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Das alte Sprüchlein: habent sua fata libelli, das ich frei übersetzen möchte: auch die Bücher haben ihre Geschichte, fällt mir ein, da ich jetzt im Begriffe bin zu erzählen, wie das umfängliche Werk entstand, das mich ein ganzes Jahr beschäftigte und an Neujahr 1859 herauskam. Es trägt einen langen Titel: Von dem Mangel, der Verkümmerung und Verdopplung der Gebärmutter, von der Nachempfängnis und der Ueberwanderung des Eies, mit 58 Holzschnitten. Würzburg, 1859, Verlag von Stahel.
Im Grunde genommen verdankt mein Buch seine Entstehung meiner gerichtsärztlichen Stellung in Heidelberg. Ein Arzt aus der Stadt bat mich eines Tags, am 14. Dezember 1857, um die Sektion einer jungen Frau, die im zweiten bis dritten Monate der Schwangerschaft von heftigen Schmerzen im Leibe befallen worden und nach wenigen Stunden unter den Erscheinungen einer inneren Verblutung gestorben war. Da die Nachbarschaft den Verdacht einer Vergiftung hatte laut werden lassen, verlangten die Angehörigen durch den Herrn Kollegen, der die Kranke kurz vor dem Tode gesehen hatte, die amtliche Sektion. Ich nahm sie vor und fand als Todesursache Verblutung in die Bauchhöhle aus einem geborstenen Fruchtsack des linken Eileiters. Merkwürdigerweise saß das zugehörige Corpus luteum nicht im Eierstock der gleichen Seite, sondern im rechten, und die genauste Untersuchung ließ nur die Annahme zu: es mußte das Ei, das sich in dem linken Eileiter zur Frucht entwickelt hatte, vom rechten Eierstocke herübergelangt sein. Wie war diese »Ueberwanderung« möglich geworden? Welche Kraft hatte das Ei bewegt, die peristaltische kontraktiler Muskelfasern oder der Wimperschlag flimmernder Epithelien? Und welchen Weg hatte es genommen? War es direkt durch die Bauchhöhle in den linken Eileiter gelangt oder auf dem Umwege durch den rechten und die Gebärmutterhöhle? – Diese Frage schien mir einer Untersuchung wert.
Gerade um diese Zeit war ein Freund von mir aus fernen Landen, wo er die ärztliche Kunst mit gutem Erfolge ausgeübt hatte, nach Europa zurückgekehrt, hatte mich aufgesucht und erfahren, welches Problem mich beschäftigte. Besorgt um meine Zukunft schüttelte er bedenklich sein Haupt und warnte: ich solle meine kostbare Zeit nicht mit solchen unnützen Fragen verlieren! Die Mahnung verdroß mich nicht, im Gegenteil, sie erheiterte mich; denn sie rief mir unseren alten Professor H. am Gymnasium ins Gedächtnis zurück, der seinen Schülern zurief, sie sollten ihm ja kein Unkraut in die botanische Stunde bringen, und beim Unterricht in der Tierkunde sich das Ungeziefer verbat, das ihm die »Buben« in Gestalt von Asseln und Spinnen in der Schule vorgezeigt hatten. Unnütze Fragen kennt die Physiologie nicht, vorausgesetzt, daß sie wissenschaftlich gestellt sind, auch voraussagen läßt sich nicht, welche Früchte sie für die Praxis tragen können. Darum ließ ich mich nicht beirren und stellte in der Abhandlung von der Ueberwanderung des Eies in meinem Buche alles kritisch zusammen, was sich nach dem damaligen Stande unsrer anatomischen und physiologischen Kenntnisse und den Versuchen der Embryologen am befruchteten Tiere darüber sagen ließ. Ich bin sogar einige Jahre später, 1862, nochmals darauf zurückgekommen. Weitere Beiträge zur Lehre von der Ueberwanderung des menschlichen Eies. Monatsschrift für Geburtskunde. Bd. XX. Heft 4. S. 295 u. f. Allerdings hat mein Freund insofern recht behalten, als diese interessante physiologische Frage bis heute keine praktische Bedeutung gewonnen hat. Auch ist ihre Entscheidung noch nicht spruchreif, doch scheint sie nach den neuesten Studien von Pinner, Kehrer und Heil zu Gunsten des direkten Transports unter Vermittlung des Wimperschlags ausfallen zu wollen. Meine Studien aber waren nicht nutzlos für die praktische Heilkunde, wie der weitere Gang meiner Erzählung überzeugend nachweisen wird, und sie dürften an den Jäger erinnern, der ausging um ein mageres Häslein zu schießen und mit fetter Jagdbeute heimkam.
Bei meiner Umschau in Zeitschriften und Dissertationen nach gut beschriebenen Eileiterschwangerschaften, um die Häufigkeit der Ueberwanderung und die Umstände, unter welchen sie vorkommt, zu ermitteln, fiel mir gleich anfangs eine Heidelberger Inaugural-Dissertation in die Hand, die meiner Forschung sofort ein bedeutend weiteres Ziel setzte. Sie war unter Tiedemanns Leitung 1824 erschienen; hatte einen Aschaffenburger, Dr. Stanislaus Czikak, zum Verfasser, und die Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter zum Gegenstande, als Beigabe die Beschreibung und Abbildung einer angeblichen Eileiterschwangerschaft. Das Präparat befand sich noch in der Sammlung der anatomischen Anstalt. Bekannt mit Rokitanskys grundlegenden Arbeiten über die Bildungsfehler der Gebärmutter und einem Würzburger Präparat, das Scanzoni für Eileiterschwangerschaft gehalten hatte, bis Virchow seine richtige Natur aufdeckte, sah ich sofort, daß Tiedemann sich geirrt hatte. Das runde Mutterband dient in solchen Fällen als diagnostisches Leitband; der Ort seiner Einsenkung entspricht jedesmal dem unteren Ende des Eileiters. Liegt der Fruchtsack unterhalb dieser Stelle, so gehört er der Gebärmutter und nicht dem Eileiter an. Tiedemanns und Czikaks Präparat erwies sich als Schwangerschaft in dem verkümmerten Nebenhorn einer doppelt angelegten Gebärmutter. – Ein zweites Präparat angeblicher Eileiterschwangerschaft, das der Chirurg Heyfelder dem alten Naegele geschenkt hatte, befand sich in der anatomischen Sammlung der Entbindungsanstalt und war von gleicher Art, wie das Tiedemann'sche. – Wenn große Anatomen, wie Tiedemann und Geburtshelfer, wie Naegele und Lange, solche Böcke schießen konnten, ließen sich in der Litteratur sicher noch mehr Fälle solcher irriger anatomischer Diagnosen auffinden. Diese Erwartung bestätigte eine sehr eingehende Prüfung aller in deutschen und ausländischen Werken, Zeitschriften und Dissertationen mitgeteilten Beobachtungen von Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter. Es gelang mir im ganzen ein Dutzend ganz oder nahezu sicherer Fälle von Schwangerschaft im Nebenhorne aufzufinden.
Es geht mit dem wissenschaftlichen Appetit, wie mit dem leiblichen, er wächst, während man ihn eifrig befriedigt. Zuerst hatte mich nur der physiologische Vorgang der Ueberwanderung des Eies interessiert, dann die Verwechslung von Eileiterschwangerschaft und Schwangerschaft im Nebenhorn bei Gebärmutterverdopplung, jetzt aber lockte es mich, das ganze Gebiet der Bildungsfehler der Gebärmutter nach allen Richtungen hin, rein wissenschaftlichen und praktischen, zu durchforschen, kritisch zu sichten und geordnet darzustellen. So kam mein Buch zustande, dem ich noch eine Abhandlung über Nachempfängnis beifügte, einen anziehenden Gegenstand für Physiologen und Juristen, der in innigem Zusammenhang mit der Verdopplung der Gebärmutter steht. Seine Kenntnis kann, wie Frau Benôite Franquet in Lyon vor mehr als hundert Jahren es aussprach, die wichtigsten Dienste leisten: » aux femmes, dont les maris seraient morts avant la naissance des deux enfants, en faveur de leur vertu et de l'état du second enfant.« Sie hatte fünf Monate und 16 Tage nach der ersten, im siebten Monat erfolgten Geburt eines Mädchens ein zweites vollkommen ausgetragenes, zur Welt befördert und die beiden gesunden Kinder mit ihren Geburtsscheinen zwei Notaren vorgestellt, um diese Thatsache zu einer authentischen zu erheben. Vgl. mein Buch, S. 299.
Vor den Augen der alten Medizin waren die Mißbildungen nur kuriose Monstra und Naturspiele. Erst der große Anatom Joh. Friedr. Meckel II., gestorben 1833, lehrte sie verstehen, erkannte das Gesetzmäßige in ihrer Natur und erklärte sie als die Folgen gestörter Entwicklung, als Bildungshemmungen. So liegt der Grund der Verdopplung der Gebärmutter in mangelhafter Verschmelzung ihrer doppelten Anlage, der Müller'schen Gänge. Die Ursachen, welche diesen Vorgang stören, sind erst teilweise bekannt.
Das richtige Verständnis der Bildungsfehler der Gebärmutter, insbesondere ihrer Verdopplung, datiert erst seit der Entdeckung Joh. Müllers (1830), daß Eileiter und Gebärmutter aus jenen embryonalen Röhren hervorgehen, die seinen Namen erhielten, ihre wissenschaftliche, anatomische Bearbeitung seit dem Aufsatze Rokitanskys über die sogenannten Verdopplungen der Gebärmutter vom Jahre 1838. Med. Jahrb. des Oesterr. Staates. Bd. 26. S. 39. Meine Monographie behandelt das ganze Gebiet der Bildungsfehler dieses Organs auf Grund der Beobachtungen, die in unzähligen Zeitschriften und selbständigen Schriften der gesamten medizinischen Litteratur bis zum Erscheinen meines Buches niedergelegt worden sind. Es hat falsche Anschauungen der alten Lehrbücher berichtigt und ist die Grundlage geworden für die vielen seither erschienenen ausgezeichneten Abhandlungen bewährter Anatomen und Frauenärzte. So hat es zur Förderung der wissenschaftlichen und praktischen Aufgaben der Frauenheilkunde wesentlich beigetragen, wenn ich den Versicherungen verehrter Kollegen auf diesem Gebiete vertrauen darf. Auf eine Anfrage an meinen ehemaligen Freiburger Kollegen, Herrn Professor Hegar, ob er noch immer früher mir geäußerte Anschauungen über den Wert meiner Monographie für den Zweig der Heilkunst, den er mit so großen Erfolgen gepflegt hat, hege, erwiderte er mir am 3. Oktober 1900 folgende freundliche Zeilen: »Meine Ansicht über Ihr Buch hat sich nicht geändert. Ich halte es für eine fundamentale Arbeit, welche der Gynäkologie ein neues Gebiet erschlossen hat. Allein das Werk hat nicht nur für ein Spezialfach Wert, sondern auch eine allgemeine Bedeutung. Man kommt immer mehr zu der Ansicht, daß ein sehr beträchtlicher Teil der Unvollkommenheiten und Gebrechen, welche die Menschheit quälen, darauf beruhe, daß die Keime oder das befruchtete Ei von Anfang an mißraten oder von einer Schädlichkeit getroffen sei. Die Lehre von den Entwicklungsstörungen und Bildungsfehlern hat daher einen neuen Aufschwung genommen. Ihr Buch wird daher von neuem eine größere Rolle spielen. Es ist übrigens längst vergriffen und ein neuer Abdruck würde gewiß abgesetzt werden« u. s. w. Welche Ausdehnung und Wichtigkeit die Lehre von den Bildungsfehlern der Gebärmutter und der Sexualorgane überhaupt im Laufe der letzten 40 Jahre gewonnen hat, ergiebt sich am besten aus der Thatsache, daß eine besondere umfängliche Monographie Erwin Kehrer, das Nebenhorn des doppelten Uterus. Dargestellt im Anschluß an 82 Fälle von Gravidität und 12 Fälle von Hämatometra. Mit 3 Abbildungen und 2 Tafeln. Inaug.-Diff. Heidelberg, C. Winter. Groß 8º. 1899. 159 S.) einzig »das Nebenhorn des doppelten Uterus« zum Gegenstande hat. Der Verfasser, Dr. Kehrer jun., konnte darin, ohne auch die ausländische Litteratur erschöpft zu haben, 82 Fälle von Schwangerschaft im Nebenhorne zusammenstellen, während ich nur über ein Dutzend verfügte. Seit den Fortschritten der Chirurgie hat diese früher fast ausnahmslos zum Tode oder doch zu lebenslänglichem Siechtum führende Schwangerschaft ihre Schrecken wenigstens zu einem großen Teile verloren. In nicht weniger als 45 Fällen wurde zur Operation geschritten und 39 mal ein günstiger Erfolg mit Rettung der Mutter erzielt. Saenger, damals in Leipzig, hat eine eigne Methode der Ausführung für sie ausgesonnen, die besonders günstige Ergebnisse liefert.
Mein Buch ging in die Welt hinaus und fand überall gute Aufnahme, nur nicht in Straßburg, wo einer der ältesten Fälle von Verdopplung der Gebärmutter beobachtet und 1752 in Großfolio auf vier Bildertafeln von dem Professor Eisenmann verewigt worden war. Hier lehrte Josef Alexis Stoltz, ein Elsäßer aus Andlau, von 1829 bis zur Einverleibung des Elsaßes Geburtshilfe, angesehen als Arzt und Lehrer, geschätzt auch bei seinen Fachgenossen in Deutschland. Er war hie und da zu dem alten Naegele nach Heidelberg herübergekommen, der ihn mit Achtung nannte, persönlich aber habe ich ihn nie, weder in Heidelberg, noch später im Elsaß, wo er hochbetagt in seinem Geburtsort 1900 gestorben ist, kennen gelernt. Nach der Einverleibung des Elsaßes optierte er für Frankreich und wurde bei der Verlegung der Straßburger Fakultät nach Nancy zu deren Professor und Dekan ernannt.
Ich war bei meiner literarischen Umschau zweimal auf den Namen von Stoltz gestoßen, einmal auf eine kurze Mitteilung von ihm über einen Fall mangelhafter Entwicklung der Gebärmutter, den ich Seite 118 meines Werkes anführe, das andremal in einer Note der Gazette medicale de Paris von 1856, Seite 628, wonach er mehrere Beobachtungen über Bildungsfehler der Gebärmutter gemacht haben müsse; ich habe auch dies Seite 124 gewissenhaft erwähnt, mit der Bemerkung, seine Abhandlung sei, wie es scheine, noch nicht im Druck erschienen. In der That ließ er sie erst 1860 in Straßburg bei Silbermann drucken, Note sur le développement incomplet d'une des moitiés de l'utérus et sur la dépendance du developpement de la matrice et de l'appareil urinaire. 20 S. nachdem mein Werk bereits ein Jahr zuvor die Presse verlassen hatte. Aus einer Anmerkung unter dem Text der ersten Seite ging hervor, daß er seine Mitteilung schon 1856 der Académie des sciences in Paris vorgelegt, aber vergeblich auf den offiziellen Bericht darüber gewartet hatte. In derselben Anmerkung gefiel es ihm nun zu behaupten, ich müsse diese Mitteilung zur Einsicht erhalten haben, er wisse nicht wie; er werde in einer Monographie über den Gegenstand seiner Mitteilung darauf zurückkommen, ich hätte einen Teil der Thatsachen, die er darin gebracht, in meiner Schrift ausgenommen, » avec des remarques, qui méritent d'être relevées." Die Monographie, die er in Aussicht stellte, ist nie erschienen und es ist mir auch nie bekannt geworden, was er an meiner Monographie auszusetzen hatte. Sicherlich hat er nie erfahren, wer mir seine Mitteilungen an die Académie des sciences verriet, da es keinen Verräter gab. Ich hatte weder in der Akademie noch sonst in Paris Bekannte, die mir einen Dienst hätten leisten können, dessen ich nicht bedurfte, und den ich nie verlangt hätte.
Diese Bemerkung des Straßburger Geburtshelfers hat mich anfangs sehr aufgebracht und mich zu einer Entgegnung veranlaßt, bald aber urteilte ich ruhiger. Sein Verdruß war sehr begreiflich. Er hatte schon 1832 gelegentlich der Sektion einer Frau den Bildungsfehler eines doppelten Uterus mit verkümmertem Nebenhorn kennen gelernt, konnte ihn nirgends in der Litteratur beschrieben finden, und entdeckte nun 1836 bei einem Besuche in Heidelberg, als ihm das Präparat angeblicher Eileiterschwangerschaft in Naegeles Sammlung gezeigt wurde, dessen wirkliche Natur er richtig erkannte, daß ein solches Nebenhorn im stande sei, ein Ei aufzunehmen und zur Entwicklung gelangen zu lassen. Die richtige Deutung des Präparates machte seinem Scharfsinn große Ehre, denn sie gelang ihm, ehe die Arbeiten Rokitanskys die Diagnose dieser ungewöhnlichen Form von Schwangerschaft den Aerzten so sehr erleichtert hatte, und er hätte wohlgethan, seine Entdeckung sofort zu veröffentlichen. Da er zuwartete und glaubte, die Approbation der Akademie abwarten zu müssen, ehe er damit herausrückte, erging es ihm, wie einem meiner Freunde mit einem schönen Bauplatz mit prächtiger Aussicht, auf dem er sich vornahm ein Haus zu bauen; da er aber hierüber erst die Ansicht anderer kennen lernen wollte und es versäumte, den Bauplatz rechtzeitig in seinen Besitz zu bringen, so kam ihm ein anderer mit dem Hausbau zuvor.
Stoltz ist mir leider bis zu seinem Tode gram geblieben. Er war noch 1877 als Professor in Nancy so ungerecht gegen mich, einem Schüler, E. Müller, in einer ausgezeichneten Thèse, pour obtenir le grade de Docteur en medecine: De la Grossesse utérine prolongée indéfiniment, in einer Anmerkung auf Seite 156 dieselbe Anklage gegen mein Buch zu diktieren, die er 17 Jahre zuvor erhoben hatte. Er konnte mir nicht verzeihen, daß ich ihm ein Lorbeerblatt, gewissermaßen unter seinen Augen, vorweg genommen hatte.