Manfred Kyber
Die drei Lichter der kleinen Veronika
Manfred Kyber

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4. Marseillaise

Im Haus der Schatten waren die Mauern dick und die Fenster eng, und die letzten Sonnenstrahlen verschwanden früh. Der graue Schleier der Abenddämmerung lag über Veronikas Spielzimmer und breitete sich über alle Gegenstände, so daß sich die Umrisse verwischten und es aussah, als stünden undeutliche Gebilde zwischen dem, was einem am Tage klar und bekannt war. In der tiefen Fensternische saß Johannes Wanderer und las beim letzten Licht, das sich darin verfing, Veronika kauerte auf dem Boden und schmückte ihre Puppen mit den seidenen Bändern aus Aron Mendels Kasten. Mutzeputz lag neben ihr auf einem weichen Kissen, und Magister Mützchen hüpfte auf seinen dünnen Beinen im Zimmer umher und machte sonderbare Bewegungen, als hasche er Schatten.

»Onkel Johannes«, fragte Veronika, »du weißt es doch, wer die graue Frau ist, nicht wahr?«

»Ja, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, »aber daran mußt du jetzt nicht denken. Du kannst ihr nicht helfen.«

»Ich täte es gerne«, meinte Veronika, »sie war sehr nett zu mir. Nur ihr Bilderbuch hat mir nicht gefallen. Wird sie noch lange hierbleiben und ihr Bilderbuch besehen?«

»Sie wartet, bis es hell wird in der Kirche von Halmar«, sagte Johannes Wanderer.

»Ist es da dunkel?« fragte Veronika.

»Es ist nicht so hell dort, wie es sein sollte«, sagte Johannes Wanderer. »Für die graue Frau aber muß es dort hell werden, sonst findet sie nicht über die Schwelle, über die sie gehen muß. Sie könnte es gewiß auch so, und ich habe mich bemüht, ihr zu helfen, aber siehst du, sie denkt nun einmal an die Kirche zu Halmar, wie sie vor langer Zeit war, als sie selbst noch darin saß. So wartet sie darauf, daß es dort hell wird, und in dieser Helligkeit glaubt sie den Weg zu finden, der sie hinausführt in die andere Welt.«

»Kann man denn die Kirche nicht hell machen, Onkel Johannes?«

»Ich kann es nicht, Veronika, aber es wird wohl einmal geschehen. Die Menschen gehen verschiedene Wege, und es kommt nur darauf an, daß ein Licht ihnen leuchtet.«

Veronika besann sich.

»Onkel Johannes«, sagte sie, »meinst du die drei Lichter auf dem Leuchter, die der Engel mir einmal gezeigt hat?«

»Ja, Veronika, aber jedes Licht hat seine Zeit und hat seinen Sinn. Man muß auf sie achten, daß sie einmal im goldenen Licht aufgehen, das in der Mitte brennt. Das sind keine ganz leichten Fragen, und heute abend ist es schon besser, du spielst mit deinen Puppen und guckst zu, was Magister Mützchen macht.«

»Nicht wahr, du siehst Magister Mützchen auch? Das ist hübsch von dir, Onkel Johannes«, rief Veronika begeistert, »ich habe ihn so gerne, und es ist schade, daß Mama, Tante Mariechen und Peter ihn gar nicht bemerken. Sie sehen mich so komisch an, wenn ich von ihm spreche. Nur Peter glaubt es.«

»Es ist gut für Peter, daß er vieles glaubt«, sagte Johannes Wanderer, »dann werden seine drei Lichter richtig brennen, auch wenn er sie nicht sieht.«

»Ich sehe den Engel und die drei Lichter auch nicht immer«, meinte Veronika.

»Das ist auch nicht nötig, Veronika. Dein Engel achtet auf sie, und wenn du größer wirst, kannst du es selbst lernen, auf sie zu achten.«

»Onkel Johannes, wo sitzt Magister Mützchen jetzt? Kannst du das sagen?«

Es war wie ein leiser Zweifel, der in Veronikas Seele aufstieg, ob Onkel Johannes auch wirklich alles das sah oder ob er es nur so sagte, wie es viele Erwachsene tun.

»Magister Mützchen hockt vor dem Spiegel und zieht seinen Mund so lang, daß er zu beiden Ohren reicht«, sagte Johannes Wanderer.

»Ist das nicht reizend?« rief Veronika voller Bewunderung, »aber du bist wirklich sehr klug, Onkel Johannes. Bist du eigentlich noch klüger als Mutzeputz? Das wäre doch gar nicht auszudenken!«

»Ich würde jetzt gerne lesen«, sagte Johannes Wanderer, »und was Mutzeputz und mich betrifft, so wage ich es nicht, Vergleiche anzustellen. Mutzeputz ist ja auch zugegen, und er könnte das hören.«

»Mutzeputz schläft, er hat die Pfote vor die Augen gelegt«, meinte Veronika, »wenn er so daliegt, schläft er sehr tief.«

»Wer weiß, ob das ganz sicher ist«, sagte Johannes Wanderer, »Mutzeputz ist jedenfalls sehr klug und eine hochachtbare Person. Ich denke, daß er manches weiß, was ich nicht kenne, und daß vielleicht auch ich einiges erfahren habe, was ihm noch neu sein könnte. Damit will ich mich natürlich nicht über Mutzeputz stellen, das wäre ja sehr anmaßend.«

»Onkel Johannes, Mutzeputz schnurrt. Er hat es also doch gehört, was du gesagt hast. Aber du bist auch sehr klug und ich werde dich jetzt heiraten. Willst du?«

»Sehr gerne«, sagte Johannes Wanderer, »aber ich darf wohl dabei weiterlesen, nicht wahr?«

»Natürlich, Onkel Johannes, bleibe nur sitzen. Ich mache das ganz einfach mit den Puppen. Diese Puppe bist du, und die andere bin ich, und nun werde ich uns beide trauen.«

Veronika stellte die Puppen zusammen und dachte nach.

»War das nicht schon einmal?« fragte sie leise und ein wenig ratlos, als sei ihr etwas eingefallen, was unklar und noch nicht greifbar war.

»Mache das nicht mit den Puppen, Veronika«, sagte Johannes Wanderer und sah von seinem Buche auf. »Stelle zwei Stühle für uns hin, aber nicht die Puppen. An die Puppen kommen so leicht allerlei Schatten heran und heften sich an sie und wachsen, größer, als du sie haben willst.«

»Tu die Puppen fort, Veronika«, sagte Mutzeputz und zupfte Veronika mit der Pfote am Kleid, »es ist ein bläulicher Schein im Zimmer, wie beim Bilderbuch der grauen Frau.«

»Sieh nur«, rief Veronika erschreckt, »die Puppen sehen jetzt wirklich ähnlich aus wie du und ich, Onkel Johannes, nur haben sie so seltsame Kleider bekommen, wie die graue Frau und die anderen auf den alten Bildern.«

»Veronika, höre auf«, sagte Johannes Wanderer, klappte sein Buch zu und stand auf.

Es war ganz blau geworden im Zimmer, wie Mondschein, der in wogenden Nebeln webt. Im blauen Schein stand eine schwarze Schwelle, finster und fremd. Von ferne hörte man Trommeln, erst leise, dann anschwellend und drohend.

»Geh nicht über die Schwelle, Veronika«, rief Magister Mützchen.

Aber die Schwelle bewegte sich und kam auf Veronika zu und die Puppen wuchsen, sie regten und dehnten die Glieder.

Und dann klang es, gedämpft wie durch dicke Stoffe, aber sehr nahe, als würde im Nebenzimmer gesungen, aus rauhen Kehlen:

»Allons, enfants de la patrie, de la patrie ...!«

Unter Trommelwirbel tat sich die Türe auf, eine Gestalt in zerlumpter Uniform, mit einer roten Kokarde am Hut, schaute herein und sagte etwas. Es war, als ob sie Namen aufriefe, und durch den Trommelwirbel und den Gesang, der ferner geworden war, hörte Veronika es deutlich:

»Citoyenne Madelaine Michaille! Citoyen Henri ...«

»Nein, ich will das nicht, ich will das nicht!« schluchzte Veronika und barg das Gesicht in den Händen, »ich will nicht, daß man uns abholt! Noch nicht, noch nicht!«

Johannes Wanderer fing Veronika in den Armen auf, ehe sie ohnmächtig wurde, und trug sie hinaus in ihr Schlafzimmer. Magister Mützchen lief eilig hinterdrein, und Mutzeputz folgte fauchend, nachdem er die Puppen umgeworfen hatte. Im Haus der Schatten aber klang es weiter wie ferner Trommelwirbel und ein langsam verlöschendes Singen der Marseillaise: allons, enfants de la patrie, de la patrie ...

Das Spielzimmer lag dunkel da, und die Puppen regten sich nicht mehr.

*

Als Veronika von ihrer Mutter und Tante Mariechen zu Bett gebracht wurde, war sie aus ihrer Ohnmacht wieder erwacht. Aber es war kein eigentliches Erwachen in dieses Leben. Die Spukgestalt in der zerlumpten Uniform war wohl verschwunden, und auch den Trommelwirbel und die Marseillaise hörte sie nicht mehr. Sie wußte auch, sie lag in ihrem Bett und war die kleine Veronika im Hause der Schatten. Und doch war sie es nicht ganz. Sie war seltsam losgelöst von ihrem Körper und von allem, was damit zusammenhing.

Ihre ganze Umgebung, die sonst so wirklich war, erschien ihr unwirklich, jedenfalls bei weitem nicht so deutlich und lebendig wie die Bilder, die an ihr vorbeizogen, so schnell, daß sie es mit den gewöhnlichen körperlichen Augen nicht hätte verfolgen können. Aber sie war ja nicht körperlich, sie war anders als sonst. Sie glitt gleichsam allmählich aus ihrem Leibe hinaus und stand neben ihm, so daß sie ihn vor sich liegen sah wie ein Abbild, das ihr ähnlich war, das aber nur noch eine Hülle bedeutete, nicht mehr sie selbst. Nein, sie war das nicht, vielleicht war es eines ihrer vielen Kleider, so wirkte es ungefähr auf sie. Sie fühlte sich außerhalb davon, aufrecht vor ihrem Bett, aber ohne mit den Füßen den Boden zu berühren. Ihr war es, als ob sie schwebe, und sie war auch kein Kind mehr, wie es ihr vorkam, sie war viel älter und größer, und alles, was sie umgab aus ihrem jetzigen Kinderdasein, wirkte auf sie kaum mehr als ein Traum, an den man sich ein wenig unklar erinnert.

Wirklicher, viel, viel wirklicher waren die bunten Bilder, die sich vor ihr abrollten wie auf einer endlosen Leinwand, eines mit dem anderen verwoben, als wären sie beinahe gleichzeitig da. Und nun glitt sie selber in diese Bilder hinein, als eine ihrer lebendigen Gestalten, und wurde fortgetragen vom Strom ihres Geschehens. All dies Geschehen aber war ihr bekannt, sie lebte gleichsam ein Leben, das sie schon einmal gelebt, zurück. Nur furchtbar schnell ging das alles vor sich, es gab gar keine richtige Zeit mehr, an die man sich halten konnte.

Ja, das kannte sie alles. Das waren die Straßen von Paris, aber sie lagen still und sonnig da, es war noch kein Grauen in ihnen, kein Blut und kein Geschrei der unheimlichen Menschen mit den roten Kokarden. Sie trug ein seidenes Kleid, und ihr zur Seite ging ein Kavalier mit Dreispitz und Degen – seltsam, wie er sie an Onkel Johannes erinnerte. Jenes hohe Portal mit den Heiligenfiguren war Notre-Dame, sie sah die Dämmerung der Kirche und die Ewige Lampe darin und bekreuzigte sich: Sainte Marie, conçue sans péché, priez pour nous ... Oh, wie viele Bilder glitten vorüber, immer neue, und immer war sie mitten darin. Nun wurde sie kleiner und immer kleiner, wieder war sie ein Kind und saß in einem alten Schloßpark unter blühenden Bäumen. War das nicht Michaille, wo sie aufgewachsen war? Neben ihr lag eine große Katze im Sonnenschein – am Ende war das Mutzeputz? Doch Mutzeputz hatte nicht solche schwarze Tupfen auf dem Rücken.

Dann aber veränderte sich das Bild. Aus dem Schloßgarten von Michaille wurde ein Garten der Geister. Ach, wann war sie doch zuletzt dort gewesen? War da nicht ein Käfer, der ihr sein Landhaus zeigen wollte, eine Elfe im Baum und ein Luftgeist mit Falterschwingen, der sie zur silbernen Brücke führte? Richtig, nun war auch die silberne Brücke wieder da, und jetzt sah sie das Wasser, über dem die Brücke gebaut war. Kristallklar war es und regte sich ohne Aufhören, lebendig in sich selber, ohne Wellen zu werfen. Sie tauchte tief hinein und badete darin. Aus lauter feinen Perlen bestand es, und es drang ganz in einen hinein, so daß man innerlich badete, mit all seinem Sein, und als ob alles in einem erneut und jung würde, wie an einem allerersten Morgen, den man sah und lebte. Alles war neu, war Jugendbeginn, und auch die Bilder, durch die man geglitten war, hatte man vergessen.

Doch es dauerte nicht lange. Das Wasser verlief sich wieder, neue Bilder erschienen vor Veronikas Augen, und wieder glitt sie weiter in ihrem Strom mit der gleichen Geschwindigkeit.

Das war Holland mit seinen Windmühlen. In dunklen, engen Gassen hockten hochgiebelige Häuser dicht beieinander und spiegelten ihre bunten Kacheln in den trüben Grachten von Amsterdam. Dort malte Rembrandt van Rijn, hier wohnte Baruch Spinoza. Diese Namen kannte sie doch – oder kannte sie sie nicht mehr? War jene dicke Frau vor den blanken Kochtöpfen nicht Tante Mariechen? Wie schrecklich schnell ging das alles weiter! Nun stand sie im brokatenen Gewände, mit einer Larve vor dem Gesicht, unter lauter bunten Gestalten in einem schimmernden Festsaal. Lachen, Lichter und Musik – das war der Karneval von Florenz! Wieder war Johannes Wanderer neben ihr und wies stumm auf eine Türe. Aber sie lachte ihn aus und warf eine Rose nach ihm. Doch die Türe tat sich auf, und die Pest kam herein, ein Grinsen auf dem Totenantlitz, im klingenden Schellenkleid. Schrill brachen die Geigen ab, die Kerzen erloschen, und im häßlichen Grau der ersten Morgenstunden lagen Leichen auf den Fliesen in Festgewändern, und aus den Löchern der Masken starrten gläserne Augen. Draußen wimmerten die Glocken das Miserere. Wie befreiend war es, nach diesem entsetzlichen Bild in das kristallene Wasser zu tauchen, das sich immer wieder aufs neue zwischen die Flut des Geschehens schob und einen reinigte mit seinen kühlen Perlen! Nun war es ein griechischer Tempel, in dem Veronika stand und das Feuer hütete, das im kupfernen Becken brannte. Vor ihr am Altar kniete eine Frau – war es nicht ihre Mutter! Jetzt zeigte sich Ägyptens Wüste, und bronzene Menschen bauten emsig in sengender Sonne an ungeheuren Pyramiden. Immer war Veronika mitten darin, nur kam sie sich diesmal seltsam verwandelt vor, und ihr schien es, als sei sie ein Mann und trüge Wehrgehänge und Schwert und einen Kopfputz mit dem Bilde der Königsschlange. Neben sich sah sie den blöden Peter. Er hielt eine Tafel in der Hand und entzifferte geheimnisvolle Hieroglyphen – wie merkwürdig, denn heute konnte er weder lesen noch schreiben. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, es huschte alles zu eilig vorüber.

Dann nahm sie das kristallene Wasser länger auf als sonst, und als sie ihm wieder entstieg, war sie in einer einsamen Landschaft mit Schneebergen in der Ferne und mit einer Blumenpracht leuchtender Farben in den Tiefen der Täler. Riesige Elefanten schritten schlürfend auf ihren Säulenbeinen an ihr vorbei und nickten mit den schweren Köpfen. Aus einem Tempel, dessen Dach ein Gewirr steinerner Ranken war, schnatterten heilige Affen, streckten die spaßhaft langen Arme aus und bettelten um ihr Almosen von Früchten. Mitten im Tempel aber war es still, ganz still, und nun saß Veronika darin, nackt bis auf den Lendenschurz aus Pflanzenfasern, als junges Mädchen vor einem alten Mann, der sie die Geheimnisse des Daseins lehrte. Ach ja, das war Onkel Johannes, und alles fiel ihr wieder ein, was er damals gesagt hatte von der Kette der Dinge, vom zerstörten Tempel Gottes und von der Wanderung der Menschenseelen auf staubiger Straße, in Demut und Ergebung und im Dienen an allem, was lebt. Wie tief war diese Stille im Tempel, wie weiß waren die fernen Schneeberge, und wie klar brannten die drei Flammen im Leuchter, der vor ihnen stand! Drei Lichter waren es, blau, rot und golden.

Die Schneeberge, die Täler und der Tempel versanken, aber der Leuchter blieb stehen. Nur diesen Leuchter sah Veronika noch vor sich, und ihren Engel, der ihn hoch vor ihr aufgerichtet hielt. Sie erkannte ihn wieder. Es war ihr Engel, und diese Flammen leuchteten ihrem Dasein. Es waren wieder die drei Lichter der kleinen Veronika, und sie glitt langsam in ihren Körper zurück und war wieder in ihrem Bett im Hause der Schatten.

Der Engel hielt seine Hand über der blauen Flamme.

Sie brannte am stärksten von allen. Aber nun zuckte sie und wurde kleiner und immer kleiner. Der Engel achtete auf sie, und jetzt neigte sie sich hinüber zum goldenen Licht in der Mitte.

Veronika lächelte friedvoll, wie Kinder lächeln, denn nun war sie ja wieder ein Kind. Sie sah sich um im Zimmer und erkannte alles. Das war wieder gewohnte Wirklichkeit, und die vielen bunten Bilder erschienen ihr wie ein ferner Traum, der immer blasser wurde, wie das blaue Licht im Leuchter, den der Engel hielt.

Vor ihrem Bett sah sie ihre Mutter, Tante Mariechen und Onkel Johannes sitzen. Auf der Diele hüpften Mutzeputz und Magister Mützchen. Mutzeputz stand aufrecht, er hatte die Vorderpfoten in die Hände von Magister Mützchen gelegt, und beide tanzten miteinander. Da mußte Veronika lachen.

»Gott sei Dank«, sagte ihre Mutter, »das Fieber ist vorüber.«

»Nun können wir zur Ruhe gehen«, meinte Mutzeputz, »die kleine Veronika lacht wieder. Siehst du, wie gut es war, daß wir getanzt haben? Es hat sie erheitert. Wie sollte es auch jemand nicht freuen, wenn wir beide zusammen tanzen.«

Dann sprang er auf Veronikas Bett und schnurrte.

»Du bist nun wieder gesund, Veronika, nicht wahr?« fragte Tante Mariechen, »wir haben uns große Sorge um dich gemacht.«

»Veronika war nicht krank«, sagte Johannes Wanderer, »aber es ist manches Mal so, daß das eine Licht stärker brennt als die anderen.«

Da verhüllte der Engel den Leuchter mit den drei Lichtern, und Veronika schlief ein.

*

Am anderen Morgen war Doktor Gallus aus Halmar herübergekommen, um nach Veronika zu sehen. Veronikas Mutter hatte ihn bitten lassen, sie wollte gerne sicher sein, daß es nichts Ernstes war mit dem gestrigen Fieber.

Doktor Gallus war klein und sehr beweglich. Er drehte den kurzgeschorenen, grauen Kopf hin und her, und diese Bewegung sowie eine große Nase und dicke, runde Brillengläser verliehen ihm etwas Vogelartiges. Dabei sprach er seltsam schnappend, als hackte er mit einem Schnabel nach etwas, und verschluckte hastig alle Befürchtungen und Einwände, die man äußerte. Seine Ausdrucksweise war dazwischen ein wenig giftig, aber die Menschen in Halmar liebten ihn sehr, weil er keine Mühe in seinem Beruf scheute. Doch verglich man ihn allgemein mit dem alten Papagei, der bei ihm hauste, und viele nannten ihn auch so.

Doktor Gallus untersuchte Veronika genau, aber er konnte nichts finden, was bedenklich gewesen wäre. Magister Mützchen stand hinter ihm und machte alle seine Bewegungen nach. Veronika verbiß sich das Lachen.

»Du bist ja ganz vergnügt«, sagte Doktor Gallus, »du kannst nächstens zu mir kommen und meinen Papagei besuchen.«

Dann schnappte er und schob sie sanft zur Türe hinaus.

»Es ist weiter nichts«, meinte er zu Regine, »Veronika ist sehr zart, was ich Ihnen schon immer sagte, und Sie müssen vorsichtig mit ihr sein. Sie soll auch nicht zur Schule nach Halmar, wie wir das schon einmal besprachen. Sie kann ja hier im Hause Unterricht haben. Aber es liegt nichts vor, nein, nichts, also.«

»Aber sie wurde doch gestern ohnmächtig«, wandte Regine ein, »und nachher hatte sie fraglos Fieber. Sie sprach französisch, und es war eigentlich unheimlich, wie gut sie es sprach. Sie hat ja noch gar nicht so viel Französisch gelernt. Und später phantasierte sie von fremden Ländern, von Elefanten und Affen.«

»Das ist ein vorübergehender Schwächezustand«, sagte Doktor Gallus, »es liegt wirklich keine Erkrankung vor, gnädige Frau.«

»Aber das Französische, die Elefanten und Affen?« meinte Tante Mariechen, »halten Sie das für ungefährlich, Herr Doktor?«

Doktor Gallus schnappte nach Tante Mariechen.

»Wie gesagt, ja, durchaus. Ich wollte, ich hätte einmal ein Fieber, in dem ich ein bißchen besser französisch spräche, und Elefanten und Affen würde ich auch gerne sehen. In Halmar gibt es das alles nicht, nicht wahr, also.« »Es ist uns sehr schrecklich vorgekommen. Woher soll das Kind bloß etwas von Elefanten und Affen wissen, gerade weil es die hier nicht gibt?« klagte Tante Mariechen.

»Mein Himmel, es ist ja kein Säugling«, sagte Doktor Gallus, »und hier im Hause gibt es doch genug Bilderbücher, mit so was drin, nicht wahr?«

»Das gute Französisch war wirklich recht sonderbar«, meinte Regine, »das ist auch mir aufgefallen. Das andere kann ich mir schon eher erklären, wenn ich mich auch nicht besinnen kann, ob in Veronikas Bilderbüchern gerade Affen und Elefanten sind. Es könnte ja sein.«

»Ja, gnädige Frau, der Traum hat oft gesteigerte Fähigkeiten zur Folge«, sagte Doktor Gallus und wackelte mit dem Kopfe hin und her, »wenn wir das alles ergründen wollten, würden wir selbst bald Affen und Elefanten werden, und wer weiß, was sonst. Mein Papagei sagt auch häufig Dinge, die mir unverständlich sind.«

»Ich fürchte, daß Veronika unterernährt ist«, meinte Tante Mariechen.

Doktor Gallus kannte Tante Mariechen und ihre Ernährungswut und schnappte hastig nach ihr wie ein Vogel nach einem Insekt.

»Träume kommen eher aus dem vollen Magen als aus dem leeren«, sagte er gemütlos, »Veronika ist sehr zart, aber das ist ihre ganze Konstitution. Ernährt ist sie gut. Stopfen Sie sie ja nicht.«

»Veronika ißt kein Fleisch, Herr Doktor«, klagte Tante Mariechen beweglich, »sie mag es nicht, sagt sie. Genau wie Johannes, seit er von seinen Reisen zurück ist und so sonderbare Dinge sagt.«

»Es ist nicht nötig, daß Veronika Fleisch ißt«, sagte Doktor Gallus, »sie soll essen, wonach sie Lust hat. Menschen und Affen sind nahe Verwandte, und die Affen leben auch vegetarisch.«

Tante Mariechen schauderte es.

»Veronika ist doch kein Affe!« meinte sie entsetzt.

Doktor Gallus lachte giftig. Er liebte es sehr, Tante Mariechen ein wenig zu ärgern.

»Nun«, sagte er großmütig, »ein richtiger Affe ist die kleine Veronika ja nicht. Aber so ähnlich sind wir doch alle.« Tante Mariechen hob abwehrend die Hände.

»Ich bin kein Affe«, sagte sie aus vollster Überzeugung.

»Affen sind kluge Tiere«, schnappte Doktor Gallus höhnisch, »jedenfalls leben sie vernünftiger als wir. Man sollte sich eigentlich ein Beispiel an ihnen nehmen. Guten Morgen, meine Damen, und seien Sie vorläufig ganz ohne Sorge.«

Regine dankte Doktor Gallus herzlich und geleitete ihn zur Türe. Tante Mariechen war sprachlos. Aber dann kam ihr ein Gedanke: Vielleicht hatte Johannes auf seinen Reisen die ganze Zeit unter Affen gelebt, und darum war er so sonderbar geworden?

»Das mit den Affen wird sich doch nicht auf uns übertragen, Regine? Auf Veronika, auf dich, oder gar auf mich? Das wäre ja nicht auszudenken«, meinte sie bekümmert.

Veronika war unterdessen zu Johannes Wanderer in den Garten gegangen, und beide betrachteten sich die Blumenbeete.

»Der Onkel Doktor ist ganz zufrieden, und ich soll seinen Papagei besuchen«, sagte Veronika, »aber weißt du, es war doch komisch, wie es gestern war. Der Mann zuerst war ja grausig, aber nachher war es eigentlich schön, und mir ist es so, als wenn ich ganz woanders gelebt hätte, und dabei ging alles so schnell, viel schneller, als es hier geht. Sage einmal, Onkel Johannes, war das so etwas, wie das Bilderbuch der grauen Frau? Ich kann es mir nicht so erklären. Es war doch alles wirklich, du kannst es mir glauben. Bloß Tante Mariechen denkt, daß ich zu wenig esse, und Mama sagt, daß ich nur geträumt habe, weil ich Fieber hatte.«

»Es ist schon wirklich gewesen, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, »du kannst auch sagen, daß es ein Bilderbuch war, aber ein anderes und viel lebendigeres als das Bilderbuch der grauen Frau. Du hast früher so gelebt, wie du es gestern zurück lebtest, das wirst du später einmal genauer verstehen. Siehst du, es ist wie mit den Blumen, die heute blühen und morgen welken, und später kommen sie wieder neu aus der Erde heraus und blühen wieder.«

»Du warst auch mit in dem Bilderbuch, Onkel Johannes, und ich kann mich besinnen, daß es in einem Tempel war, und außer dir waren reizende Affen darin.«

»Das ist erfreulich, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, »Affen sind angenehme Leute, und im alten Indien waren sie heilige Tiere.«

»Weißt du«, meinte Veronika, »ich hätte gewiß noch viel, viel mehr behalten, aber dazwischen kam immer das klare Wasser, das alles abwusch, und eigentlich war das auch wunderschön.«

»Dafür müssen wir sehr dankbar sein, Veronika. Ohne das kristallene Wasser, das uns reinigt, hielten wir die vielen mühsamen Wanderungen auf den staubigen Straßen des Lebens gar nicht aus. Das kristallene Wasser nimmt uns die Bürden, die wir tragen, ab, und macht uns wieder jung, als wäre es eben erst Morgen geworden.«

»Ja, solch ein Gefühl ist es, meinte Veronika nachdenklich, »aber wenn das die Bürden sind, die wir trugen, müssen wir sie behalten und weitertragen, oder sollen wir sie vergessen?«

»Wir müssen wohl manches weitertragen, bis es ganz von uns abfällt, aber wir wollen nicht immer daran denken«, sagte Johannes Wanderer, »wir müssen aufs neue wieder leben, wie die Blumen aufs neue blühn, aber jede Blüte muß reifer sein als die vorige. Wir sollen uns wohl dazwischen an unsere alten Bürden erinnern, wenn das blaue Licht im Leuchter des Engels brennt. Die Schwere der Bürden aber dürfen wir vergessen, nur ihren Sinn sollen wir bewahren.«

»Und wie machen es Mutzeputz und Magister Mützchen?« fragte Veronika. »Sie machen es ein wenig anders als wir, Veronika, aber in vielem ist es auch bei ihnen ähnlich wie bei uns. Wir wandeln uns alle und wachsen ins Licht, wir sind alle Geschwister und Blumen in Gottes Garten.«


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