Hermann Kurz
Denk- und Glaubwürdigkeiten – Jugenderinnerungen – Abenteuer in der Heimat
Hermann Kurz

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2.

So war man denn zu einer unserer hervorragendsten Größen in eine Beziehung getreten, deren Bewußtsein immerhin sich mit dem Beziehungsbewußtsein jenes Schulmeisters messen durfte, welcher in das Schillersbuch zu Marbach schrieb: »Herrn Vater hab' ich auch gekannt.« Allein das Verhältnis zu dem großen Nekromanten sollte noch ein engeres werden; doch leitete sich dies auf einem ziemlichen Umwege ein.

Ein junger Vorgesetzter, der freundlichste und treuherzigste, dem jemals die Aufsicht über junge Geister übergeben war, hatte uns in den Freistunden die Anfangsgründe des Englischen beigebracht, und bald hatten wir uns auf den Schultern des Unterpfarrers von Wakefield zu dem düsteren Turm des Korsaren und zu der Prachthalle des verschleierten Propheten von Khorassan emporgeschwungen. Der mächtige Eindruck des dichterischen Genius in Verbindung mit dem eigentümlich fremdartigen Reiz der Sprache weckte den Trieb des Nachstammelns. Was angeklungen, was ergriffen hatte, das mußte sofort, gleichwie mit Naturnotwendigkeit, übersetzt sein, und die Übersetzungen schossen wie Pilze auf. Das ganze junge Volk war überhaupt sehr produktiv; es führte seinen eigenen »Dichterwald«, einen handschriftlichen Musenalmanach, der unter allgemeiner Teilnahme auf mehrere Bände angewachsen ist. Doch war dies lauter Originalpoesie, die Übersetzungen aber blieben vorerst das unverbrüchliche Geheimnis ihrer beiden Verfasser.

Beinahe wäre dasselbe verraten worden, als unser guter alter Vorsteher mich einst am Childe Harold ertappte und nachher in der Lektion über den Euklid auf gewisse Leute anspielte, die sich mit »Allotriis«, ja gar mit dem »Harro Harring« befassen. Er hatte diesen Zeitgenossen mit Byrons düsterem Wanderer verwechselt, und schien ihn obendrein für eine Art Ritterroman zu halten, was mich viel von seiner guten Meinung einbüßen machte.

Die Übersetzungen hatten nach und nach den Umfang einer kleinen Sammlung gewonnen und deuchten dem Verfasserpaare gegenseitig gelungen zu sein, daher die anfängliche Verschämtheit, zumal bei dem schon mit Druckerschwärze geimpften Teil, kühneren Regungen Platz machte und wir immer tiefer von der Überzeugung beseelt wurden, die »Dinger« würden gar kein übles Bändchen geben. Aber wohin damit? Das war für zwei junge Klosterschüler eine kaum aufzuwerfende Schicksalsfrage. Hätte mein Großvater, der Universitätsbuchdrucker, noch gelebt, so würden wir an dem alten Herrn einen splendiden Verleger gefunden haben.

In dieser Verlegenheit fiel mir der Herr Vetter zu Hause ein, der Verleger der Volksbücher, die mich auch in das Kloster begleitet hatten. Ich schrieb ihm, und er ließ sich umgehend vernehmen, mit Wohlgefallen habe er aus dem Briefe seines jungen Vetters ersetzen, daß wir fleißig seien, auch in neueren Sprachen nicht zurückbleiben, und sei er gerne bereit, unser Werkchen in Debit zu nehmen, wie auch nach Erfolg zu honorieren.

»Glücklich ist, wem sogleich die erste Geliebte die Hand reicht!« Wir waren es nicht minder, da wir gleich bei dem ersten Versuch, ohne die vergeblichen Schritte, die den wenigsten Anfängern erspart sind, unsern Mann gefunden hatten, und sahen, wo nicht den Himmel offen, doch die Bahn des Lebens von allen Schranken und Hemmnissen befreit.

Das druckfertige Manuskript ging unverzüglich ab, versehen mit einer Vorrede aus der Feder meines Freundes und Mitarbeiters, der ich mit Recht einen vollendeteren Satzbau und feinere Wendungen zutraute als der meinigen. Es war aber auch eine Vorrede, die sich gewaschen hatte, eine Vorrede, die dem Leser sagte, daß man ihm hier »goldene Früchte, wenn nicht in einer silbernen, doch wenigstens in einer angemessenen Schale anzubieten wünsche.« Ich gestehe, daß ich sie nicht ganz neidlos bewundert habe.

In kurzem ging das Büchlein, nicht sehr modisch ausgestattet, in Gesellschaft des gehörnten Siegfrieds und des Paradiesgärtleins aus der reichsstädtischen Presse hervor. Es trug den Titel: »Ausgewählte englische Poesien in teutschen Übertragungen.« Man schrieb Deutsch damals noch, besonders wenn es eine höhere Gesinnung ausdrücken sollte, mit dem T. Auf den Fakturen und in den Handlungsbüchern des Verlegers, sowie in unserem brieflichen Verkehr mit ihm wurde dieser Titel einfach in »Poesien« abgekürzt.

Das Kindlein ging, von den Segenswünschen der beiden jungen Väter begleitet, seinen Weg in die Welt. Wir fürchteten nicht eben von unserem Ruhm erdrückt zu werden, obwohl wir vorsichtigerweise anonym geblieben waren, – aber, o Himmel, wie lautete der Rechenschaftsbericht der ersten Messe! Ein Dutzend Exemplare waren abgesetzt, die übrigen als Krebse, zum Teil in beißenden Bemerkungen gesotten, zurückgekommen. So hatte unter andern ein Buchhändler erklärt, es sei ein »Jammerwerk«; ein anderer hatte beigeschrieben, man solle ihn künftig mit solchem »Schund« verschonen. Ein dritter hatte gemeint, es gebe Übersetzungen genug, man brauche keine neue. Dieses und noch anderes mehr berichtete der Herr Vetter gewissenhaft und sein Schreiben schloß: »So stehet es mit den Poesien!«

Unter den verschiedenen Gattungen von Briefen, die im menschlichen Verkehr gewechselt werden, bietet die Abteilung, welcher der soeben erwähnte angehört, ohne Zweifel die denkwürdigsten Beispiele, und man könnte besonders aus den Schubladen angehender Schriftsteller eine auserlesene Sammlung von Kabinettsstücken zusammenstellen. So erinnere ich mich eines Briefes (ich verrate aber nicht, an wen er geschrieben ist), worin ein Verleger einem Verfasser das Schicksal seiner Produkte gar in unwillkürlichen Distichen auseinandersetzt, die nur leichte Nachhilfe, hier die Weglassung, dort die Zugabe eines Fußes erfordern, um für zwei vollkommen tadellose Verse zu gelten. Man urteile. »Fruchtlos setzten wir endlich den Preis auf ein Drittel herunter, / Aber sie rühren sich nicht, / und nur die Hälfte verkauft, / Würde (lies: würd') uns zufrieden und sohin in eine Lage versetzen, / Welche zur Zeit noch (lies: annoch) / unsere Firma nicht kennt.«

Gewiß darf man die Stelle erhaben nennen, um so mehr, als der Schreiber keine Ahnung davon hatte, daß mitten in der reellen Prosa eines Geschäftsbriefes die Muse ihn im Nacken zupfte.

Ich glaube mich aber nicht zu irren, wenn ich diesem wie allen ähnlichen Stammbuchblättern das Schlußwort, zu welchem sich der Bericht meines ersten Verlegers zuspitzte, um seiner gediegenen Kürze, seines prägnanten Gedankenausdrucks willen vorziehe. Er hat sich mir fest eingeprägt, dieser Denkspruch, und in manchen Unbilden mich getröstet, denn bei aller elegischen Tiefe ist Humor in ihm. Ja, heute noch, wenn mich über das Getreibe des »geistigen« Marktes ein Kopfschütteln ankommt, wenn ich zusehen muß, wie die Industrie des Tages der Menschheit Schnitzel kräuselt und die große Kinderstube dem Trödelkrame nachläuft, – wenn – und wenn – und wenn – doch still, ich habe ja weder Gevatter noch Gevatterin, denen ich's klagen könnte – da gedenke ich eben des nun längst im Frieden ruhenden Herrn Vetters und sage mir: »So stehet es mit den Poesien!«

Damals aber wurmte es mir, daß ich den guten Mann in Schaden gebracht haben sollte, und ich sann daher auf einen Verlagsartikel, der ihm denselben zu ersetzen geeignet wäre. Da wurde ich eines Tages bei einem Universitätsfreunde – wir waren inzwischen auf die Hochschule befördert worden – der alten Fausthistorie in der Bearbeitung von Rudolf Widmann und Nicolaus Pfitzer habhaft. Ein anderer Freund übertrug mir auf meine Bitte eine Anzahl Umrisse von Retzsch und Thäter in volkstümliche Zeichnungen, und fügte noch einige Bilder aus eigener Eingebung hinzu, worin besonders die Darstellung, wie Faust den Wirtsjungen frißt, »der ihm allewege zu voll einschenkete«, ein Muster von Naturwahrheit war.

Sofort ließ ich mir mein Dänenroß, eine der damals gefeierten akademischen »Katzen«, satteln, ritt zu dem Herrn Vetter hinüber, der auch ohne Zaudern den Zuwachs seiner Volksbücher zu würdigen verstand, gab Anweisung, was abzudrucken und was wegzulassen, bis zum letzten Kapitel, wo Doktor Faustus geschildert ist als »ein hockruckerigs Männlein, eine dürre Person, habend ein kleines grawes Bärtlein«, und diktierte dann dem Setzer an seinem Kasten frischweg die Vorrede in die Lettern. Ich wollte mir's nicht nehmen lassen, auch einmal selbst eine Vorrede an das Licht zu geben. In dieser bot ich, gleichfalls auf eine angemessene Schale bedacht, den rostigen Stil nämlich des alten Buches nachahmend, dasselbe »dem freundlichen Leser« dar »zur Ergötzung, aber auch zur Warnung und abschreckendem Exempel, wie es denn auch in unserer Zeit solche leichtfertige Leute geben mag, welche, wann nur der Teufel herhalten wollte (er wird aber wohl wissen, warum er's bleiben lasset), gleich mit Feder und Papier bei der Hand wären, um eben auch so einen Kontrakt mit ihm abzuschließen, gleichwie der unglückselige Doktor Faustus« usw. usw.

Dixi, schwang mich wieder auf mein Roß und ritt stolz nach der Universität zurück, welche vor dritthalb Jahrhunderten, 1588, das gleiche Unternehmen nicht so straflos hatte durchgehen lassen.

Damals war soeben durch den Frankfurter Verleger unseres Frischlin das erste Faustbuch, angeblich nach einem aus Speier erhaltenen Manuskript, »der ganzen Christenheit zur Warnung« in die Welt befördert und von einem christlichen Publikum mit wonnevollem Grausen aufgenommen worden. Dem akademischen Buchdrucker von Tübingen aber, Alexander Hock, schien das Büchlein wert, »noch mehr divulgiert und an Tag geben zu werden.« Um sich keines Nachdrucks schuldig zu machen, wählte er eine »kurzweiligere« Form, indem er zwei Studenten beredete, die Frankfurter Prosa fast wortgetreu in Reime zu bringen, und schon ein halb Jahr nach dem Erscheinen der Frankfurter Ausgabe kam das Tübinger Reimwerk in den Druck, das mit den resoluten Versen begann:

Es ist der Doktor Faustus nun
gewesen eines Bauren Sun.

Die Vorrede aber ermahnte alle Christen, dies Büchlein zu kaufen und mit allem Fleiß zu lesen, damit sie sich vor dem Teufel hüten lernen, oder, falls sie schon in seine Klauen geraten sein sollten, sich wieder auf den rechten Weg und zur wahren Erkenntnis Gottes reizen lassen möchten. Diese Warnung, die dem jungen Herausgeber im neunzehnten Jahrhundert ein romantisches Spiel mit alten Stilformen war, hatte im sechzehnten ihren guten praktischen Grund, nämlich das Büchlein und seine Urheber rückenfrei zu halten.

Die Absicht schlug jedoch fehl. Es waren ohnehin zu der Zeit an der Universität ärgerliche Händel vorgelaufen und Komödien aufgeführt worden, durch welche den ›Adversariis‹ (der katholischen Partei) »groß Verdruß beschehen.« Die Regierung schickte Kommissarien von Stuttgart herauf zur Visitation, und der Senat ließ den Verfasser der Komödie, die den größten Anstoß gegeben, »durch Meister Samuel in carcerem setzen oder legen.« Bei dieser Gelegenheit brachte die Regierung auch das »Traktätlein vom Faust« zur Sprache, und der Senat beschloß: » Hockium wölle man sampt denen Authores, so historiam Fausti (geschrieben), einsetzen und darnach einen guten Wiltz geben.«

Damals ging es bei uns zu Lande nicht an, den Teufel auch nur »über die Türe zu malen.« Gleichwohl verbreitete sich die Fausthistorie, »wunderlich daherrauschend,« über die ganze abendländische Welt, und wurde in allen Sprachen Europas, immer mit den »treuherzigsten« Warnungen ausgestattet, an die kauflustige Christenheit abgesetzt.

Auch der Herr Vetter fuhr mit dem Büchlein gar nicht schlecht, denn es gewährte ihm vollständige Entschädigung für die verunglückten »Poesien«. Er konnte es mehrmals auflegen; es überlebte ihn, und ist, wie ich zufällig sehe, erst kürzlich wieder in neuer Auflage erschienen.

Auf diese Weise habe ich den Freunden meiner Jugend, den Volksbüchern, ihren langentbehrten Gesellen wieder zurückgebracht, und andere Herausgeber und Verleger haben das Beispiel seitdem häufig nachgeahmt. Indem ich mich nun meines Verdienstes rühme, darf ich mir freilich nicht bergen, daß der Verkleinerungsgeist, der unter den Menschen herrscht, mich fragen kann und wird, ob es im Vergleich mit den dichterischen und gelehrten Behandlungen der Sage eine große Tat genannt werden könne, ein altes Buch, obendrein nicht einmal das beste unter den Faustbüchern, zum Wiederabdruck befördert zu haben, und will ich unparteiisch sein, so muß ich gestehen, daß ich auf diese Frage nichts zu antworten weiß. Doch –

Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.


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