Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

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Denk- und Glaubwürdigkeiten.

Erstes Buch.

Erstes und einziges Kapitel.

Nicht allein die Großen haben ihre Denkwürdigkeiten, auch die Kleinen haben sie. Beginnen wir also, weil es die Laune des Schicksals will, oder fahren wir vielmehr fort, denkwürdige Begebenheiten und nachdenkliche Erinnerungen eines kleinen deutschen Reichsbürgers an das Licht zu stellen, von dessen Leben und Taten, Freuden und Leiden wir schon in den vergangenen Winterabenden ein langes und auch ein breites, wie man sagt, zu reden unternommen haben.

Dieser kleine Biedermann wurde eines Tages, zum erstenmal ohne elterliche Begleitung, im alten Postwägelein nach der buckligsten aller Universitätsstädte gesendet, nicht um allda zu studieren, was für seine dritthalb Fuß Höhe zu hoch gewesen wäre, sondern sich von den mütterlichen Großeltern ein wenig hätscheln zu lassen. War er doch als erster Enkel dort ein vielgeehrter Gast; der Großvater versah ihn freigebig mit Taschengeld, damit er sich seinen Nachtisch nach Gefallen besorgen könnte, falls die Großmutter es je einmal daran hätte fehlen lassen, die jüngeren Schwestern der Mutter erzählten ihm nachts vor dem Einschlafen schöne Märchen vom Schneeweißchen und Aschenbrödel, und wenn er morgens die Augen auftat, so bemühte sich eine Windmühle, die im Fenster surrte, ihn aufs gemütlichste zu unterhalten.

Das Leben, das ihn hier umgab, war zwar nichts weniger als neumodisch, aber doch viel moderner als das Leben in der vormaligen Reichsstadt, in welcher er zu Hause war; denn da trug alles einen tief altertümlichen und, trotz der hohen finsteren Mauern, etwas ländlichen Schnitt. So behaupteten wenigstens die benachbarten Universitätsbürger, die ihr Deutsch mit überfließendem Latein vermischt sprachen und sich nachts durch die »Pauper«, wie sie einen Chor von armen Kurrendeschülern nannten, aus dem Schlaf wecken ließen.

Diese neue Welt, die ihm aufgegangen war, stimmte ihn sehr unternehmend, so daß er bald noch höher und weiter trachtete. Es ging ihm nämlich im großväterlichen Hause zu stille her; auch hatte er noch keine Gespielen in der fremden Stadt. Da wurde es ihm auf die Länge immer länger, und eines schönen sonnigen Nachmittags war es ihm ganz eng um die Brust. Eh' er selbst recht wußte, was er eigentlich im Schilde führe, war er schon vor der Stadt draußen. Dort führt ein hoher hölzerner Steg über den Neckarfluß. Man ersteigt ihn auf steinernen Stufen, kann sich bequem an das Geländer lehnen und zusehen, wie die graue Stadt, eitel auf ihre Runzeln, sich im Neckar spiegelt. Auf der anderen Seite geht's wieder einige Stufen hinab. Ein kecker Student ist einmal darüber geritten.

Unser junger Herr marschierte frischweg über den Steg und dann weiter auf einem sanften Pfade unter breiten, uralten Linden fort. Wohin? In die Welt. Die Spaziergänger, die ihm begegneten, schienen sich über ihn zu wundern, getrauten sich aber nicht, ihn zu fragen noch zurechtzuweisen, so martialisch sah er aus. Er trug nämlich ein blaues Wämschen mit mächtigen Puffärmeln, und blaue rotgestreifte Höschen, welche, in das Wämschen eingeknöpft, bis über die Brust heraufgingen, auf dem Kopfe aber ein stattliches Samtbarett. Ferner hatte er sich ein Bandelier umgeschnallt, an welchem ein gewaltiger Säbel hing. Man hatte die Wahl, ob man ihn für einen Ritter oder Räuber halten wollte.

Wo die Lindenallee zu Ende ging, da kam eine breite mit Pappeln besetzte Fahrstraße daher, die bequem und lustig zu wandeln war. Unser Held bedachte sich lang, fand sie aber endlich zu breit für seine kleine Person, und da er bemerkte, daß der Fußpfad jenseits in den Feldern fortlief, so schritt er getrost über die Straße hinüber und verfolgte den eingeschlagenen Weg. Der Fußpfad ging gerade mitten in die Welt hinein, und in geringer Entfernung war bereits ein Dorf zu sehen. Wenn der kleine Herr größer gewesen wäre, so hätte er es schon von der Lindenallee aus erblickt; so aber mußte er noch eine Strecke gehen, bis es ihm zuletzt ganz vor der Nase lag. Auch hatte er die Gewohnheit, die Augen abwechselnd auf den Boden und an den Himmel zu werfen, weshalb er oft das Allernächste übersah, so zum Beispiel den Stock mit der Tafel, worauf der Name des Dorfes geschrieben war. Den entdeckte er erst, als er ihm so nahe kam, daß er mit dem Kopf dagegen stieß und das Samtbarett verlor. Er hob das Barett vom Boden auf und blickte den Stock verwundert an. Zwar merkte er wohl, daß auf der Tafel etliche Hühnerfüße gemalt waren, aber er hatte seine Gründe, sich nichts um diese zu bekümmern. Auf einmal sah er das Dorf, welches gar nicht weit von dem Stocke stand. Wer konnte froher sein als er? Jetzt hatte er schon die erste Station auf seiner Weltreise erreicht, und alsbald beschloß er in seinem Sinne, das sei Ofterdingen.

O ihr, der Heimat dunkelste und verlorenste Sagen, flüstert es leise, was ihn dort Halt zu machen bewog! Wollte er etwa nach dem großen Unbekannten, nach dem nie erforschten Heinrich von Ofterdingen spähen? Nein, der war ihm noch viel verborgener, als er es den gelehrten deutschen Männern, der deutschen Sprache Kennern, bis zur Stunde geblieben ist. Sein Dichten und Trachten war nicht auf den Heinrich, sondern auf das » Appele« von Ofterdingen, oder vielmehr auf ihren Vater gerichtet, denn sie selbst hatte er daheim zurückgelassen an seinem elterlichen Herd, wo sie in Treuen und Ehren den Besen führte. Eigentlich hieß sie Apollonia; aber dieser schöne Name wurde ihr nicht gegeben, sondern man nannte sie in der Volkssprache die Appel oder etwas zarter das Appele. Da man nicht immer sicher war, ob sie das Gesicht im Morgentau gewaschen hatte, und da ihre Hände meist die Farbe der Küche trugen, die nicht vorherrschend weiß ist, so hieß er sie wohl auch zuweilen seine Schmutzappel Er mochte sie jedoch ungemein gut leiden, denn sie tat alles was sie ihm an den Augen absehen konnte. Nur küssen durfte sie ihn nicht. Dagegen ließ er sich gern von ihr versprechen, daß sie ihn, wenn sie einmal auf ein paar Tage Urlaub erhalte, nach Ofterdingen zu ihrem Vater mitnehmen und mit Butterbrot, Honig und Kirchweihkuchen bewirten wolle.

Somit hatte der kleine Mann gewiß triftige Gründe, zu wünschen, daß das vor ihm liegende Dorf die Heimat seines guten Hauskobolds sei. Vom Wünschen aber zum Glauben ist es oft nur ein Schritt. Er ging also fürbaß und hielt mit majestätischem Säbelklirren seinen Einzug in das Dorf. Die Leute machten große Augen über den angehenden Wandersmann, er aber fragte keinen. Hie und da rief ihm ein unartiger Bube ein Spottwort nach, aber er achtete nicht darauf. Sorgsam musterte er die Häuser, eines nach dem andern, und erwog, welches wohl das rechte sei. Leider jedoch war dies den Häusern nicht anzusehen. Auch stand an keinem geschrieben: »Hier wohnt des Appeles Vater!« und wenn das auch der Fall gewesen wäre, so würde es ihm doch nichts geholfen haben, da er, wie schon bemerkt, sich aus Geschriebenem nicht viel machte. Und hätte auch der bewußte Vater in Lebensgröße zu einem Fenster herausgesehen, so wäre dem kleinen Forscher abermals im geringsten nicht gedient gewesen; denn er kannte denselben ja nur aus Appeles Erzählungen, aber nicht von Angesicht.

So war er nach und nach durch das ganze Dorf gewandert, und stand bei den letzten Häusern, an welchen ein Bach vorüberfloß. Das Bächlein war so hell; er weidete die Augen an dem unaufhörlichen Geriesel und konnte sie nicht abwenden. Endlich kam ein Mann, kniete hin und wusch etwas im Wasser. Er erblickte den jungen Herrn und sah von Zeit zu Zeit mit neugieriger Teilnahme an ihm hinauf. Der junge Herr wurde ebenfalls aufmerksam auf ihn, sein Gesicht flößte ihm Zutrauen ein, und er beschloß daher ohne Zaudern, dies müsse der Mann sein, den er suche.

Er ging auf ihn zu und redete ihn an: »Seid Ihr meines Appeles Vater?«

»Wer ist das Appele?« fragte der Mann.

»Das Appele von Ofterdingen!« erwiderte der junge Herr indem er sich auf den Säbel stützte.

»Ich bin keines Appeles Vater,« sagte der Mann, »und hier ist auch kein Ofterdingen. Das liegt noch drei starke Stunden von da.«

Über diese Rede wurde der junge Herr nachdenklich. Er hatte schon so einen großen Weg gemacht, und nun sollte er noch drei starke Stunden wandern? Ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß hinter diesem Zeitmaß ein ziemliches Stück Unendlichkeit stecken möge. Und dann von Ofterdingen erst noch vollends in die Welt hinein! Er hatte sich die Welt nicht so weitläufig vorgestellt.

Der Mann fragte ihn nun, woher er sei und was er vorhabe. Der junge Herr gab ihm hierüber einen zwar mangelhaften, aber in der Hauptsache vollkommen deutlichen Bescheid. Da erschrak der Mann, und schüttelte den Kopf, und hieß ihn geschwind wieder umkehren; die Welt sei viel zu groß für seine dreijährigen Beine; er solle froh sein, daß er Eltern und Verwandte habe, die für ihn sorgen. Endlich gab er ihm zu bedenken, daß die Seinigen wahrscheinlich schon jetzt in großer Angst um ihn seien.

Dem jungen Herrn leuchtete das ein. Der gutherzige Mann brachte ihn auf den Weg, der ihn hergeführt hatte, wünschte ihm glückliche Heimkunft, und so pilgerte er denn in Gottes Namen wieder nach der Stadt zurück, aber nicht so stolz, wie er von ihr ausgezogen war.

Ein Student hätte den ganzen Weg hin und her in weniger als einer Stunde gemacht. Unser Held brauchte den ganzen Nachmittag dazu; denn er blieb alle Augenblicke stehen, um den Wolken und den Vögeln nachzuschauen. Auch wurde er oft müde, und mußte dann immer wieder ausruhen. Als er zu dem Stege kam, der über den Neckar führt, da war es schon ziemlich dunkel, und als er das großväterliche Haus erreichte, war es sinkende Nacht.

Er hatte die Zeit zum Ausfliegen zweckmäßig gewählt. Seine Mutter war diesen Nachmittag angekommen, um nach ihm zu sehen, und hatte sich mit der Neuigkeit begrüßen lassen müssen, daß er spurlos verschwunden sei. Man schickte bei allen Bekannten in der Stadt herum. Niemand wußte etwas von ihm. Es wurde Abend und Nacht, schon sprach man von Austrommeln, der Großvater wollte ihn mit Fackeln im Flusse suchen lassen – da klirrte auf einmal, mitten in der größten Not, sein Säbel auf der Treppe, und herein trat er, der junge Herr!

Der Empfang war etwas stürmisch. Er gestand jedoch unbefangen, daß er eine Reise in die Welt hineingemacht habe und beinahe nach Ofterdingen gekommen wäre. Die Mädchen fingen an zu lachen, und die Großmutter rief, er sei ein ganzer Held. Zwei aber verbargen ihre Freude, die Mutter und der Großvater. Der letztere ließ die Unterlippe tiefer und immer tiefer hängen, was, wie dem jungen Herrn nicht unbekannt war, böses Wetter bedeutete. Endlich sagte er: Du kleiner Landstreicher, wart, ich will dir nachträglich das Viatikum verabreichen, damit du in Zukunft weißt, wo es zu haben ist, wenn du wieder in die Fremde gehen willst.

Er faßte ihn am Fittich, und – das war aber grobe Münze, dieses Reisegeld. Nachdem er dasselbe eingestrichen, führte die Mutter den kleinen Abenteurer in die alte Reichsstadt zwischen den Bergen zurück, wo er hinter den hohen Mauern viele Wissenschaften und Tugenden, darunter auch im Lande zu bleiben und sich redlich zu nähren, lernen sollte.


So endete meine erste Ausfahrt – denn es wird nunmehr an der Zeit sein, die welthistorische dritte Person, in welcher ein Cäsar von seinen Taten reden durfte, mit dem in solchen Dingen verhältnismäßig bescheideneren Ich zu vertauschen. Der alte Satz, daß das Reisen erfahrene Leute macht, halte sich auch an mir bewährt; aber der Erfahrung war, mit jenem verstörten Grübler zu reden, »des Gedankens Blässe angekränkelt.« Ich weiß nun zwar nicht, ob es mir in der Wiege gesungen war, durch heroische Fahrten, Abenteuer und Entdeckungen zwischen dem Nord- und Südpol die Zahl der großen Weltreisebilder zu vermehren, und ob ich somit, wie mancher hienieden, meinen Beruf verfehlt habe. Doch ist es vielleicht nur dem tragischen Ausgang meiner Reise nach Ofterdingen zuzuschreiben, daß ich oft von vielbewanderten Freunden hören muß, ich habe mich mehr als billig in die Heimat eingesponnen, und daß auch in der Tat alle meine Wanderungen auf diesem Erdenrunde bis jetzt nicht sehr weit über den zweiten Postkreis hinausgegangen sind.

Streiten kann man bei alledem, ob nicht die erste derselben, die ich hier gewissenhaft beschrieben habe, mit immerhin größerem Recht, als wie es auf einer gewissen Bibliothek Nielaus Klims unterirdischen Reisen widerfahren ist, in das Fach der geographischen Schriften eingereiht werden dürste.


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