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23.

Es war kurz nach zwölf, als Gläser Herbst in sein Haus gehen sah. Schon seit zehn Minuten stand er auf seinem Beobachterposten und bog wiederholt in die Margaretenstraße ein, von deren Ecke aus er die andere Seite überblicken konnte. Dann unternahm er einen kleinen Spaziergang um die Matthäikirche herum, in dem Zustand eines Menschen, dessen Sinne unnatürlich erwacht sind und der doch kaum weiß, wo er sich befindet. Als es oben Viertel schlug, machte er kehrt und schritt geschäftig seiner Wohnung zu, als könnte es gar nicht anders sein. Vor sich sah er den Gärtner gehen, den er hinter dem Gitter einholte und fragte, ob Herbst schon hier sei, den er vorangeschickt habe. Er wollte jedes Aufsehen vermeiden.

»Dann muß er inzwischen gekommen sein«, erwiderte Kleinke und stand militärisch gerade. »Gnädige Frau schickten mich mit einer Bestellung fort.«

»Gut, gut, ich werde meiner Frau sagen, daß Sie wieder hier sind«, gab Gläser zurück, der Klothildes Schlauheit begriff. Und um ihn loszuwerden, schickte er den Braven in den Vorgarten; er solle sich dort einmal die Topfpflanzen vor der Säulenhalle ansehen, die nicht gerade stünden. Dann ging er um das Haus herum und schlüpfte durch die kleine Tür neben der Veranda.

Alles war still. Der Läufer auf der kurzen Treppe bis zum Parterreabsatz dämpfte den Schall seiner Tritte. Von diesem hinteren Flur aus führte ein Eingang in den Wintergarten, der für den Gärtner bestimmt war. Gläser benutzte ihn und begab sich dann nach vorn in die glänzenden Räume, die sämtlich offene Türen hatten. An der Innenstiege angelangt, die durch einen blauen Samtvorhang verdeckt war, hörte er Klothildes Stimme herunterschallen. Leise kehrte er wieder um und betrat das Treppenhaus, dessen Flurgänge im ersten Stockwerk endeten, während die Lichtkuppel bis zum Dache reichte. An der rechten Seite lag der Speisesaal, der sich bis zum zweiten Geschoß hinaufzog und an zwei Seiten eine kleine Galerie zeigte. Er umschritt sie und war dann in dem Wohnzimmer, dessen Fenster nach der Straße führten. Nun verstand er jedes Wort, das nebenan gesprochen wurde.

»Ich muß die fünfzehntausend Mark haben, oder ich bin erschossen«, sagte Herbst und ging erregt im Zimmer umher.

»Aber Liebster, wie soll ich das machen! Mein Gott, bist du deswegen hergekommen? Ich freute mich so sehr.«

»Ja doch, ich auch! Aber wenn einem so etwas im Kopf herumgeht ... Für dich natürlich Kleinigkeit.«

»Das sagst du so«, hielt sie ihm entgegen und ließ einen Seufzer folgen. »Das Scheckbuch hat mein Mann an sich genommen, ich mußte es ihm geben.«

»So nimm's ihm wieder fort ... pump' ihn an, beraube ihn meinetwegen. Er bestiehlt die Leute genug.«

»So laß doch alles bis nachher«, bat sie. »Komm' nach hinten, ich nehme deinen Hut und Schirm.« Als er noch zögerte, spielte sie die Aufgebrachte. »Du, Oskar, ich glaube dir nicht! Sie ist wieder hier, du hast mich belogen. Wenn ich das wüßte, wenn ich das wüßte! Ich würde mich vor mir selbst schämen, wieder so schwach gewesen zu sein. Damals hätte ich vor dir ausspucken können.«

Er lachte auf. »Wieder die alte Geschichte! Gut, gut, ich kann ja gehen. Was verstehst du vom Börsenspiel.«

Während sie schwiegen, rauschte sie umher, so daß der Luftzug ihrer Schleppe durch die Türe drang. »Ich will es dir ja glauben, Liebster. Habe ich dir nicht immer gegeben? Zu jedem Opfer war ich bereit. Weil ich dich gern hatte, weil ich ohne dich nicht leben konnte! ... So bleib' doch, so bleib' doch! Schenk' mir doch diese Stunde! Alles will ich versuchen, und wenn ich meine Brillanten versetzen sollte.«

Er schwankte. »Weißt du, mich plagt heute merkwürdige Unruhe. Laß mich gehen, er mußte heute etwas haben, ich sah es ihm an.«

»Ach, Einbildung von dir. Er war gemütlich, wie immer. Du kannst hinten hinaus, wenn du willst. Es kommt niemand, verlaß dich darauf.«

Sie girrte aufs neue, diesmal mit der unbändigen Sinnenlust der Frau, die ihren Willen durchsetzen möchte. Ihr Locken ging in Zärtlichkeiten über, denen Herbst nicht widerstehen konnte.

Gläser, der sie zuerst hinten stellen wollte, vermochte nicht mehr an sich zu halten. Er stürmte hinein, packte Herbst am Kragen und zog ihn mit gewaltiger Kraftanstrengung beiseite, so daß er rückwärts über einen Sessel fiel. »Zuhälter! Lump!« brüllte er auf und drückte ihm die Kehle zu. »So also belohnst du meine Wohltaten!«

Mit einem Schrei war Klothilde geflüchtet, noch immer den Hut in der Hand, was sie gar nicht zu wissen schien. »Du wirst ihn würgen, du wirst ihn würgen!« kreischte sie auf. »Laß ihn los, ich rufe um Hilfe!« In diesem Augenblick dachte sie nur an den Geliebten, der durch ihre Schuld zurückgeblieben war.

»Um so besser für dich!« preßte Gläser hervor und lachte grausig. »So wie du mich betrogen hast, so hat er es bis heute mit dir getan. Eine Dirne beschenkt ihren Galan, der sich dann eine andere dafür kauft! Das ist die Moral davon. Und deshalb soll er doppelt gezüchtigt werden.« Und an das schöne Geld denkend, das nicht einmal bei diesem Heuchler geblieben war, schlug er wild auf ihn los, traf sein Gesicht, die Schultern, die Arme und schüttelte ihn dabei wie einen Schulbuben. Gleich einem Tiere gebrauchte er die Pranken, ohne zu beachten, was unter ihnen vorging. Die kleinen Augen erweiterten sich und verloren ihre Beweglichkeit, denn er sah nur den Menschen, der ihm sein Glück geraubt hatte.

»So mach' dich doch nicht unglücklich!« rief Klothilde ihm zu, als sie bemerkte, daß Herbst die Farbe wechselte und vergeblich nach Luft und Worten rang.

In diesem Augenblick, wo Gläser kaum mehr wußte, was er tat, schallte laut sein Name von unten die Wendeltreppe herauf. Etwas Außergewöhnliches mußte vorgefallen sein, denn es war der Gärtner, der erregt die Bitte äußerte, er möchte doch schleunigst herunterkommen.

»Ja doch, ja doch!« gab Gläser zurück, kam zur Besinnung und ließ sein Opfer los.

»Sind Sie verrückt geworden?« sagte Herbst, noch keuchend vor Aufregung. »Sie werden für diese Roheit um Entschuldigung bitten. Es war der reine Zufall, der mich hierher führte. Nur Ihr Wahn kann Ihnen das alles eingegeben haben.«

Mit zerdrücktem Kragen und zerrissener Krawatte stand er da, auch jetzt noch bemüht, sein Gleichgewicht zu behalten und den Unentbehrlichen zu spielen. Als er dann aber sah, daß alles für ihn verloren war, wollte er wenigstens einen würdigen Abgang haben. »Morgen erwarte ich Ihre Abbitte, morgen schon! Hören Sie? Vergessen Sie nicht, daß Sie bisher kein Geheimnis vor mir hatten und daß es nicht die Art von Gentlemen ist, heikle Differenzen durch die rohe Gewalt auszugleichen.«

»Aber Börsendifferenzen durch das Geld der Geliebten«, warf Gläser ein und verschluckte das Lachen, das in ihm aufstieg. »Hinaus, hinaus!« schrie er dann aufs neue unbändig.

Abermals wollte er auf ihn los, aber Klothilde trat dazwischen. Ihre Leidenschaft war plötzlich erwacht, gerade wie damals, als sie das Püppchen bei dem Treulosen angetroffen hatte. Zum zweitenmal war ihr die Binde von den Augen gerissen, aber nun sah sie weiter, denn der, der ihr den Blick öffnete, log nicht, das fühlte sie, trotzdem sie nie größeren Abscheu vor ihm empfunden hatte als jetzt.

»Was willst du? Geh' doch gleich mit!« drohte Gläser sie an. »Du bist nicht besser als der Schmutz auf der Straße.«

Furchtlos hielt sie seinen Blick aus, während ihr dunkle Röte ins Gesicht schoß. »Ja, ich werde auch gehen, aber dorthin, wo ich will«, sagte sie langsam mit zitternden Lippen. »Du aber kehre zu deinem Dienstmädchen zurück, zu dem du besser gepaßt hättest, als zu mir. Das wollte ich dir schon lange sagen, ich weiß alles. Dein Aufstieg war Lug und Trug, und als ich dich heiratete, habe ich mich weggeworfen ... So, nun erhebe die Hand auch gegen mich, zeige deinen großen Mut. Alle deine Millionen können das nicht abwaschen, was an dir klebt.«

Die Frau stand vor ihm, die nichts mehr zu verlieren hatte, die aber mit der Wucht ihrer Erscheinung der seinigen begegnete. Trotzdem er sie verachtete, fühlte er die Überlegenheit, die aus ihrer Ruhe strahlte. Schöner als sonst sah sie aus, heiß begehrenswert wie das Weib, das durch die Liebe frisch geblieben ist und sich immer nach neuer sehnt. Die Worte würgten in ihm, aber er sagte nichts. Und wenn er alle Kraft zusammengenommen hätte, er würde gegen diesen Angriff zu schwach gewesen sein. Da kam ihr Herbst noch zu Hilfe, der Gläser ansah, was in ihm vorging. Er biß plötzlich den Steifen heraus, verbeugte sich vor Klothilde und sagte gelassen: »Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, gnädige Frau. Mir fällt bei dieser Gelegenheit die kleine Geschichte von dem biederen Manne ein, der die Ersparnisse seiner armen Braut in den Stiefel steckte, um sie nachher als verloren auszugeben ... Ich hatte den großen Vorzug.«

Er nahm Hut und Schirm, machte nochmals einen tiefen Nicker vor ihr und ging durch die Tür zur Treppe hinaus, ungehindert von Gläser, der diese zweite Wendung nicht erwartet hatte. In seine Verblüffung platzte jetzt ein neuer Zuruf von unten hinein. »Herr Direktor, sind Sie da? Herr Direktor! Man will Sie sprechen, es ist jemand aus Berlinend. Ihr Herr Sohn ist krank geworden. Ich bitte sehr, kommen Sie.«

»Wie? Was?« Er vergaß alles und polterte hinab, gefolgt von Klothilde, die blaß hinter ihm her schlich bis zur ersten Stufe, erfaßt von schlimmer Ahnung.

Unten stand Dolinsky, der ihm berichtete, daß sich Viktor gegen Mittag ins Bett legen mußte, weil Fräulein Leseur Fieber an ihm entdeckt habe. Man sei sofort ans Telephon gegangen, habe aber von der Bank die Antwort bekommen, daß man nicht wisse, wo der Direktor sei, und daß man hier, in der Viktoriastraße, nicht antworte. Wahrscheinlich sei die Klingel noch abgestellt. Seine Frau, die bei dem Kranken sitze, habe ihn dann sofort nach Berlin getrieben, damit er persönlich die Eltern benachrichtige. Der Arzt werde wohl schon draußen sein.

»Er wird sich gestern etwas geholt haben, draußen in Nebel und Sumpf«, fuhr er fort. »Ich sah Ihre Frau mit ihm zurückkommen, hinten von den Wiesen. Ich habe mich sehr gewundert.«

»Wo ist sie, wo ist sie?« schrie Gläser ohne Rücksicht los. Er stöhnte wie ein verwundetes Tier, das sich noch einmal zur Wehr setzen müsse. Und wirklich schien es, als wollte er wieder zurück, sie mit Gewalt zu holen, die ihm auch das noch angetan hatte. Dann aber besann er sich. »Vorwärts, vorwärts, eine Droschke! Zur Bahn! Meinen Hut, meinen Hut!«

Was war ihm dieses Haus, was noch sein Weib, was das Gespötte der Welt, wo sein Einziger draußen auf ihn wartete. Er lief umher, knöpfte sich den Rock zu und riß ihn wieder auf, ohne Sinn und Verstand.

Die anderen beiden sahen sich an, denn während sie unten standen, hatten sie alles gehört, was sich oben abspielte. Dolinsky eilte hinaus, der Gärtner jedoch sprang rasch die Treppe hinauf, um den Hut zu holen. Dann folgte er dem anderen.

Gläser war noch unschlüssig, denn plötzlich hörte er Klothildes Stimme wie gebrochen herunterschallen. Sie mußte am Telephon stehen, denn er vernahm deutlich die Worte: »Der Wagen soll am Bahnhof sein.« Und als er weiter lauschte, glaubte er ein Schluchzen zu vernehmen, was ihn seltsam berührte. Er kam sich wie ein Unglücklicher vor, der in namenlosem Schmerz zwischen geteilter Liebe steht. Sie war die Mutter, die Mutter! Wenn auch schmachbedeckt, aber sie war die Mutter! Niemals hatte er so mit sich gekämpft wie jetzt. In einer Minute verdichtete sich alles in ihm, was an loser Empfindung vorhanden war. Er sah den Tag, wo er sie zum erstenmal erblickte, sah all die Nächte, wo er brennende Sehnsucht nach ihren weißen Gliedern hatte, und dann die Stunde, wo er sie endlich in seine Arme schließen durfte. Und in Gold, Samt und Seide war sie von ihm eingewickelt worden, und je mehr sie die Reinheit ihrer zarten Haut pflegte, die ihn stets trunken machte, je schwärzer wurde ihre Seele, die sie lächelnd ihm verbarg! Was würde sie nun tun? Zu dem andern zurückkehren? Oder zu ihrer Mutter, die seit einem Jahre ihre eigene Wohnung hatte?«

Draußen fuhr die Droschke vor. Seine harte Natur siegte. Rasch schritt er hinaus, kein Mitleid mehr auf seinen Zügen.

Oben hatte Klothilde ebenso gehorcht wie er, die Hand auf das klopfende Herz gedrückt. Nun, da sie die Tür ins Schloß fallen hörte, sank sie nieder und weinte laut. Und es dauerte lange, ehe sie sich aufraffte und wieder an das Telephon trat, um zu erfahren, wie es draußen stünde.

»Typhus!« Das war das Wort, das in der Villa widerhallte. Es schien Gläser, als wäre es jetzt erst zu seinem Schrecken erfunden, denn er sah, wie das unglückliche Kerlchen sich wand und wie es im Fieber nicht einmal die Sprache fand. Und er konnte ihm nicht helfen, er, mit seinen starken Armen, die so viel bezwungen und alle Feinde aus dem Wege geräumt hatten. Auch die dort hinten, die mit ihrem Lumpenelend alles verseuchen wollten. Er glaubte die Krankheit erstickt zu haben, und nun hatte sich ihr Keim doch bis hierher verloren, als ein furchtbares Menetekel, das in sein Gewissen griff. Er sah es überall, wo er ging und stand, und es flammte blutrot am Haupte seines blassen Kindes. Wie gewöhnlich wollte er der Stärkere sein, sich einreden, daß alles die Folge natürlicher Ereignisse sei, aber er kam über den innersten Gedanken nicht hinweg. Um dann dieser Qual ein Ende zu machen, erging er sich in zorniger Anklage gegen Klothilde, die ihn am Abend ans Telephon gerufen hatte und in Ruhe fragte, ob sie kommen dürfe, nicht mehr als seine Frau, sondern nur als die Mutter. Hohn war seine Antwort, denn nur dadurch konnte er im Augenblick Genugtuung haben. Denn wenn sie den Jungen noch liebte, so würde sie dieses Fernbleiben als harte Strafe empfinden.

Das Krankenzimmer war abgesperrt, nur Anna ging aus und ein und besorgte die Pflege nach Anordnung der beiden Ärzte, die morgens und abends kamen. Man schritt in der Nähe nur auf den Zehen umher, mit Ausnahme von Fräulein Leseur, die sofort in ein leeres Zimmer auf der anderen Seite geflüchtet und nicht zu bewegen war, die Stube zu betreten. Sie glaubte, die Pest sei im Hause, und so hatte sie um ihre Entlassung gebeten, die ihr von Gläser mit unzarten Worten gegeben war. Nun, wo alle wußten, daß die Frau nicht mehr zurückkehren würde, hatte sie genug von diesem ganzen Leben. »C'est un scandale, c'est un scandale!« rief sie unten in der Küche aus, wo die Klatschzungen in Bewegung waren und alles drunter und drüber ging. »Wir sterben noch alle an diesem verfluchtigen Ort. Trinken Sie nur abgekochtes Wasser.«

Der Umzug war vorläufig eingestellt, denn der Verlauf der Krankheit mußte erst abgewartet werden. Gläser fuhr nicht nach Berlin, ließ sich vielmehr jeden Abend von dem ersten Prokuristen der Bank Bericht erstatten. Das übrige tat das Telephon, in das noch niemals so laut hineingeschrien worden war. Es lag auch Ursache dazu vor, denn geschäftliche Ungewitter zogen drohend herauf: es donnerte und blitzte von allen Seiten. Simsing hatte recht behalten mit seiner Prophezeiung. »Engelbert-Hütte« standen auf siebzig unter pari, und Gläser war noch nicht mutig genug, zu verkaufen, trotzdem er einen ganzen Waschkorb voll davon hatte. Er traute diesem Fuchs nicht, der mit seinen Hintermännern manchmal einen kleinen Börsenozean ausfischte und durch Tartarennachrichten alles niederdrückte, was nachher mit der Schnelligkeit von Luftballons wieder stieg, nachdem er es an sich gerafft hatte. Nach seiner Überzeugung mußten die Papiere schon in den nächsten acht Tagen wieder in die Höhe gehen, weit über hundert hinaus, denn man munkelte von riesenhaften Aufträgen an die Hütte.

Auch die Männer von der »Bodenbeleihung« machten plötzlich Schwierigkeiten, ihre Zusagen zu erfüllen, trotzdem er die Millionen nötig brauchte, um dringende Verbindlichkeiten zu decken. Das Geld floß neuerdings mehr aus seiner Bank, als daß es hineinkam. Ein Mißtrauen wuchs aus der Erde, das immer drohender auftauchte. Es war das alte Zeichen der Zeit, das jeder kannte und doch nicht erklären konnte: die ewige Lawine, die auch im Handel klein sich loslöste und mächtig anschwoll, bis sie riesenmäßig angedonnert kam.

Auch sonst hatte Gläser Pech mit seinen Gründungen. Terrainspekulationen glückten ihm nicht, ohne Gewinn mußte er losschlagen, um nicht Verluste zu tragen; und mit der Tätigkeit der großen Baugesellschaft, die in Alt-Berlin einen wuchtigen Keil getrieben hatte, ging es nur langsam vorwärts. Häuser mußten enteignet werden und verursachten lange Prozesse. Er mußte mit bluten, weil sein Geld drin steckte, ohne vorläufig den Nutzen davon zu sehen.

Alles Unheil traf zusammen, wie immer, wenn dunkle Gewalten an der Arbeit sind. Er aber tröstete sich auf die Stunde, wo des Hauses Elend zur Hälfte wenigstens erschöpft sein würde und ihm das Stammeln des Gesunden neuen Mut zur Eroberung geben mußte.

Tag und Nacht saß Anna am Bettchen des Kranken. Sie schlief im Hause und mied ihre eigene Wohnung, um den Ansteckungsstoff nicht zu ihren Kindern zu tragen, die sie bei ihrem Manne und dem Mädchen in guten Händen wußte. Man hatte noch eine Pflegerin angenommen, die sie ablöste.

Dolinsky, der sie in solchen Stunden sprach, fand schließlich ihr Verhalten ungeheuerlich. »Das wird ja immer besser!« polterte er los wie ein Riese in der Pappschachtel. »Hübsch von dir, dein Herz spricht wieder für dich, aber mußte das sein, daß du gerade –? Er kann sich ja ein Dutzend barmherzige Schwestern nehmen, er hat Geld genug.«

»Ja, es muß sein«, erwiderte sie ruhig. »Gerade, weil du es nicht verstehst. Er wird bald ärmer sein, als wir.«

Mit ihrem klugen Blick hatte sie erkannt und aus dem Verhalten der Ärzte erforscht, daß der schwache Körper des Knaben auf die Dauer dem Letzten nicht werde widerstehen können.

»Und unsere Kinder?« fuhr er grollend fort.

»Die befinden sich in Gottes Hand, und auch in deiner. Tu dich auch mal ein bissel um sie kümmern. Jetzt siehst du schon, was es heißt, wenn die Mutter nicht da ist. Diesem hier hat sie schon lange gefehlt. Ich habe dir kaum den Rücken gekehrt, und da schreist du schon. Du bist eben durch mich verwöhnt. Geh' schon, du kannst ganz beruhigt sein. Ich weiß alles, was bei uns vorgeht, und unsere Rangen seh' ich auch jeden Tag, ohne daß sie es merken. Gib ihnen ein paar Küsse mehr, die sind dann von mir. Und dann rauch' nicht so viel. Mit deinem Magen hat es zuletzt immer gehapert. Heute bekommt ihr schönen Kalbsbraten und die Kinder einen Haufen Kompott. Sei nur gut, ich denke jede Minute an euch.«

Seitdem sie hier war, wurde regelmäßig das Essen hinübergeschickt, was ihr große Beruhigung gab.

»Ich weiß gar nicht, was in dir steckt«, brauste er trotzdem wieder auf. »Du bist die merkwürdigste Frau, die mir vorgekommen ist.«

Sie lachte, so daß ihre Grübchen sich wieder zeigten. »Dann halt' mich nur fest, denn Merkwürdigkeiten gibt's nicht alle Tage. Wenn ich nur weiß, was in mir steckt, dann ist's schon gut. Siehst du, ich war immer dankbar. Er hat mir zu dir verholfen, und das muß ich ihm vergelten.«

Wie immer, wenn sie ihre heitere Stunde hatte, zog sie ihn auf mit ihrem ganzen Übergewicht, unter dem er sich fast erdrückt fühlte. Und doch sah er ihr an, daß hinter all diesem Frohsinn eine gewisse Wehmut lag, die ihr Gesicht verdüsterte, wie die lose Wolke, die schnell an der Sonne vorüberzieht. Er wußte es, nie würde er diese Natur ganz erschöpfen, die an Wissen unter ihm stand und ihn doch an Herzensbildung überragte. Und weil er das empfand, wehrte er sich nach seiner Art, ohne es schlimm zu meinen.

»Ich werde mich von dir scheiden lassen, wenn das so fortgeht«, knurrte er aufs neue. »Und dann kannst du ihn ja heiraten, seine Frau ist er ja glücklich losgeworden. Alte Liebe rostet nicht.«

»Werde ich auch tun, ich glaube, er wartet schon darauf«, warf sie mit gemachtem Ernst ein. »Merkst du denn nicht, daß ich mich deswegen beliebt bei ihm mache? Ich sah alles schon so kommen. Dann werde ich hier als Frau Direktor kommandieren, und du wirst erst recht gehorchen müssen. Zwiebeln will ich dich, daß dir die Augen tränen! ... Nun geh' endlich und bereite dich darauf vor, du Wüterich. Die Strafe kommt später.«

Damit ließ sie ihn stehen und ging lachend ins Haus. Und er machte sich davon und kam sich wie eine gefangene Maus vor, mit der die liebe Hauskatze wieder einmal gespielt hatte. Aber sofort nahm er sich abermals vor, bei dem nächsten Besuch direkt zu Gläser zu gehen, seine Wohnung zu kündigen und schleunigst nach Berlin zu ziehen, um endlich wieder auf zwei Beinen zu stehen. Dann würde ein Wort das andere geben, und er könnte sich einmal alles herunterreden, was er gegen ihn auf der Leber hatte. Diese beiden Menschen taten noch immer so, als gehörten sie zusammen, und spielten sich wie ein Riesenpaar auf, das ihn als Zwerg gemütlich mitschleppte, nachdem er an sie gefesselt war. Aber er wollte diese Posse nicht mehr mitmachen, nicht mehr der Spielball ihrer Launen sein! Dann würde er wieder frei werden und seinen hochfliegenden Plänen zufliegen können. Er wollte auch noch einmal erster Klasse in seinem Leben fahren, wie der andere, der es erreicht hatte.

Es war wieder die alte Gedankenumwälzung, die an ihm rüttelte, wie so oft schon, wenn dieses Rätsel namens Anna ihm die Lösung versagte. Als er aber nach Hause kam, die Kinder sich an ihn hingen und lärmend nach der Mutter fragten, der Kanarienvogel dazwischen sein Lied schmetterte, schrumpfte der ideale Aufständische wieder zum besonnenen Hausmännchen zusammen, das sofort die süße Umstrickung der alltäglichen Umwelt empfand.

Ja, es war nicht leicht, aus der eigenen Haut zu kommen, um nach Belieben in eine andere zu fahren! –

Als am sechsten Tage Gläser am späten Nachmittag von der Bank kam, nach der er sich endlich auf ein paar Stunden begeben hatte, weil das Fieber des Kranken plötzlich gesunken war, traf er Klothilde an, die ihre Mutter mitgebracht hatte.

»Was willst du noch hier?« herrschte er sie an. »Deine Sachen hätte ich dir geschickt.«

Frau Teichert legte sich ins Mittel und versuchte, ihm zu erklären, daß das Recht der Mutter immer noch auf seiten ihrer Tochter sei. Klothilde habe es nicht länger aushalten können und scheue seine ärgste Wut nicht, um ihr Kind gerade jetzt wiederzusehen.

Er lachte höhnisch auf. »Recht der Mutter? Während sie ihrem Liebhaber um den Hals fiel, lag ihr Junge hier schon krank. Und die, die sie schmähte, hatte Liebe für ihn ... Geh' hinein und küß ihr die Hände«, wandte er sich dann wieder an seine Frau. »Ich sage dir, tue es! Wenn er am Leben bleibt, habe ich es ihr zu verdanken. Oft ist die Magd größer als die Herrin, das habe ich zu spät erkannt.«

Er war zur Milde geneigt, weil man ihm berichtet hatte, daß Viktor ruhiger schlafe.

Sie erwiderte nichts, ging aber zu dem Kranken, wo sie mit gefalteten Händen lange neben Anna saß. Beide flüsterten nur, und was sie sprachen, drehte sich um den Kleinen, dessen heißgerötetes Gesicht wieder zu denken gab. Die leichte Besserung war nur Täuschung, der Vorbote zur Krisis, die er nicht mehr überstehen sollte. Der Sanitätsrat hatte sich inzwischen wieder sehen lassen und war dann mit der Bitte fortgegangen, ihn nochmals telephonisch zu rufen, falls die Unruhe sich wieder einstellte. Er werde zu Hause sein. Gläser sah eine Ermunterung darin, Anna jedoch las aus seinem Gesicht das Schreckliche.

Schon nach zwei Stunden war alles vorüber. Bewußtlos hatte er seine Leiden überstanden, in jenem Zustand von Schlaf und Traum, der die schönste Erlösung ist. Es war so schnell gegangen, daß Anna ihm nur allein die Augen zudrücken konnte, selbst betroffen über dieses rasche Ende.

»Fasse dich in Geduld, ihm ist wohler als uns«, sagte sie mit erstickter Stimme zu Gläser, den sie sogleich hereinholte. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr eigenes Kind gestorben, denn mit diesem Häufchen Elend verknüpfte sich der Gedanke an den Mann, den sie noch immer liebte.

Alle kamen sie und sahen sich den Verblichenen an, bevor die Kälte ihn erfaßte. Das ganze Haus hatte sich an seine Laute gewöhnt gehabt, die immer wie das abgebrochene Echo einer klagenden Seele erschallt waren.

In seinem Arbeitszimmer stand Gläser und heulte unterdrückt wie ein verwundetes Tier, dem man den Todesstoß gegeben hatte. Dann, als Klothilde und Anna zu ihm hereingetreten waren, löste sich der furchtbare Schmerz in bittere Anklage gegen die Treulose auf. »Oh, du, du –!« drohte er ihr unter seinem letzten Schluchzen. »Du hast ihn getötet, du allein! Ewig muß dir das auf deinem Gewissen brennen!«

Sie wich bestürzt zurück, denn sie glaubte, er könnte selbst in dieser Stunde sich gegen sie vergessen. Als sie aber sah, wie er zusammengesunken dastand, faßte sie Mut, ihm noch das letzte zu sagen, bevor sie hinwegging auf Nimmerwiedersehen. In aller Eile hatte sie drüben ihre Sachen gepackt, was ihr wert erschien, den Weg ins Unbestimmte zu machen.

»Du irrst, mein Bester«, erwiderte sie mit der Ruhe der dreifach Gepeinigten, die nichts mehr fühlt. »Du allein hast ihn getötet, du! Aus deinem Leichenfelde dort hinten, das du für die Menge mit Rosen bestreuen wolltest, – dort stand ein Schnitter für ihn bereit. Wie er für die Armen bereit stand und noch für hundert andere bereit stehen wird, die deinem Moloch verfallen sollen. Das Schicksal nahm ihn dir, um dich dafür zu strafen. Mich leitete der Zufall, dich aber traf die Bestimmung.«

»Hörst du, hörst du? Was sagst du dazu? Ist sie nicht noch frech?« rief er Anna zu und stand wieder kampfbereit da.

Sie zuckte mit den Achseln. »Es wird wohl so sein, wie sie sagt. Es geht im Leben alles in Erfüllung. Behalte den Kopf oben, er saß dir ja immer zwischen den Schultern. Ich will jetzt gehen und alles anordnen.«

Und plötzlich sah er sich allein im Zimmer, verlassen von diesen beiden Frauen, die, so verschieden sie waren, in gleicher Erkenntnis von ihm gingen. Starr und stumm stand er da. Dann wankte er in das Nebenzimmer und sank vor seinem toten Sohne nieder. »Ist es wahr, was sie sagen? So sprich doch noch ein Wort, du mein Armer!« sprach er jammernd.

Und als alles still blieb, nur der Dämmerschein des kalten Herbstabends über das blasse Gesicht spielte, war es ihm, als müßte er den Toten packen, ihn auf die Schulter laden und hinausfliehen mit ihm, bis daß er unter seiner Last zusammenbräche ...


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