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Da ich über gerichtliche Medizin las, so begreift es sich, warum ich 1856 auch an eine Aufgabe aus diesem Gebiete der Medizin heranging. Warum ich aber gerade die Totenstarre zum Gegenstande meiner Arbeit wählte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Die Abhandlung, die in der Prager Vierteljahrsschrift Bd. 50. S. 67-115. erschien, führt den Titel: Ueber die Totenstarre und die ihr verwandten Zustände von Muskelstarre mit besonderer Rücksicht auf die Staatsarzneikunde. Die physiologische Einleitung ist länger als der gerichtliche Teil und giebt in der Hauptsache nur eine kritische Aufzählung der sämtlich unerwiesenen und meist verfehlten Hypothesen über die Natur der merkwürdigen Erscheinung, die erst acht Jahre nachher durch die scharfsinnigen Untersuchungen Willy Kühnes W. Kühne, Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität. Leipzig 1864. aufgeklärt wurde. Danach ist die kontraktile Substanz des Muskels im Leben mit einer ihr eigentümlichen eiweißreichen Flüssigkeit, dem Muskelplasma, getränkt, mit dem Tode wird daraus ein fester Eiweißstoff, das Myosin, ausgeschieden und damit der Muskel »totenstarr«.
Das Studium der verschiedenen Formen von Muskelstarre auf dem Versuchswege lehrte mich die durch Einspritzung chemischer Substanzen in die Schlagadern bedingte kennen, die wohl auf ähnlichen Gerinnungsvorgängen im Muskelfleische beruht, wie die natürliche Totenstarre. Unter den Stoffen, die in den Blutlauf gebracht oder dem Tiere nach erloschenem Leben in die Schlagadern eingespritzt, sofort die Starre hervorrufen, zeichnet sich das Chloroform aus, es bewirkt unter plötzlicher heftiger Streckung der Gliedmaßen eine Muskelstarre von ungemeiner Stärke. Sie hat schon 1849 das Erstaunen des langjährigen Doyen der Straßburger Fakultät, Jean Baptiste Bozier Coste und des Physiologen Flourens in Paris erregt, und ist der heftigen Streckung der Beine halber als » État tétanique permanent« bezeichnet worden. Ein genaueres Studium dieser »Chloroformstarre«, wie ich sie der Kürze wegen nannte, lieferte eine Reihe bemerkenswerter Ergebnisse, die ich in Virchows Archiv Bd. XIII. S. 289-322. 1856 mitteilte. Am toten Tiere kann diese Starre wochenlang bestehen und die Fäulnis der eingespritzten Gliedmaßen aufhalten, am lebenden Tiere weicht sie rasch der Fäulnis und Erweichung. Der Grund dieses verschiedenen Verhaltens liegt in der Fortdauer der Blutströmung bei dem lebenden Tiere und ihrem Wegfall beim toten. Der Blutstrom spült das Chloroform, das den Muskel des lebenden Tieres ertötet und starr gemacht hat, wieder weg und mit ihm das Hindernis, das nach erloschenem Kreislauf dem Eintritt der Fäulnis im Wege steht. Der Kreislauf erlischt in dem ertöteten Gliede erst mit dem Eintritt der Fäulnis, aber auch dann noch findet eine Strombewegung in dem faulenden Gliede am lebenden Körper statt, die gelöste Stoffe aus jenem in diesen führt, und wahrscheinlich durch das plasmatische Röhrennetz des Bindegewebes vor sich geht. So wird es begreiflich, weshalb das abgestorbene mumifizierte Bein, der trockene Brand infolge unterbrochenen Kreislaufs, wie dies bei Arterienverkalkung vorkommt, dem Körper weniger gefährlich ist, als der feuchte, wo die Fäulnisgifte selbst nach erloschener Zirkulation aus dem toten Gliede den lebenden Teilen zugeführt werden.
Meine gerichtsärztliche Thätigkeit gab 1858 Anlaß zu einem Aufsatze in Virchows Archiv Bd. XIII. S. 60-74.: Ueber die Zerreißung der inneren Häute der Halsarterien bei Erhängten.
Diese kurze Abhandlung hat mir viel Vergnügen gemacht. Sie wies an einem kleinen, aber treffenden Beispiele nach, daß das Bestreben, Merkmale zu finden, die vor Gericht von unbedingtem Werte sind, gerade so verkehrt ist und zu Irrtümern führen muß, wie das Fahnden der ontologischen Pathologie nach Kennzeichen von unbedingtem diagnostischem Werte, nach sogenannten pathognomonischen Zeichen. A. Devergie, eine große französische Autorität in gerichtlichmedizinischen Dingen und Verfasser eines geschätzten Werkes: » Médecine légale, théorique et partique«, hatte behauptet, die Zerreißung der Karotidenhäute komme nur an lebend Erhängten vor, aber sie läßt sich auch an der Leiche zu stande bringen, es kommt nur darauf an, wie der Strick angelegt wird und auf den Grad von Brüchigkeit der Schlagadern. Gerade kurz vorher hatte Gustav Simon, der berühmte Chirurg, der damals noch in Darmstadt praktizierte, gleichfalls in Virchows Archiv, Bd. XI. Heft 4. 1857. dieselben Einwände gegen Devergies bedenkliche Lehre erhoben, doch war meine Bestätigung und Erweiterung von Simons Ausführungen nicht überflüssig, nachdem Schürmayer in seinem von den Praktikern viel benützten Handbuche noch 1854 den merkwürdigen Ausspruch gethan hatte: »Das Durchschnittensein der inneren und mittleren Haut der Karotis habe sich nicht bewährt«. Ob beim Erhängen, oder als Lehrsatz, verschwieg er. In wie mannigfacher Art man sich aufhängen und den Strick um den Hals legen kann, um durch Erhängen sich aus dem Leben zu schaffen, mag der Bilderfreund, dem es weniger um ästhetischen Genuß, als richtige Darstellung der Wirklichkeit zu thun ist, in dem Atlas der gerichtlichen Medizin des Wiener Professors, Ritters von Hofmann, nachsehen. München, Lehmann, 1898. Tafel 22, 23, 24 und Figg. 178 – 184.