Manfred Kyber
Die drei Lichter der kleinen Veronika
Manfred Kyber

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3. Aron Mendels Bürde

Die einsame nordische Landschaft war einst noch viel einsamer, als sie heute ist. Nur selten durchschnitt ein Schienenstrang ihre Moore und Heiden, auf denen Krüppeltannen und kleine Birken kümmerlich wachsen, und keine heulenden Kraftwagen fegten den Staub der endlos langen Landstraßen auf oder störten die feiernde Stille der Waldwege, in deren grünem Gehege die Sonnenflecken spielen. Wie schön war dieses Land, weil es menschenarm war, weil es, noch ferne vom Lärm einer wirr gewordenen Zeit, im Ruf der Tiere und im Atem der Pflanzen den unberührten Traum seines Daseins träumte! Die Stimmen, die hier redeten, waren der Natur verschwistert, die leise rauschenden Baumkronen mit dem glasklaren Himmel darüber sangen ihr immer gleiches Lied, und die einfachen, bunten Blumen des Nordens bestickten den grünen Moosteppich zu einem Wunder der Wildnis. Die Straßen aber, auf denen das menschliche Leben durch diese Wälder und Heiden zog, waren wenig begangen, und man konnte lange wandern, ohne jemandem zu begegnen.

Um jene Zeit war es, daß auf den einsamen Straßen seltsame Gestalten pilgerten, ruhelos, von Hof zu Hof, von einer kleinen Stadt zur anderen. Es waren alte Juden mit einem schweren Bündel auf dem Rücken. Unermüdlich traten ihre emsigen Füße den Staub der Straße, und demütig und ergeben krümmten sich ihre Schultern unter einer viel zu schweren Last. Sie wanderten, wie Ahasver wandert, und der Wind fuhr ihnen durch die ärmliche Kleidung und in ihr graues, flatterndes Haar. Ich sehe sie noch heute vor mir, wie ich sie als Kind gesehen. Noch heute empfinde ich etwas von der seligen Erwartung, wenn sie ihr schweres Bündel vom Rücken nahmen und die Herrlichkeit ihrer Waren zeigten. Es war ein ganzer Kasten, den sie mit sich schleppten, aus Holz gearbeitet, und in einem starken Leinensack mit Traggurten verborgen. Eine Schublade nach der anderen zogen sie empfehlend auf und blendeten die staunenden Augen durch eine Fülle unsagbar verlockender Dinge. Welche Schätze bargen diese wandelnden Kommoden! Kämme und Bürsten mit Verzierungen, Seidenbänder in allen Farben und nie erahnten Tönungen, Taschenmesser in überwältigender Auswahl, bedruckte Tücher mit unwahrscheinlichen Blumenmustern, grasgrüne Bonbons und Schokoladenrollen, die in buntes Glanzpapier gehüllt waren. Nie wieder sah man eine Umhüllung von so geheimnisvoller Leuchtkraft. Nie wieder fühlte man so die Seligkeit des Einkaufs und auch die Beschränktheit des Besitzes – wie mußte man rechnen und überlegen, um sich für ein durchaus begrenztes Taschengeld eine dieser Herrlichkeiten für immer zu sichern! Wie furchtbar schwer wurde hier jede Wahl, und wie wurde sie oft noch bis zur Unlösbarkeit der Probleme verwickelt durch den Redeschwall dieser wandelnden Warenhäuser: Nie wieder wird eine solche Gelegenheit sich bieten, solche Kämme, solche Bürsten sind nur noch dieses Jahr zu haben, nein, nur heute, nachher im ganzen Leben nicht mehr. Man mache sich klar, was das bedeutet! Diese Taschenmesser sind so scharf geschliffen, daß sie ein Haar schneiden, das darauf fällt! Man sah sich schon mit blutenden und zerschnittenen Fingern. Diese bedruckten Tücher, diese Seidenbänder werden überhaupt nicht mehr geliefert. Die Welt muß darauf verzichten, sie stellen sich zu teuer. Es ist also das letzte Mal, daß ein menschliches Auge diese Muster sieht. Nie wieder wird es diese Schokolade geben, es ist eigentlich Wahnsinn, sie zu verkaufen – und alles das zu Preisen, die beinahe als eine milde Unterstützung des Käufers zu betrachten sind! Und nun wird die letzte Schublade langsam aufgezogen, wie ein Vorhang vor einem Theaterbild: Schmuck und Kostbarkeiten, Korallennadeln und Ringe, in denen geschliffene Steine aus Glas in der Sonne blitzen! Eine unerhörte Pracht – und nicht nur der Billigkeit wegen aus Glas, o nein, vor allem darum, weil Glas bekanntlich alle Edelsteine übertrifft an Licht und Farben. So etwas kann man mit sogenannten gewöhnlichen Edelsteinen überhaupt nicht erzielen. Es würde sich lächerlich dagegen ausnehmen! Nicht wahr? Ein jeder muß das einsehen, der nur ein wenig davon versteht.

Ich weiß es noch wie heute, wie groß die Kinderseligkeit solch eines Einkaufs war. Noch besser und noch tiefer aber weiß ich es, wie sie zu Ende ging. Ich sehe es noch vor mir, wie der alte Jude Schublade um Schublade schloß, wie er den groben Leinensack über den Kasten zog und ihn mit einer einzigen ruckhaften Bewegung auf die Schultern lud. Da packte mich mit einem Male der Gedanke: dieser Kasten ist viel zu schwer für den alten Mann, und er schleppt ihn Tag für Tag und Stunde um Stunde, in Regen, Schnee und Sonnenbrand über die endlose Landstraße. Was hat er von seinen Herrlichkeiten? Für ihn selbst sind sie nicht da, er muß sie schleppen und muß sie fortgeben. Er muß noch froh sein, wenn er sie fortgeben kann, damit er sein Brot zu essen hat, das er vielleicht am Grabenrand verzehrt oder in einem schmutzigen Heidekrug, wo er in einer Ecke sitzt und die Leute über ihn lachen und ihn verspotten.

Langsam, mit dem gleichmäßigen Schritt ergebener Übung verschwand der alte Jude auf der Landstraße, und ich sah ihm nach, wie er den Kasten weiterschleppte, wie die Traggurte in die Schultern einschneien und die Bürde ihm den Rücken krumm bog. Ein grenzenloses Mitleid mit dem alten Manne überkam mich, und der teuer erkaufte Plunder brannte mir in der Hand wie ein unrechtes Gut. In meiner Seele, die bisher alles kindlich unbefangen nahm, formte sich die Frage: willst du so wandern, willst du, daß dein Vater, dein Bruder an Stelle dieses alten Juden wäre und diese viel zu schwere Last auf seinen müden Füßen durch die Straßen der Fremde schleppen müßte? Zum ersten Male begriff ich etwas vom Fluch der Menschheit und von der Qual, mit der sie ihre Bürde fremd und einsam durch verdunkeltes Dasein trägt.

Und eine ferne Ahnung redete in mir von vielen schweren Bürden, die man sehen, und von den Bürden, die man selbst einmal durchs Leben tragen würde, gegen die man sich auflehnt und die einen wund drücken, bis man sie immer stiller und ergebener schleppt, mit dem Ziel vor Augen, sie am Ende der Wanderung an einem letzten Feierabend in die Ecke zu stellen, um sie nicht mehr auf die Schultern zu nehmen. Das menschliche Dasein hatte seine Tore für einen Augenblick aufgetan, und ich hatte sein Sinnbild erkannt in dem armen alten Juden auf der staubigen Landstraße, mit seiner viel zu schweren Bürde.

Das war damals, und es ist viele Jahre her. Heute ist auch über die einsame nordische Landschaft eine andere Zeit gekommen, und die alten Juden wandern nicht mehr von Hof zu Hof. Das Leben hat sich geändert, und es hat neue Formen der Freude und noch weit mehr neue Formen der Mühseligkeit gefunden. Als aber die kleine Veronika im Haus der Schatten wohnte, war das nordische Land noch stiller, und hin und wieder sah man noch den wandernden Juden mit seinem schweren Bündel auf dem Rücken, wie ein Überbleibsel aus vergangenen Tagen, das stehengeblieben ist.

Solch ein Überbleibsel war Aron Mendel.

Er war dürr und sehr groß. Man bemerkte es nur nicht, wie groß er eigentlich war, und daß er die meisten Menschen um Haupteslänge überragte, wenn er sich aufrichtete. Man sah das nicht, weil er gebeugt war unter seiner Last und weil er sie so viele Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, daß seine Schultern krumm geworden waren. Haare und Bart waren weiß und hingen wirr und ungeordnet herab, zerzaust vom Winde, und sein Gesicht machte den Eindruck, als habe sich das Wetter in all seiner Vielfältigkeit von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in zahllosen Zeichen darin eingegraben. Seine Augen aber schauten seltsam weit hinaus, als suchten sie das Ende der Straße, das nicht sichtbar war. Er wirkte durchaus mehr als Erscheinung, wie als ein Mensch dieser Gegenden. Abergläubische Leute erzählten von ihm, er sei aus Wurzeln und aus dem grauen Moosgehänge alter Tannen herausgewachsen, er habe auch kein Heim, sondern er wandere von Zeit zu Zeit in jene Waldwildnis zurück, um sich für eine Weile wieder mit ihr zu vereinigen und neue Kräfte aus ihrer Erde zu holen. Darum sei er auch viel älter als hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre – man wußte das nicht genau. Die meisten hatten ihn schon gekannt, als sie noch Kinder waren, und sie kauften weiter bei ihm, obwohl es heute in Halmar schon Läden gab, welche die gleichen Waren hatten. Aber man kaufte aus einer alten Überlieferung heraus, wie man noch gerne einen verschlungenen Fußpfad geht, den man als Kind gegangen ist, auch wenn eine neue Zeit neue Straßen gebaut hat.

Aron Mendel brauchte auch seine Waren nicht mehr zu loben, sie waren selbstverständlich geworden wie er auch. Höchst sonderbarerweise wagte es auch keiner, an seinen Preisen etwas abzuhandeln, wie das sonst üblich war. Aron Mendel hatte eine Würde, die das von selbst verbot. Es war etwas an ihm von der vergangenen Größe des Alten Testaments, die sich in ein fremdes Land und in eine fremde Zeit verirrt hatte, heimatlos, vertrieben und wandernd, aber hinaufgerückt über das Maß alles Alltags, wie ein Gespenst aus der Wüste am Sinai. Es gab nur ganz wenige Leute in der Gegend, die so dumm und hochmütig waren, das nicht zu fühlen. Aber über diese sah Aron Mendel gleichsam hinweg.

Aron Mendel kam selten in die Höfe um Halmar. Er war sehr alt geworden und wanderte langsam und nicht mehr so emsig wie früher. Es schien mehr, als wenn auch er nur eine Überlieferung aufrechterhalten wolle, als daß es ihm noch besonders um den Handel zu tun wäre. Gleichsam aus solcher Überlieferung tauchte er von Zeit zu Zeit, wie aus dem Erdboden gezaubert, auf und schritt groß und dürr über die Straßen, die seine Füße so viele Jahre begangen hatten, mit dem immer gleichen Bündel auf dem Rücken.

Jahrelange Überlieferung war es auch, daß er dann im Gartenhaus bei Johannes Wanderer Rast machte und Kaffee bei ihm trank. Aron Mendel war für Johannes Wanderer ein Stück seiner Kindheit, er kannte ihn schon, als er ein kleiner Knabe war und in die Schule von Halmar ging. Sie nannten sich bei Namen, ohne Förmlichkeiten, wie alte Bekannte, die einen Weg zusammen gepilgert sind. Manches Mal ist dieses ein Weg in diesem Leben, noch weit häufiger sind es Wege aus früheren Daseinsformen, die es Menschen von verschiedenster Stellung und Artung erscheinen läßt, als kennten sie sich schon lange. Die Straße, die wir wandern, hat viele Meilensteine, und manche stehen schon aus einer grauen Vergangenheit dort, mit einer schwer enträtselbaren Inschrift. Denn alle Menschen sind ja, mit inneren Augen betrachtet, nicht nur das, was sie heute sind oder scheinen – ihr Heute ist nur ein kleiner Teil von dem, was sie waren und sein werden. Wer will wissen, ob nicht die, welche uns in diesem Leben zum ersten Male begegnen, Geschwister oder Tempelgenossen von Jahrtausenden sind? Es mag vielleicht darum gewesen sein, daß Aron Mendel, der wenig redete, viel sprach, wenn er bei Johannes Wanderer im stillen Gartenhause war.

Wie immer hatte Aron Mendel umständlich den schweren Kasten abgeladen, den Leinwandsack aufgeschnürt und aus den Schubladen die Sachen herausgekramt, die Johannes regelmäßig zu kaufen pflegte: Schokolade für Veronika, Peter und Zottel, bunte Seidenbänder für Veronikas Puppen, einen Wollknäuel für Mutzeputz, der trotz seiner inneren Reife noch gerne damit spielte, farbige Kreidestifte für den blöden Peter, der nicht schreiben, aber unbeholfen malen konnte und das sehr liebte, und schließlich noch ein phantastisches Kopftuch für Karoline. Karoline besaß eine Sammlung schrecklicher Kopftücher und trug sie wie Kriegstrophäen. Die Auswahl dieser Herrlichkeiten überließ Johannes Wanderer stets Aron Mendel allein, ohne selbst zu wählen – es war dies eine Frage des Taktes und des Vertrauens, wie bei einer ganz großen Firma, mit der man seit Jahren in geschäftlicher Verbindung steht.

Wenn der immer gleiche Kauf geregelt war, setzte sich Aron Mendel in einen hohen Lehnstuhl und erholte sich, während Johannes den Kaffee bereitete, in einer stillen, langen Pause. Zum Kaffee aß er Hörnchen mit Butter, auch das war Überlieferung. Hörnchen mochte er sehr, obwohl er sie zu dem Luxus rechnete, der nicht ohne Sünde ist, wenigstens an einem gewöhnlichen Werktag. Aron Mendel hatte seine eigenen Gedanken über alles, die er sich mühevoll auf seinen Wanderungen gestaltet hatte. Er hatte ja Zeit genug dazu gehabt im Staub der Landstraße. Solche Gedanken sind Kinder der Stille und Einsamkeit, und man sollte im Lärm der Schlagworte mehr auf sie achten. Sie sind nicht immer richtig; aber immer sind sie menschengeborene, lebendige Wesen, und auf ihren Spuren spinnt das Dasein seine unsichtbaren Fäden. Denn leben und das Leben begreifen, heißt seine Straße wandern auf müden Füßen.

»Hörnchen sind sündhaft«, sagte Aron Mendel und bestrich ein neues Hörnchen sorgsam mit Butter, »es ist heute kein Feiertag. Ich habe auch schon zwei Tassen Kaffee getrunken, es ist gegen das Gleichmaß der Dinge.«

Johannes Wanderer goß Aron Mendel die dritte Tasse Kaffee ein.

»Das Gleichmaß der Dinge haben Sie genug in sich aufgenommen, Aron Mendel, man muß auch nicht allzu regelmäßig sein. Die bestimmten Feiertage haben ihr Recht, aber die Feierstunden, die man sich selber bereiten kann, haben es auch. Und ich rechne es zu den Feierstunden, wenn wir beisammensitzen, und die alten Jahre stehen vor mir auf, als ich noch in die Schule von Halmar ging. Vielleicht ist es auch noch viel länger her, daß wir uns kennen. Oft empfindet man sich so zeitlos. Ich denke dabei an ein Dasein, das vor diesem Leben war. Glauben Sie, daß es nichts weiter um uns ist, als daß Sie Jahr um Jahr auf der Landstraße wanderten und daß ich meine Schule abmachte, ein wenig reiste und nun in dem einsamen Gartenhaus sitze, um Studien zu treiben, meinen Schwestern zu helfen und die kleine Veronika und den blöden Peter zu betreuen? Ich finde, es reicht nicht aus, um das Menschliche in uns, um uns selbst zu erklären.«

»Ich habe auch darüber nachgedacht«, meinte Aron Mendel, »aber das ist für mich wie ein fernes Land, das ich nicht finden kann. Man träumt sich manches Mal hinein, aber man ist nicht darin.«

»Man ist freilich nicht mehr darin, aber es ist in einem, und dazwischen wacht es auf und man erinnert sich. Wenn ich Sie so vor mir sehe, Aron Mendel, so kann ich mir gut vorstellen, daß Sie vor tausend Jahren einmal ein König der Wüste waren, mit Juwelen geschmückt und mit dem goldenen Stirnreif im Haar. Kann es nicht sein, daß wir auch damals so beisammen gesessen haben wie heute? Vielleicht sprachen wir von einer Zukunft, die nun Gegenwart ist. In den alten Kulturen wußte man mehr vom Wandel der Seelen und vom Werden und Vergehen als jetzt, wo die Menschen laut geworden sind, aber nicht mehr tief.«

Aron Mendel wiegte den alten Kopf hin und her.

»Wer soll das wissen, Johannes? Es kann sein, und es war wohl ein leichteres Leben als heute. Wir sind Verstoßene, man muß es tragen.«

»Das ist in gewisser Hinsicht wahr«, sagte Johannes Wanderer, »aber wir wollen das Vergangene nicht zurückwünschen. Es ist ein Berg, auf den wir alle hinaufgelangen müssen, und es ist besser, Aron Mendel zu sein auf der Hälfte des Weges, als im Königsreif unten zu stehen. Man schleppt zwar schwerer, aber auf dem Gipfel des Berges hören alle Lasten auf!«

»Und doch sind wir verstoßen, seit der Tempel zerstört ist«, sagte Aron Mendel.

»Der Tempel ist überall zerstört worden, nicht nur bei einem Volke, Aron Mendel. Und verstoßen sind wir alle, aber wir sind es, um im Dunkel das Licht zu finden und um den Tempel wieder aufzurichten. Würde man nicht so denken, wie sollte man es aushalten? Man kann nur das bejahen oder sich betäuben. Die meisten Menschen betäuben sich, darum ist es eine irre Zeit geworden.«

»Es trägt sich schwer«, sagte Aron Mendel und seufzte, »es ist auch nicht nur so, daß ich den Kasten geschleppt habe durch alle die Jahre, es war viel mehr, was man trug, aber man ist ergeben geworden.«

»Es ist viel, wenn man ergeben wird, Aron Mendel, und darum sind Sie heute größer als damals, wo Sie vielleicht ein König waren. Mir hat es immer sehr leid getan, daß Sie diesen Kasten schleppten, aber Sie haben recht, es ist nicht nur dieses – es ist Symbol für alle Bürden, die wir tragen. Ich habe mich oft gefragt, warum das sein muß, denn gewiß ist manche Bürde zu schwer, wie auch Ihr Kasten zu schwer ist für einen alten Mann.«

»Ich habe mich daran gewöhnt«, sagte Aron Mendel einfach.

»Ja, man gewöhnt sich, aber das kann nicht der Sinn der Bürde sein. Ich habe viel darüber nachgedacht, und mir scheint es, der Segen der Bürde liegt darin, daß einer am anderen erkennt, daß wir Menschen und Brüder sind. Nicht das allein ist es – es sind auch verborgene Fäden alter Zeiten, die uns verknüpfen, aber ich glaube nicht, Aron Mendel, daß Ich Ihnen nähergetreten wäre, wenn es mich nicht ergriffen hätte, daß Sie diese Bürde über die staubigen Straßen schleppten. Wenn wir die Bürde begreifen, so denken wir, sofern wir Menschen sind, nicht mehr an ein Volk, an Kirche und Stand, sondern nur an den Menschen und an das, was uns alle verbindet, die wir eine Bürde tragen. Ist das nicht der Beginn vom Wiederaufbau des zerstörten Tempels?«

»Es gibt auch solche, die Bürden nicht sehen, und solche, die einen darum verachten«, sagte Aron Mendel bitter.

»Das sind die, welche noch unten am Berge sind. Sie leben im Glanz und haben noch keine Bürde getragen. Je höher man zum Gipfel gewandert ist, um so mehr erkennt man die Bürde bei Menschen, Tieren und Pflanzen, und in denen, welche sie tragen, sieht man den Bruder. Ich glaube, Aron Mendel, um diese Erkenntnis gibt man seine Bürde nicht mehr her. Ich will damit nicht sagen, daß ich Sie gerne auf der Landstraße sehe, weiß Gott nicht. Ich sprach nur vom Sinn der Bürde, wie ich es mir gedacht habe. Ich habe auch nichts gegen die Landstraße, ich weiß es, daß man weit mehr auf ihr lernen kann als in einem satten Leben. Aber Sie sind nun zu alt dazu geworden. Ist es denn nötig, daß Sie sich noch weiter mit diesem schweren Kasten schleppen? Bleiben Sie lieber zu Hause in Ihrem kleinen Laden, und wenn Sie meinen, daß er dann vergrößert werden müßte, ich würde Ihnen gerne dabei helfen und das Geld beschaffen. Wir haben alle nicht viel, aber das ließe sich schon ermöglichen.«

»Es ist schön, daß Sie mir das sagen, Johannes, ja, es freut mich, aber mein Laden braucht nicht vergrößert zu werden. Er ist groß genug, auch wenn ich einmal nicht mehr auf den Straßen handle – wir wollen es so nennen, wie es ist, nicht wahr? Es ist nichts Schlechtes, vielleicht das Gegenteil, denn es ist ja eine Bürde, und ich denke auch so darüber. Ich könnte gewiß zu Hause bleiben, meine Tochter Esther kann den Laden bequem allein besorgen, seit sie verwitwet ist und nur noch die kleine Rahel hat. Es ist ein großes Glück für mich, daß ich eine Enkelin habe.«

In Aron Mendel verwittertem Gesicht leuchtete es seltsam auf von Stolz und Seligkeit, wenn er von Rahel sprach.

»Ja«, sagte Johannes Wanderer, "aber ich finde, daß Sie gerade dort viel nötiger sind. Die kleine Rahel hat wenig von Ihnen, wenn Sie so viel auf die Wanderung gehen. Ich reise und wandere nun auch nicht mehr, weil ich hier nötig bin.«

»Sie sind schon nötig, wo Sie sind, Johannes. Die Gartenwirtschaft hier ist groß, und wenn es auch kein richtiges Gut mehr ist, seit Regines Mann gestorben ist, die beiden Damen könnten doch nicht ohne Sie auskommen.«

»Das ist das Geringste«, sagte Johannes Wanderer, »Regine und Mariechen haben Peters Vater, er ist ein sehr guter Gärtner, am Garten wenigstens. Ein ebenso guter Gärtner an seinem blöden Kinde ist er leider nicht. Die Seelen der Kinder brauchen ja auch noch sorgsamere Hände als die Pflanzen. Nein, es ist nicht um des Gartens willen, daß ich hierbleiben muß. Ich pflege hier einen anderen Garten, Aron Mendel, die kleine Veronika und der blöde Peter haben mich nötig. Es sind innere Dinge, die stärker sind als die äußeren, es sind Fäden, die gesponnen wurden, als wir noch nicht waren, was wir heute sind. Diese Fäden muß ich entwirren, Aron Mendel.«

»Ich verstehe das«, sagte Aron Mendel, »es sind auch innere Dinge, warum ich wandere.«

»Wollen Sie mir das nicht erklären?«

Aron Mendel strich sich mit der mageren Hand über die Stirne, und seine Augen hatte wieder den seltsamen Ausdruck, als suchten sie in der Ferne das Ende einer Straße, das nicht sichtbar ist.

»Es ist ein Geheimnis, Johannes, aber ich will es Ihnen sagen. Wir kennen uns ja lange, schon seit der Zeit, als Sie ein kleiner Schulknabe in Halmar waren, vielleicht auch noch länger, in dem Sinne, wie Sie es vorhin meinten, und den ich mehr träumen als fassen kann. Es ist ein Geheimnis, und ich erzähle sonst keinem davon, außer Esther, denn sie muß es ja wissen, warum ich nicht zu Hause sein darf und wandern muß. Ich weiß, daß Sie nicht darüber lachen werden, Sie können ja wohl etwas hinter die Dinge sehen. Es ist nicht darum, weil ich verdienen muß, daß ich noch wandere und den schweren Kasten schleppe. Er ist sehr schwer, und ich kann es verstehen, daß Sie ihn mir nicht mehr wünschen. Gewiß verdiene ich etwas dabei, denn alle kaufen noch bei mir, aus einer alten Gewohnheit, Johannes, ich weiß das gut, weil sie als Kinder schon bei mir kauften, nicht, weil ich bessere Ware habe. Aber es lohnt doch heute nicht mehr sonderlich, und es ist eine arge Mühe. Es ist auch nicht darum, daß ich wandere, weil ich nicht gerne bei Esther und bei der kleinen Rahel wäre. Viel, viel lieber wäre ich dort. Das alles ist es nicht. Sehen Sie, Johannes« – Aron Mendels Stimme wurde leise, als ginge er auf geweihtem Boden –, »es ist um Rahels willen, und weil der Tempel zerstört ist, darum muß ich wandern.«

»Sie denken, daß Sie am Tempel bauen, wenn Sie Ihre Bürde schleppen?« fragte Johannes Wanderer.

Aron Mendel schüttelte den Kopf.

»Der Tempel ist zerstört, Johannes. Wer weiß, wann er wieder erbaut wird? So meine ich es nicht. Aber es ist ein Fluch über uns, weil der Tempel zerstört ist, wir sind Verstoßene und schleppen unsere Bürde im Staub der Straße. Die, welche es nicht tun, sind verblendet, denn sie sühnen den zerstörten Tempel nicht, und der Gott unserer Väter wird sie heimsuchen. Doch es kann einer für den anderen tragen, und wenn ich den schweren Kasten über die Straßen schleppe, so sage ich mir: du tust es für Rahel, daß du diese Bürde trägst. Ich bin zu alt, und von mir würde es Gott nicht fordern, um meiner Sühne willen nicht mehr. Ich bin ja ein Leben lang auf der Straße gewandert und habe mitgetragen am Fluch der Verstoßenen. Wenn ich jetzt wandere und mich mit dem schweren Kasten mühe, so ist es für Rahel, und ein jeder Schritt, den ich mache unter der Bürde mit gekrümmtem Rücken, nimmt etwas vom großen Fluch für Rahel hinweg. Ich will Gott auch für sie versöhnen, ich will nicht, daß sie eine staubige Straße wandern und daß sie den Fluch der Verstoßenen schleppen soll. Ihre Schultern sollen frei sein, ihr Nacken ungebeugt, ihre Füße sollen auf dem Teppich der Wiesen gehen, und wenn die dunklen Geister der Rache nach ihr greifen, soll sie lachen können und sagen: der alte Aron Mendel hat für mich gesühnt! Sehen Sie, Johannes, das ist das Geheimnis, warum ich wandere.«

»Es ist sehr gut und sehr groß, wie Sie denken, Aron Mendel, aber ich kann den Gedanken der Sühne nicht ganz so düster auffassen, wie Sie es tun. Die alten Kulturen sind vergangen, es ist eine Zeitenwende geschehen, aus dem Fluch muß der Segen gestaltet werden, und aus der Bürde ihr Sinn. Auch Rahel wird ihre Bürde tragen müssen wie wir alle, Sie können sie ihr nicht ganz durch ein Opfer nehmen. Aber die Kraft der Liebe, mit der Sie für Rahel wandern, wird ihr helfen, die Bürde des Lebens auf sich zu nehmen. Solch eine Liebe ist mehr als ein Opfer. Güte ist der höchste Grad der Kraft, den ein Mensch erreichen kann, denn sie ist vom Wesen Gottes.«

»Das ist alles wahr«, meinte Aron Mendel, »aber ich kann nicht so ganz so denken, wie Sie denken, Johannes. Es bleiben noch Rache und Opfer und der Fluch der Verstoßenen. Der zerstörte Tempel muß gesühnt werden. Ich sühne für Rahel, wenn ich wandere, ich sühne auch für Rahel, wenn ich mich kasteie. Sehen Sie, Johannes, Sie finden es gewiß immer ein wenig sonderbar, wenn ich so ängstlich bin in belanglosen Dingen und wenn ich am Werktag mich scheue, weißes Brot zu essen. Es ist nicht Geiz oder Eigensinn, wenn ich mir manches versage. Es ist für Rahel, denn was ich für sie entbehre, wird sie in Fülle haben. Ich muß nun wieder gehen, Johannes, und muß weiterwandern für die kleine Rahel.«

Johannes Wanderer wurde es traurig zumut.

»Wollen Sie denn immer wandern, Aron Mendel?«

»Bis mir Gott am Ende meiner Tage die Bürde abnimmt.«

»Kann sie Ihnen nicht auch eher genommen werden?« fragte Johannes Wanderer.

Aron Mendel lud den schweren Kasten wieder auf die Schultern.

»Wenn die Bürde so leicht wird, daß sie kein Opfer mehr ist«, sagte er, »dann will ich aufhören, zu wandern. Das wäre ein Zeichen Gottes. Aber geschehen heute noch Zeichen, Johannes? Es ist sehr dunkel geworden überall, wie mir scheint, und es reden keine Zeichen mehr zu uns.«

»Es geschehen heute noch Zeichen, Aron Mendel, und ich glaube und hoffe, Gott wird Sie nicht wandern lassen bis ans Ende Ihrer Tage.«

Johannes Wanderer geleitete Aron Mendel hinaus. Im Garten trafen sie Veronika. Veronika gab Aron Mendel die Hand und knickste. Sie sah ihn mit großen Augen an.

»Du trägst sehr schwer«, sagte sie, »wenn ich groß bin, werde ich dir helfen.«

»Dafür danke ich dir viele Male, Veronika«, sagte Aron Mendel. »Ich werde es nicht erleben, daß du groß wirst, und ich würde dich meine Last auch nicht tragen lassen. Sie ist zu schwer für dich. Aber du hast mir heute schon tragen helfen, als du das sagtest. Ich will daran denken auf meinem weiten Wege. Vielleicht beginnen die Zeichen doch zu reden.«

Aron Mendel trat durch die Gartenpforte auf die Landstraße hinaus und reichte Johannes Wanderer und Veronika die Hand zum Abschied. Dürr und groß ging seine gebeugte Gestalt im Licht der sinkenden Sonne ins Weite. Er hatte den Hut abgenommen, und der Wind spielte mit seinem weißen Haar.

Johannes Wanderer und Veronika sahen ihm lange nach.

»Onkel Johannes, ist Aron Mendel ein König?« fragte Veronika, »warum trägt er eine Krone auf dem Kopf?«

»Siehst du das?« sagte Johannes Wanderer. »Nein, Aron Mendel ist heute kein König. Er war es vielleicht einmal. Aber die Krone, die du an ihm siehst, trägt er darum, weil er seine Bürde schleppt für die kleine Rahel. Es ist das Königtum der Last, die wir tragen für andere.«

»Müssen wir das tun, Onkel Johannes?«

»Man muß es freiwillig tun, Veronika. Wir müssen es versuchen, einander die Bürde tragen zu helfen, Menschen, Tieren und allem, was lebt. Das ist der Weg zum Licht.«


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