setzte sich dann kühn über alles hinweg. Diese Hände verstanden das Gold schon zu wägen, und wenn sie dem stolzen Mädchen erst das Brautgeschenk zutragen würden, dann sollte niemand mehr die Nase darüber rümpfen. Deutlich sah er, wie Klothildes Blick an ihnen hängen blieb und dann immer wieder darauf zurückkehrte. Etwas Unangenehmes sprach aus ihrem Auge, etwas, was ihr den Appetit zu nehmen drohte. Er merkte es wohl, wenn sie seitwärts schielte, neugierig, als hätte sie eine Merkwürdigkeit zu ihrer Linken, die ebenso anzieht wie abstößt. »Nun erst recht!« dachte er und prahlte förmlich mit diesen Menschenpfoten, die er nicht mehr unterzubringen wußte, als die Suppe ausgelöffelt war.

Man sprach nicht viel, denn etwas Beängstigendes lag in diesem halbdunklen Hinterzimmer, dessen ganze Einrichtung Gläser bereits aus der Schilderung Annas kannte. Er hätte gar nicht aufzublicken brauchen, um zu sagen: hier steht das und dort steht jenes. Im Geiste sah er fortwährend die frühere Braut um die Tafel streichen und die Handreichungen tun; und als das Mädchen die Teller wechselte und den Arm an ihm vorbeistreckte, zuckte er unwillkürlich zusammen beim Anblick derselben Blusenfarbe, die die Verstoßene getragen hatte.

»Sie haben eine große Gründung vor, wie ich gehört habe?« frug Herbst plötzlich, der ihm gegenübersaß und fortwährend seinen flotten Schnurrbart strich, sobald er nicht beschäftigt war. Die weißen, zierlichen Hände dieses ewig spöttisch dreinblickenden Menschen hatten Gläser längst innerlich wütend gestimmt, weil er sie wie eine Herausforderung betrachtete; und so dachte er bei sich: Warte nur, Jüngelchen, ich will dir schon Hochachtung vor mir beibringen. »Ja, die habe ich allerdings vor«, sagte er mit der eisernen Stirn des großen Schwindlers. »Wir sind dabei, ein Konsortium zu gründen ... es handelt sich um Millionen, ich werde natürlich in das Direktorium treten ... Erste Bankfirmen werden die Emission übernehmen. Selbstverständlich muß ich die Sache mit Diskretion behandeln. Aber noch gestern sagte mir Fromhardt, einer der Prokuristen von Bleichröder, daß wir kolossal reüssieren würden. Ja, ich habe jetzt ein bißchen viel zu tun.«

Sein strenger Ernst verscheuchte das Lächeln von dem Gesicht des andern, der nur ein verblüfftes »So« hervorbrachte. Alle saßen da wie in einem Zauberbann und sahen ihn an wie ein Götzenbild, das durch den Augenblick geweiht ist. Frau Teichert war die erste, die wieder in Bewegung geriet und wie eine glückliche Hausmutter sagte: »Aber so greifen Sie doch zu, Herr Gläser, darf ich bitten? ...« Sie schob ihm nochmals die Schüssel mit Geflügel hin, aus der er sich noch ein Stück wählte und dabei unverfroren fortfuhr: »Wir haben natürlich schon unsern Syndikus, aber ein paar Unterkräfte wären immer noch zu gebrauchen. Dafür hat man ja stets Verwendung. Wenn Sie also vielleicht bereit wären – Ich hörte schon von Frau Direktor, daß Sie ins Verwaltungsfach übertreten wollten. Weshalb sollte ich Sie nicht protegieren?« Seine kleinen, grauen Augen ruhten fest auf Herbst, als wollte er sagen: »Sieh nur, wie ich dich gedeppt habe, du Floh, du! der du von einem Weib zum andern hopst; denn danach siehst du aus. Blick' auf mich, ich bin der Tiger, der mit beiden Pranken zuschlägt und festhält, was er hat, ob Blut rinnt oder nicht; denn ich will

Herbst neigte den Kopf wie zustimmend, blieb aber stumm unter der Wucht dieses Überfalls, der ihm leichte Röte ins Gesicht getrieben hatte. Dafür ließ aber Agnes ihr Geschnatter los, mit dem sie bis jetzt hatte zurückhalten müssen. »Oh, wenn Sie das tun wollten, dann würde Ihnen meine Mama sehr dankbar sein. Und Oskar auch, nicht wahr, du?« Sie wurde so lebendig, daß sie ihrem Bruder auf den Leib rückte, der sie, unangenehm berührt von dieser Bevormundung, ärgerlich unterbrechen wollte, aber kein Glück damit hatte. »Laß mich doch, laß mich doch!« wehrte sie ihn ab. »Es ist doch wahr!« Ihr Alter siegte über seine Jugend, und wie ein aufgezogener Triesel schnarrte sie nun alles ab, was sie auf dem Herzen hatte. »... Mein Bruder, ich kann Ihnen sagen ... ein famoser Mensch. Die kniffigsten Dinge versteht er; und schneidig ist er auch, das sehen Sie ja. Meine Mama, ich kann Ihnen sagen ... und ich ... wir drei überhaupt ... Beehren Sie uns doch einmal, wir würden uns alle sehr freuen. Sehen Sie sich gleich meine Bilder an, ich male nämlich ... sehr flott.« Nach einer großen Atemschöpfung ging es aufs neue los. »Mein Bruder ... meine Mama ... und ich.« Dann wieder umgekehrt dasselbe; und schließlich gänzliche Erschöpfung in den Worten: »Wir haben sehr netten Verkehr und würden uns wirklich freuen. Oskar, gib doch deine Karte. Papa war Universitätsprofessor. Der Name wird Ihnen gewiß bekannt sein. Wir hatten eine kleine Villa in Grünau. Oh, da ist es schön, wissen Sie.«

Oskar stieß sie mit dem Ellbogen von sich und raunte ihr zu: »So schweig' doch still!« Entschieden hatte sie zuviel von dem schlechten Rotwein getrunken, denn sie drehte mit den dünnen Fingern fortwährend das Glas, was nicht nur wie Spielerei aussah. Klothilde warf ihr einen Blick der Mißbilligung zu und schüttelte stumm mit dem Kopfe. Und auch Frau Teichert sah große Aufdringlichkeit in diesem Wortschwall, denn es war ihr, als ginge dieses sonst gut gelittene Mädchen plötzlich darauf aus, den Mann des Tages in das andere Lager zu ziehen.

Frau Teichert hatte die Tafel aufgehoben und stand nun plaudernd mit Gläser am breiten Eckfenster des Speisezimmers, durch das man in den blühenden Garten hinter dem Hause blicken konnte. Sie hatte Gläser einige Minuten zurückgehalten, um Besonderes mit ihm zu besprechen. »Nun, sind Sie mit mir zufrieden?« fragte sie neckisch, wie verjüngt. »Ist Klothilde nicht ganz anders seit dem letzten Male? Ja, sie hat ihr Köpfchen für sich, aber Sie können sich freuen, Sie haben Eindruck gemacht. Und blühend sieht sie heute aus, wie?«

Gläser nickte, den Blick immer durch den offenen Vorhang nach vorn gerichtet, wo die drei Übrigen standen, während er bei sich dachte: »Schwatz' doch nicht, Alte, biete sie doch nicht so an, ich seh' ja alles.« Nun, wo er sich einbildete, halb und halb Klothilde durch sich selbst gewonnen zu haben, war er kühner geworden; und nicht zum zweiten Male hätte er solche glühenden Worte zu Frau Teichert gesprochen, wie vor Wochen. Sie entschuldigte sich einige Augenblicke, um rasch in das frühere Arbeitszimmer ihres Seligen zu gehen und Zigarren zu holen, die dort standen. Und Gläser benutzte diese Gelegenheit, um an das breite, geschnitzte Büfett zu treten, eine glitzernde Zuckerdose zu nehmen und nach dem Silberstempel zu sehen. Sie war echt, also waren jedenfalls auch alle übrigen Prunksachen von gleichem Werte, insbesondere die großen Kandelaber, die auf dem Kamine standen und die ihn gleich beim Hereintreten gereizt hatten. Alles schwere Gegenstände, die Klothilde einmal erben mußte. Die kleine Tür dort drüben führte zu ihrem Schlafzimmer, das wußte er aus Annas Schilderung. Er blickte sich um, und als er sich unbeobachtet sah, schritt er kühn darauf los, öffnete sie und warf einen Blick hinein wie ein Dieb, der etwas erspähen will. Süßlicher Duft drang ihm entgegen; er sah einen Kleiderständer mit seidenen Röcken, verlockendes Spitzengewebe und all die Heimlichkeiten, die ein Mädchenzimmer ausmachen.

Helles Lachen schreckte ihn zusammen; rasch schloß er die Tür wieder und trat auf den Grünpapagei zu, der sich in dem großen Messingbauer in der Nähe des Fensters wiegte und gegen Fremde bissig war. Trotzdem Gläser Kenntnis davon durch die Schiman hatte, steckte er die Finger in den Käfig, und als das Tier losschnappen wollte, blökte er es an und sagte: »Dummer Kerl, benimm dich anständig! Vergiß nicht, mit wem du es zu tun hast!« Er drohte mit der roten Faust, so daß der Papagei die Flügel spannte und laut aufkreischte.

»Reizen darf man ihn nicht«, sagte Frau Teichert und reichte ihm die Kiste mit Zigarren hin.

»Mich auch nicht«, gab er zurück und zeigte lächelnd seine spitzen Zähne; dabei schweifte sein Blick abermals nach dem Musikzimmer vorne. Dort zündeten sich Bruder und Schwester gerade Zigaretten an, während Klothilde es heute verschmähte, zu rauchen.

Agnes zog sie damit auf. »Sage mal, du bist doch sonst nicht so; aber ich weiß schon, warum! Er soll es nicht sehen, wie? Hör' mal, kannst du dich verstellen! Möchtest du ihn wirklich haben, wie? Mir könnte man ihn schenken, ich würde ihn nicht nehmen.«

Klothilde blieb ernst. »Rede doch nicht!« gab sie dann würdevoll zurück. »Alle zehn Finger würdest du ausstrecken, wenn er nur zu euch käme. Aber du siehst ja, er ist gar nicht eingegangen auf deine Einladung.«

»Klothilde, sei nicht boshaft, ich bitte dich. So einen bekomme ich noch jeden Tag. Hast du denn die Hände gesehen? Mädel, ich begreife dich nicht.«

Klothilde schäumte. »So einen? Du, das verbitte ich mir. Es ist ein durchaus anständiger Mann und unser Gast, verstehst du? Laß das um Himmels willen Mama nicht hören, sie hat ihn schon in ihr Herz geschlossen.«

Agnes war der Zigarettendampf in die Augen gedrungen, so daß sie ihr übergingen. Ein Weilchen war sie sprachlos, dann schnatterte sie: »Oskar, was sagst du dazu? Sie hat wirklich ernste Absichten, und noch neulich machte sie sich lustig über dieses ›Vieh‹, wie sie sagte.«

Klothilde spielte die Gleichmütige. »Ja, sieh mal, Kind, da wußte ich noch nicht, daß er mich haben wollte, wie ich bin ... und daß er mir hunderttausend Mark als Hochzeitsgeschenk zu Füßen legen würde. Denk' einmal! Wenn dir das passierte, dann wäre euch allen geholfen und ihr kämt endlich mal aus euern Schulden.« Und die Erstarrung der Freundin benutzend, schloß sie sieghaft: »Nun, siehst du, so ist es! Wärst du ein Mann, würde ich sagen: ›Küss' mir die Hand vor Bewunderung!‹«

Agnes lachte krampfhaft und lautlos in sich hinein. »Weiß er denn schon, wie alt du bist?« stieß sie dann mit rotem Gesicht hervor. »Du siehst ja heute mächtig auf uns herab, nicht wahr, Oskar?«

Oskar hörte den kleinen Zank schweigend mit an und hob nur ein wenig die Schultern. Mochten diese reifen Dinger ruhig auf sich losgehen – er wollte sich hüten, ein Wort hineinzureden, denn er hatte sich längst mit Klothilde ausgesprochen. Er wußte, sie hätte ihn nicht geheiratet, auch wenn sie zehn Jahre jünger gewesen wäre, und er hätte sich dann auch vielleicht besonnen, trotzdem sie sich immer gern gehabt hatten, unerlaubt gern sogar; denn beide würden sich niemals in der Ehe vertragen haben. Und jetzt? Du lieber Himmel – jetzt hatte er noch ein Schock Aussichten, und sie ein Sechzigstel davon. Er brauchte sich also nicht zu wundern, wenn sie daran festhielt, zähe wie der verkörperte Verstand, der sich in der Gewalt hat und nach Belieben wankelmütig werden kann. Und doch war sie noch ein hübsches Mädchen, verführerisch, mit einem Stich ins Frauenhafte – ein reifer, abgefallener Pfirsich, den er schon in seiner Hand gewogen hatte.

Endlich sagte er doch: »Agnes, sei nicht neidisch ... weshalb bist du nicht früher aufgestanden. So einen Schwager zum Anpumpen, weißt du, den hab' ich mir eigentlich immer gewünscht.«

»Natürlich, du,« zischelte sie ihn an. »Überhaupt ihr beide! Tut doch nur nicht so – ich weiß Bescheid. ›Er war Referendar, gewesener sogar, und sie hatte auch nichts.‹«

»Wirst du wohl –!« Klothilde hielt ihr den Mund zu, und sofort hatten sie ausgeschmollt. Beide umfaßten sich dann und drehten sich kichernd im Kreise herum.

Gläser sah es vom Hinterzimmer aus und reckte wie neidisch den Hals, während Frau Teichert ihn noch immer festhielt und lachend sagte: »Das reine Kind, nicht wahr? So ist sie nun manchmal. Faxen kann sie machen, sag' ich Ihnen ... Also hören Sie, mein Lieber. Nächsten Donnerstag nachmittag machen wir einen Ausflug. Nur ich und Klothilde. Wenn Sie dabei sein wollen ... wir können ja noch darüber sprechen.«

Gläser nickte zustimmend, spitzte aber die großen Ohren, um von der Unterhaltung der andern etwas aufzufangen, was ihm aber nicht gelang. Während seine Gedanken bei Klothilde waren, betrachtete er immer den falschen Scheitel der Alten, von dem fast unwiderstehlichen Drang erfüllt, einmal mit der Hand darüber zu fahren, um ihr seine Kenntnis davon verständlich zu machen. Dann zuckte er wieder unwillkürlich zusammen, denn die Tür zu dem hinteren Gange hatte sich geöffnet und das Hausmädchen mit der drohenden Bluse war wieder eingetreten, um die letzte Tafelräumung vorzunehmen. Diese Hintertreppenfee hatte überhaupt in ihrem ganzen Wesen eine gewisse Ähnlichkeit mit Anna Schiman, namentlich in der Art, wie sie ihre Augen spielen ließ und bei jeder Anrede den Mund zur Freundlichkeit verzog. Merkwürdig, daß ihm der Anblick dieses Mädchens die Laune verdarb und daß er sie weit hinwegwünschte, denn schon zur Zeit Annas war sie hier im Hause gewesen. Aber plötzlich spielte in diesen Ärger die Sehnsucht hinein, einmal ein paar Worte mit ihr zu wechseln, sie nach der Landsmännin zu fragen und zu sehen, was dabei herauskäme. Sie blickte ihn so verwegen an, als wollte sie jedesmal sagen: »Du bist mir auch der Rechte! Erst poussierst du die Dienerin und dann die Herrin.«

Vorne ging die Unterhaltung weiter. »Na also! Da habt ihr euch ja wieder«, sagte Herbst und verfolgte mit seinem Blick die Körperlinien Klothildes, die nur Rundungen hatten, und erfreute sich daran, wie sich bei der raschen Drehung das Blut in die Wangen der Geliebten ergoß.

»Hör' mal,« sagte dann Agnes, ganz außer Atem, »nun mach' ihn ganz verrückt, den da hinten, und singe dein berühmtes: ›Das Meer erglänzte weit hinaus‹.«

»Dann bleibt kein Auge trocken«, warf Oskar spöttisch, mit komisch verdrehten Augen ein.

Bruder und Schwester lachten, denn dieses Lied pflegte Klothilde mit Vorliebe anzustimmen, sobald ein »Reeller« festgehalten werden sollte. Der letzte, Röderlich, hatte es besonders oft zu kosten bekommen, weil er stets mit der Behauptung gekommen war, er fühle sich seiner Braut unsagbar nähergerückt, sobald er mit ihr in Gedanken im einsamen Fischerhause »still und allein« sitzen könne. Und dabei ahnten sie nicht, daß dieser Herzensdieb seine Teilnahme nur heuchelte, um Mutter und Tochter bei Stimmung zu erhalten und sie in der schmutzigsten Weise auszunutzen.

»Du, wenn das in der Abenddämmerung gesungen wird, dann heulen die Hunde vor Wehmut«, sagte Oskar wieder, um Klothilde zu necken, die jedoch ärgerlich wurde und sich diesen Spott ernstlich verbat. Sie hatte vorläufig genug von diesem Sirenengesang, den sie sicher nicht mehr ertönen lassen würde in Erinnerung an das Pech, das sie mit dreien gehabt hatte. Und nun gerade Gläser gegenüber! »Das fehlte auch noch!« sagte sie grollend, mit einem häßlichen Lachen, eigentlich mehr für sich.

»Ich glaube, für so etwas hat er gar keinen Sinn«, raunte Herbst ihr zu, der ihre innersten Gedanken erriet. »Dazu ist er ein viel zu trockener Geschäftsmann, der alles durch Zahlen morden möchte. Und um dich wäre es wirklich schade, Thilde.«

»Ach, laß mich zufrieden. Überhaupt ihr alle!« Im unklaren über ihre eigenen Gefühle, drehte sie beiden den Rücken und ging durch den Salon in das kleine Empfangszimmer hinein. Nach einem Weilchen kam ihr Oskar nach; er hatte Agnes als Wachtposten zurückgelassen, um mit der Freundin noch rasch einige beherzte Worte zu wechseln.

»Sag' mal, willst du ihn wirklich heiraten?« begann er und umfaßte von hinten zärtlich ihre Hände.

Sie riß sich los und blickte sich ängstlich um. »Du, laß das jetzt sein, ich bitte dich.«

»Er lachte sie leise aus. »Also wirklich?«

»Gewiß werde ich ihn heiraten, was geht's dich an?«

»Liebst du ihn denn? Diesen Menschen?«

Sie blieb ernst. »So fragt man die Leute aus. Gewiß liebe ich ihn. Er ist doch ein Mann, das siehst du wohl. Er hat so etwas Besonderes, weißt du, so etwas, was Furcht einflößt, und das imponiert mir. Ich glaube, er könnte einen Nebenbuhler aus Eifersucht totschlagen ... Und wie er vorhin mit dir umgegangen ist! Hast du nicht seine Gönnermiene bemerkt? Siehst du, das hat mir an dir nicht gefallen.«

Dunkle Röte schoß in sein hübsches Gesicht, in dem die braunen Augen blitzten. »Aber Thilde, ich kenne dich ja gar nicht wieder.«

»Es mußte doch 'mal so kommen, Oskar. Ich habe dir doch immer gesagt: ›Wenn ich einmal Ernst mache, ist es aus.‹ Deshalb bitte ich dich, rühr' mich nicht mehr an.«

Plötzlich jedoch, als sie sah, wie er schweigend an dem offenen Fenster stand und durch die Ritzen der schräg gestellten Jalousie auf die sommerliche Straße blickte, wo im Sonnenglanz die Menschen strömten, trat sie auf ihn zu und umschlang ihn leidenschaftlich. Und mit zitternder Stimme bat sie: »Oskar, du großes Kind, sei doch vernünftig! Soll ich dir denn immer dasselbe sagen? Du bist doch der Einzige, den ich geliebt habe, das weißt du doch! Ewig bleibt's ein süßes Geheimnis zwischen uns beiden, nicht? Es muß doch nun einmal so sein. Mach' mir doch nicht alles so schwer.« Und sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände und drückte ihm inbrünstig einen Kuß auf das krause Haar. Er aber preßte sie stürmisch an sich und küßte sie lange auf den Mund, so daß ihr der Atem ausging. »Bleib' mir treu, bleib' mir treu! Ich liebe dich noch immer«, flüsterte er dann und küßte sie aufs neue ab.

»Laß mich, laß mich!« Mit unbändiger Kraft riß sie sich los und flüchtete, verfolgt von ihm, in die äußerste Ecke des Zimmers, wo sie ihm beide Arme abwehrend entgegenstreckte. Dann eilte sie hinaus, über den Korridor hinweg, in ihr Zimmer, wo sie sich rasch das Gesicht kühlte und die Frisur in Ordnung brachte. Als sie zurückkehrte, fand sie ihn noch an derselben Stelle vor. Schnell zog sie die Jalousie in die Höhe, um einen neuen Angriff unmöglich zu machen. Und nachdem sie einen Blick in das Nebenzimmer geworfen hatte, sagte sie kalt, mit verrauchter Leidenschaft: »Siehst du, mein Bester, nach all dem Pech sehne ich mich endlich nach der Versorgung, schon Mamas wegen. Mir sind plötzlich die Augen aufgegangen. Die andern wollten bloß von mir haben, nun kommt aber einer, der mir geben will ... der mir das Geld vor die Füße werfen will, und den halte ich fest, willst du glauben –: der wird noch immens reich, und das war ja immer so mein Schwarm: einmal im Golde wühlen zu können und alle Wünsche erfüllt zu sehen. Da nimmt man's mit den Mängeln nicht so genau, wir wollen gute Kameraden bleiben, Oskar, gib mir die Hand. Aber keine Dummheiten mehr, hörst du?«

»Wie du willst, Klothilde«, erwiderte er und schlug ernüchtert ein. Während weniger Minuten war etwas Kaltes zwischen sie getreten, das sich wie ein Sturzbach ausnahm nach dem jähen Auflodern der letzten heißen Gefühle.

Aus dem Speisezimmer klang das Klirren der Kaffeetassen herein. Er wollte ihr schon voranschreiten, als er sich wieder besann. »Sag' mal, Thilde, sei mir nicht böse – ich hätte aber noch eine Bitte an dich. Könntest du mir nicht zwanzig Mark auf einige Tage pumpen? Agnes ist augenblicklich auch völlig klamm. Du bekommst sie sicher wieder.«

Klothilde lachte, denn diese Versprechung pflegte er immer zu machen, ohne jedoch sein Wort zu halten. Stets hatte ihm ihre Liebe als die beste Entschuldigung für sein Versäumnis gegolten. Ohne Umstände holte sie ihr Portemonnaie hervor. »Da fragst du noch? Wenn ich es kann – immer, wir wollen doch Kameraden bleiben, ich sagte es doch.«

Mit einem Händedruck strich er das Goldstück ein; und dabei erfüllten ihn verlockende Gedanken für die Zukunft, die sich auch nicht verflüchtigten, als er bald darauf bemerkte, wie Klothilde andauernd die Kalte gegen ihn spielte und von auffallender Liebenswürdigkeit zu dem andern war.

Als dann später Gläser Gelegenheit fand, mit Klothilde allein im Zimmer zu sein, reizte es ihn, sie einmal über Herbst Farbe bekennen zu lassen. »Sie haben wohl für den Jugendfreund viel übrig, wie?« fragte er, während es in seinen kleinen Augen aufflackerte.

Sie verstand ihn und hob wegwerfend die Schultern: »Was man so für einen dummen Jungen übrig hat«, gab sie zurück, ohne seinem Blicke auszuweichen.

Es geschah an derselben Stelle, wo sie vorhin ihre Leidenschaft mit dem Geliebten ausgetauscht hatte. Gläser verlor seine Zurückhaltung und ergriff mit seinen derben Fingern ihre kleine, mollige Hand, die sie ihm widerstandslos überließ, ungefähr wie eine Katze, die mit einem Bären spielt. »Fräulein Klothilde, ich liebe Sie, Ihre Mutter wird es Ihnen schon gesagt haben«, stammelte er wie ein Sinnloser, den der Augenblick trunken gemacht hat. »Wahrhaftig, ich liebe Sie, ganz um Ihrer selbst willen! Alles würde ich Ihnen opfern, alles! Nur sagen Sie mir jetzt, ob ich hoffen darf?«

»Ja, Sie dürfen hoffen«, erwiderte sie bestimmt. »Nun aber artig, recht artig.« Rasch entzog sie ihm die Hand, denn sie hatte die Empfindung, er könnte dieses Zugeständnis plötzlich ausnutzen und sich in seiner maßlosen Gier Freiheiten gegen sie erlauben, vor denen sie jetzt schon ein leises Grauen hatte.

»Ich danke Ihnen, Klothilde, ich danke Ihnen!« preßte er aufs neue hervor, plötzlich mit einer Schüchternheit, die sie kaum von ihm erwartet hätte. Als es sich dann so machte, daß er Frau Teichert die große Neuheit stecken konnte, huschte ein Schönheitsschimmer über seine harten Züge, während er sagte: »Ich bin glücklich, ich bin glücklich!«


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