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In seinen Wünschen zeichnet der Mensch sich selbst. Wie kommt es, daß er die Zeichnung so selten lobt, wenn sie äußerlich vor ihn hintritt – wenn der Wunsch erreicht ist? Wie kommt es, daß ein erreichter Wunsch uns oft düsterer stimmt als ein versagter? Im versagten Wunsche haben die Götter unrecht, im erreichten wir selbst! Nur an Tatsachen lernt sich der Mensch kennen. Nur dem verkörperten Wunsche gegenüber wird uns das Urteil, das Gefühl möglich, ob dieser das Maß unsers Innern wirklich enthielt oder nicht. Und es ist der gemeinere Mensch, der diese Frage sich bejaht. Die Besten und Tiefsten geben in ihren erreichten Wünschen sich am härtesten unrecht. Mit Schauder und Ekel wenden sie sich von dem endlichen Bilde ihres unendlichen Ichs wie von einem Zerrbilde hinweg, um in höheren, kühneren Zielen der Sehnsucht sich würdiger zu genügen; diese erreicht, beleidigt sie von neuem die kleinliche Formel für einen großen Sinn: so schreiten sie von Unbefriedigung zu Unbefriedigung die erhabenen Pfade der Selbstqual zu Ende, bis sie am Markstein der Verzweiflung oder Vergötterung das Bewußtsein erringen, daß Irdisches und Ewiges nimmer sich decken, daß nichts Irdisches wünschenswert!
Diesen Naturzug des menschlichen Herzens müssen wir uns gegenwärtig halten, wenn wir begreifen wollen, mit welchen Gefühlen Moorfeld tags nach der Landauktion in Anhorsts Blockhütte erwachte. Er hatte zum erstenmal auf dem Seinigen geruht, er stand zum ersten Male im Seinigen auf. Aber alles in ihm widerrief diese Tatsache. Das Wort »Urwald« tönte fremd und abschreckend im Herzen. Mit Anstrengung besann er sich jetzt auf den Ideengang, den die Entwicklung dieses Wunsches in Europa genommen und – er fand den Faden nicht mehr. Er fühlte sich tief unglücklich. Es war ihm, als sei er kein moralisches Wesen, sondern ein Mechanismus, dessen Bestandteile eine fremde Hand auseinandergelegt, und er selbst könne sie nicht wieder zusammensetzen. Er wußte nicht, habe er in Europa geirrt, oder irre er heute. In seinem Gemüte war plötzlich der Grundton verstummt, auf welchem sein Ich und der Urwald sonst im Akkorde gestimmt. Er sah seinen Wunsch vor sich nicht wie einen vertrauten, langgenährten Umgang, sondern wie einen zweideutigen Gesellschafter, mit dem man im Taumel Brüderschaft gemacht, und der bei ernüchterten Sinnen in Verlegenheit setzt. Alles ist Mißton hier, den angeklungenen Ton fortzusetzen und auch von ihm abzuspringen. Nach beiden Seiten hin fehlt die Wahrheit, – und so findet sich unser Freund heute in einem Verhältnisse, das eigentlich eine Unmöglichkeit ist.
Als er in früher Morgenstunde vor die Hütte trat, fehlte wenig, daß er nach seinem gesattelten Pferde gerufen. Er fühlte sich wie ein städtischer Spaziergänger, der eine Nacht auf dem Lande zugebracht und im jungen Tagesstrahl fröhlich davonfliegt. Warum er hier weilen sollte, war ihm unverständlich. Er hatte zum ersten Male eine dumpfe Ahnung davon, was es heiße, den europäischen Kulturmenschen an diesem rauhen Boden zu befestigen. Er erschrak, wie wenig seine Reise ihn vorbereitet. Sonst war er frei und heute gebunden – das allein entschied.
Moorfeld hatte wenig geschlafen, und sein Auge war physisch wie moralisch überwacht, indem er die Szenerie seiner neuen Umgebung jetzt überblickte.
Anhorsts Blockhaus war ein sogenanntes Log shanty und bestand, wie alle Obdachungen dieses primitiven Schlags, aus einer einzigen Kammer. Es war aus Baumstämmen aufgeführt, welche roh behauen übereinanderlagen, die Zwischenluken mit Moos und Lehm verstopft oder mit dünnen Holzspänen ausgefugt. Eine der Seitenwände zeigte den Ausschnitt für den Kamin, und dieser war aus Backsteinen erbaut. In der Nähe des Kamins stand die Bettstelle; ein Tisch und eine Bank von barbarischer Arbeit vollendeten das Ameublement. An den Wänden hingen die Werkzeuge von einem Dutzend Handwerkern herum, in denen der Hinterwäldler sämtlich sein Schüler und Meister zugleich sein muß. Die Diele bestand aus geschlagenem Lehm, die Fenster waren zwei in die Längenseiten der Hütte geschnittene Löcher, statt des Glases mit Holzläden versehen. Die Hütte lehnte sich an den Wald, doch waren die Bäume auf einige Entfernung von ihr weggebrannt. Vor der Hütte lag das Feld. Es war ein wüster Fleck Erde, übersäet mit verkohlten Baumpflöcken, zwischen welchen ein paar spärliche Raufen Getreidegelb fast sich verloren. Das Ganze umgab jener häßliche Zickzackzaun – halb ironisch, wie es schien, denn erst er machte aufmerksam, daß hier überhaupt etwas einzuschließen.
Dieses traurige Gehöft lag in einem Meere von Einsamkeit. Kein Vogel pfiff, kein Haustier brüllte, wieherte oder krähte in seiner Nähe – die Haustiere staken im Walddickicht und gaben sich nicht zur ländlichen Staffage her. Es war ein trübseliges Stück Menschen-Existenz. Das Grab eines Unbegrabenen! sagte Moorfeld bei sich. Doch nahm er sich zusammen, um seine Wohltat nicht selbst zu verkürzen, indem er seine Stimmung verriet.
Bald erwachte auch Anhorst. Nach den wechselnden Aufregungen von gestern hatte ihn der Schlaf wie mit eisernen Armen umklammert. Er stand jetzt rüstig da, aber das Glück seiner neuen Schicksalswendung, ja nur die Frische eines gesunden Morgengefühls bemühte sich Moorfeld vergebens in seinen Mienen wahrzunehmen. Dieses Antlitz schien nur noch des Ausdrucks der Sorge fähig. Die Sorge war heute gewichen, aber der Glanz der Freude darum nicht aufgegangen. Der ernste Gleichmut der Alltäglichkeit herrschte darin.
Anhorst bemühte sich, seinem »Grundherren« ein erträgliches Frühstück vorzusetzen und lobte den relativen Wert einiger Kaffeebohnen, über die er verfüge. Moorfeld überreichte ihm seinen ständigen Reisevorrat von Bouillon- und Schokolade-Tafeln. Bei diesem Anblick sah Moorfeld das erste Lächeln auf Anhorsts Miene. »Ach, mein Herr, was sind die Freuden des Einsamen!« vernahm er's in seinem Innern. Er dachte an den Zellengefangenen in Philadelphia.
Die rauhe Blockhütte duftete bald von dem feinen Arom der Vanille. Moorfeld fing an, von Benthal zu sprechen. Der Dritte ist stets das beste Auskunftsmittel, wo zwei so vollen oder fremden Herzens sind, daß ihr Gegenüber stockt. Überdies stand dieses Thema mit unter den nächsten, welche hier Boden hatten.
Anhorst schien mit Vergnügen von Moorfelds Plänen zu hören, – mit mehr sogar, als womit dieser selbst in gegenwärtiger Gemütsverfassung von ihnen sprach.
Er ergriff die Gelegenheit, auch seinerseits mit einem kleinen Projekte hervorzutreten. Durch Moorfelds Güte, sagte er, habe er den Kaufschilling für sein Grundstück erspart und zur Disposition. Er wisse ihm eine vorteilhafte Beschäftigung. Der Einfall sei ihm schon gestern im Nachhausereiten aufgetaucht. An den oberen Seen ströme jetzt viel Volk zusammen. Über weite Distrikte ergieße sich ein Andrang von Kolonisten, die alles bedürften und nichts hätten. Eine Zufuhr von Saatkorn und Lebensmitteln dahin müsse ungeheuer rentieren. Er hätte Lust, sein kleines Kapital in solch einem Versuche arbeiten zu lassen. Er würde an den Erie hinabgehen, unterwegs von den kleineren Farmern, die frühzeitig einernten, um rasch Geld zu machen, wohlfeiles Neukorn haben können, und damit einen Export nach dem Westen wahrscheinlich höchst lohnend unternehmen.
Moorfeld erstaunte über die Zähigkeit der menschlichen Natur. Sie wagen sich noch einmal auf die hohe See der Spekulation! rief er mit unverhohlener Bewunderung.
Mitnichten, antwortete Anhörst ruhig. Ich verkaufe gegen Käsch an den Abnehmer, nichts weiter. Ich lasse mich nicht auf Kommissionsgeschäfte ein, ich gebe nicht Kredit.
Aber warum wollen Sie überhaupt wieder handeln? fragte Moorfeld noch immer verwundert.
Anhorst sah ihn groß an. Heißt es denn handeln, wenn man alljährlich einmal eine Ernte zu Markt führt? Und was ist meine Expedition an die Seen? Kommt es doch vor, daß Farmer dieser Gegend sich zur Erntezeit ein paar Hickorys schlagen, ein Boot zimmern, und mit der Frucht den Ohio und den Mississippi hinab nach New Orleans fahren! Dort verkaufen sie Ladung und Schiff zugleich und machen dann tausend Meilen den Landweg zurück auf einem Klepper, den sie im Süden gekauft haben und hier ebenfalls wieder losschlagen. Das sind amerikanische Marktfahrten, Herr Doktor. Ja, der Bauernstand ist kein Ruhestand bei uns. Hier handelt alles, was sein bißchen Mark noch fühlt. Schlimm genug, wen das Fieber niederknebelt; wer sich aber rühren kann, dem ist die Strecke sein Haus; sein Haus nur Absteigquartier.
Moorfeld schwieg. Schlagender konnte das Ungemütliche des hiesigen Landlebens nicht mehr ausgedrückt werden.
Nach dem Frühstück sattelte Anhorst sein und Moorfelds Pferd, indem er es nicht anders zu erwarten schien, als daß Moorfeld seinen Kauf jetzt besehen wolle. Moorfeld nahm die Partie an und verbarg, so gut es ihm möglich war, mit wie wenig Interesse er's tat.
Indes hatte Anhorst doch wahr gesprochen, als er gestern die Gegend von Lisbon und die hiesige außer Vergleich gesetzt. Wenn Moorfeld einen Molch- und Unkenpfuhl erwartet hatte, so war wenigstens diese Erwartung übertroffen. Zwar als die Reisigen ausritten, ging's nicht unmittelbar in den Waldesgrund, der vor ihnen lag: ein böser Schwaden schlug aus seinen nächtlichen Schattentiefen, der Mensch und Tier dämonisch anschauerte. Aber Moorfeld wußte, das sei eben der ungesunde Atem Amerikas in den Früh- und Abendstunden, die denn auch kein Amerikaner »im Freien« zubringt, namentlich in der Nähe von Neuboden nicht. Die Reiter traten ihre Urwaldpartie auf einem Umwege an, und dieser war nicht ohne Reiz. Sie faßten in einem großen Bogen den Wald von der Ostseite, wo die Sonne schon anfing, Sieger über die Dünste zu werden. Sie ritten durch eine kleine Prärie, der man fast die Würde einer Boccage zusprechen konnte; der Grund war malerisch mit Baumgruppen bestanden, und ein Bach durchschnitt ihn in mäandrigen Krümmungen. Moorfeld lobte das Parkartige dieses Anblicks, während Anhorst ihn auf die Pflanzendecke des Bodens aufmerksam machte, wo das Timotheusgras, der Wiesenfuchsschwanz, der Lolch, das Schwingel- und Knäuelgras überall hervorsteche und den Boden wie von selbst zur schönsten Kulturwiese stempele. Hierauf schloß sich der Ritt dem Laufe des Baches an. Der Bach war ein trübes, lebloses Wasser, wenn es nicht etwa für Belebung galt, daß Anhorst mitteilte, vor dreißig Jahren soll er von Bibern gewimmelt haben. Sein durchweichtes Ufer war von üppigem, aber rauhem Grase bewachsen, zwischen welchem hie und da wilder Reis seine zierlich gefiederten Rispen emporstreckte. Später umsäumte ihn ein Gestrüpp von Zedern, Zypressen, Thujas und sonstigem Sumpfholz, welches bald so dicht wurde, daß es das schmale Rinnsal wild überwucherte, ja stellenweise gänzlich zuwölbte.
Anhorst sagte bei diesem Anblicke, er sei schon im Begriffe gewesen, dieses Dickicht niederzubrennen, denn das Wasser habe hier einiges Gefäll, was es unterhalb nicht mehr habe, und hier seien die Punkte, wo sich »Improvements« anbringen ließen. Moorfeld sagte nichts.
So ritten sie in den Urwald. Die Morgensonne stand hinter ihnen und warf ihre langgestreckten Schatten auf die angeleuchteten Baumstämme voraus, indes sie die schweren Walddünste in gefiederten Nebeln vor sich her trieb und den Wanderern reine Luft machte. Der Gang durch ein Waldinneres war unserm Helden kein neuer mehr und hatte ihn nie europäisch-waldfroh angemutet. Auch heute tat er's nicht. Die amerikanische Waldphysiognomie hatte für Moorfelds Auge etwas Hohles, Starres, Gitterhaftes, da fast überall das Unterholz fehlt, also neben dem Gewordenen das Werdende. Dasselbe Bild wiederholte sich hier. Die ganze Vegetation schien ihm fertig wie ein Drahtgeflecht, die Idee des freien Hineinrankens eisern ausschließend. Dabei mangelte dem Walde aber doch auch der Ausdruck der ruhigen Größe und Erhabenheit. Die Baumarten standen charakterlos in unendlicher Buntheit durcheinander. Nicht nur die Zonen der Koniferen und Laubbäume vermischten sich auf jeder Zollbreite – Fichten, Föhren, Tannen, Zedern, Taxus und Lärchenbäume mit Ulmen, Pappeln, Eschen, Erlen und Birken: selbst polarische und tropische Waldbilder fielen auf diesen Boden herein, der, zwischen Kanada und Virginien in der Mitte liegend, nicht umsonst Türhüter der Extreme zu sein schien. Moorfeld sah die Kiefern und Wacholderbäume des frostigen Nordens neben der orientalisch-riesigen Sykomore, neben dem prachtvollen Tulpenbaum, der Myrte und dem Lorbeer. Die Eichenarten blieben ihm nicht minder fremdartig als sonst; nur Anhörst wies ihn mit Sicherheit durch dieses Labyrinth und zeigte sich als ein gründlicher Kenner – denn die Schwarzeiche, sagte er, liefere dem amerikanischen Farmer gute Dachschindel, die Roteiche vorzügliche Schweinemast und die Weißeiche sei in allen Gestalten nützlich, da sie als Schößling elastisches Reifenholz, im mittleren Alter Korbflechtespäne und ausgewachsen die besten Balken zu Blockhaus und Fenzriegeln gebe, auch sei ihr Laub ein brauchbares Viehfutter.
Unserm Freund schnürte aber inzwischen ein anderer Charakterzug des amerikanischen Waldes das Herz zusammen: die eigentümliche Sang- und Duftlosigkeit. Kein Vogelton belebte das Holz, kein würziger Hauch durchatmete es. Er ritt wie durch ein Schaugericht.
Selbst von Wild fand Moorfeld nichts als ein zahlreiches Volk grauer Eichhörnchen, das sich auf den luftigen Ästen der Walnußbäume wiegte und in den dickschaligen Früchten derselben, die kaum der Reife entgegengingen, seine Nußknackerkünste hören ließ. Die Jagd auf dieses »fruchtbare Ungeziefer«, wie Anhörst sich ausdrückte, gehöre zu den ärgsten Tribulationen des Farmers, er müsse jedes Körnchen seines Feldes mit Pulverkorn gegen die Brut verteidigen. Die vermeinte Jagdlust werde eine wahre Jagdqual im Urwald. Moorfeld schwieg dazu.
Nach einem Ritt von einer kleinen englischen Meile, den das Paar zwar unbehindert, doch im Schritt durch den freiwüchsigen Baumschlag zurückgelegt, veränderte sich die Szene. Der Boden stieg aus dem Ebenen mit einem sanften Schwung empor, und auch Unterholz stellte sich ein. Zwischen den hohen Baumpfeilern drängte sich allerlei Busch- und Strauchwuchs ins Leben, üppige Schling-, Kletter- und Hängepflanzen halsten sich in die Höhe, und bald war der ganze Waldraum von der Wurzeltiefe bis zu der obersten Schaftspitze der alles überragenden Weymouthtanne vollständig und wie es schien undurchdringlich ausgefüllt. Die Wanderer standen wie vor einer Mauer aus Laubwerk. Nur einzelne Breschen dieser Mauer erlaubten ein weiteres Vordringen; man ließ die Pferde bald hintereinander gehen, bald trennte man sich gänzlich und schlug sich auf eigene Hand durch, indem jeder durch Zuruf sich des andern versicherte und hin und wieder über die Auffindung des gangbarsten Pfades korrespondiert wurde. Hier wurde es Moorfeld zum erstenmal wohler. Gibt's Panther oder Schlangen hier? rief er nicht ohne den Reiz des Romantischen und legte Hand an seine Büchse. Nichts als unermeßliche Dollars gibt's, antwortete Anhörst zurück; – das alles wartet nur aufs Niederprasseln; wir gehen über den kostbarsten Alluvialboden; reines Bottom-Land!
Utilitarier! schalt Moorfeld für sich.
Nach einer zweiten englischen Meile erreichte man die Platte des Hügels, zu dem der undulierende Boden bisher emporgeführt hatte. Moorfeld und Anhörst fanden sich kurz nacheinander auf dem Plateau ein. Sie stiegen vom Pferde und rasteten aus.
Die Stelle war schön im Sinne der Wildnis. Einsam, öd, tiefstill, umgeben von der breiten Einförmigkeit des Waldes, welchen sie nirgend dominierte, vielmehr fiel er allseits über sie herein und deckte sie zu, wie ein Geheimnis.
Das Strauchwerk überwucherte die Höhe des Hügels noch so dicht wie den Abhang, doch standen die starken schweren Stammholzbäume hier etwas spärlicher. Dagegen lagen viele Stämme am Boden umgestürzt, verwitternd, zerbröckelnd und neue Schößlinge treibend, – alles wüst durcheinander. Das Ganze schien die Stätte eines verjährten Windbruches.
Nach der Natur solcher Stätten, welche der Schauplatz einer zeugungsreichen Pflanzenverwitterung sind, war die Waldstelle wahrhaft erstickt von einem prachtvollen Blumenwuchs.
Moorfeld ließ sich auf einen Baumstamm nieder und betrachtete das Spiel eines Kolibris, der wie berauscht diese Flora durchtaumelte und seine zierliche Erscheinung als eine willkommene Episode der tiefen Einsamkeit spendete. Anhörst aber musterte die Ahornbäume, welche den stillen Bezirk umgrenzten, und führte bald Klage darüber, daß sie gleichfalls zu alt zur Zuckergewinnung seien; er habe den Wald schon viel durchforscht nach jüngeren Exemplaren, aber überall vergebens. Moorfeld lud ihn ein, sich neben ihn zu setzen, und zeigte ihm das reizende Vöglein, das der Gegenstand seines schöneren Interesses war. Der Kolibri hatte sich dicht in Moorfelds Nähe an eine flammrote Magnolie gefesselt und vertiefte sich mit der ganzen Süßigkeit einer selbstvergessenen Liebe in sein trunkenes Kosen und Naschen. Vollkommen reglos hing es an dem Blumenkelch, sein prächtiges Körperchen ruhig zur Schau geboten. Der kleine Amor hatte kaum die Leibesfülle einer Hummel, aber der Schönheit war's Raum genug, darauf ihre Wunder zu tun. Sein Gefieder strahlte vom reinsten Juwelenglanz, smaragdgrün und opalblau spielten Leib und Flügel an der Sonne, seine kleine Kehle war ein Rubin von Farbe und Feuer. Schade, daß wir nicht ein wenig Vogeldunst bei uns haben! sagte Anhörst und setzte hinzu: Ob sich mit den Tierchen nicht überhaupt ein Geschäft machen ließe? Im Mai kommen sie in ganzen Schwärmen vom Süden nach den Seen durch. Freilich die Amerikaner halten nichts auf Naturaliensammlungen – aber nach Deutschland könnte man sie verschicken; – was sagen Sie, Herr Doktor?
Moorfeld sah in das braune, zerfurchte Antlitz des deutschen Mannes und sah lange hinein. Wie lange sind Sie schon in Amerika? fragte er ihn.
Fünfzehn Jahre, antwortete Anhorst.
Fünfzehn Jahre! – das ist freilich eine lange Zeit! Er schüttelte die Magnolia mit dem Fuße, daß der Kolibri pfeilschnell davonflog.
Hierauf folgte eine Pause des Schweigens zwischen den beiden. Zwei Männer, welche der Zufall an einem menschlichen Berührungspunkt zusammengeführt, dachten zum erstenmal, wie man sah, darüber nach, ob sie deren mehrere haben könnten. Moorfeld fühlte das Bedürfnis dessen, was man in der Sprache der Empfindsamen Herzensergießung nennt. Wenn es für einen Menschen einnimmt, daß man ihm eine Wohltat erweist, so mußte Moorfeld diese Teilnahme für Anhorst haben. Ihm zuliebe hatte er ohne alle Wahl sich auf eine Scholle gekauft, die er mit sorgfältigster Wahl kaufen wollte, und das Bruchteil, das Anhorst davon inne hatte, ihm ohne weiteres geschenkt. Anhorst war rettungsbedürftig wie ein Ertrinkender gewesen, und Moorfeld hatte ihn gerettet. Aber bei dem Bande der rohen Not kann ein feineres Gemüt nicht stehen bleiben. Er durfte wünschen, daß Anhorst jetzt von seinem Eigenen – Innern etwas herausgebe. Seit gestern war es noch nicht geschehen. Dieser Augenblick aber war einem innigeren Austausch günstig. Er forderte von selbst dazu auf.
Moorfeld zog den fremden Mann treuherzig an seine Seite und sagte: Und wie ging es Ihnen in diesen fünfzehn Jahren? Lassen Sie mich hören, wie das Menschenleben auf den Pfaden, auf welchen Sie es durchwandelten, ausgesehen hat.
In den Zügen des Deutschen malte sich's fast wie Schamgefühl bei dieser Aufforderung. Und wie das germanische Auge immer trotzig blickt, wenn das Gefühl an sich selbst erinnert wird und sich zugleich ehrt und verbirgt bei dieser Erinnerung, so sah das blaue Auge des abgehärteten Mannes jetzt mit einem gewissen Barbarismus drein, der im Äußern Trotz schien, im Innern aber keusche Selbstbewahrung war.
Mit diesem Ausdruck antwortete Anhorst: Sie haben mir gestern Gutes getan; ich könnte es heute kaum vermeiden, mich so zu schildern, als ob ich's recht sehr wert wäre. Das geht nicht. Aber mein Tagebuch steht Ihnen zu Diensten. Drin stehen Gott und dieser Bursche hier etwas unparteiischer nebeneinander.
Soeben hab' ich's gelesen, sagte Moorfeld und drückte dem Manne die Hand. Seine Gefühlsanwandlung war vorüber. Er stand auf und ging weiter mit ihm. Zwischen den beiden Männern war von der Vergangenheit weder in Schrift noch in Wort je wieder die Rede.