Manfred Kyber
Die drei Lichter der kleinen Veronika
Manfred Kyber

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5. Irreloh

Ein altes Gebäude ist wie eine alte Geschichte in Stein gehauen und mit seltsamen Gebilden und Zeichen geschmückt wie eine sorgsam gemalte Chronik. Eine solche alte Chronik war Schloß Irreloh, und seine Mauern redeten eine unheimliche Sprache für den, der sie zu lesen verstand. Schloß Irreloh lag sehr viel weiter von Halmar entfernt als das Haus der Schatten. Ein dunkler Tannenwald umrahmte es, der langsam ansteigend in föhrenbewachsene Dünen überging. Hinter ihnen war das Meer. Die grünen Wellen der Ostsee rollten mit weißen Kämmen heran und schlugen eintönig an den Ufersand und an die teergestrichenen, schwarzen Fischerboote, die vereinzelt am Strande vertäut waren. Und die Brandung sang ihr Lied hinüber bis in den stillen Park von Irreloh. Auf der anderen Seite des Schlosses dehnte sich rote Heide, und über sie führte der Weg zum Hause der Schatten und weiter nach Halmar mit seinen engen, winkeligen Gassen und den kleinen, alten Häuschen, die ein spitzer Kirchturm überragte. Bis hierher hörte man die Brandung der See nicht mehr, und das war wohl richtig so, denn die Brandung hatte den friedlichen Häusern von Halmar nichts zu sagen, aber Schloß Irreloh hatte sie viel zu erzählen, und sie tat es Tag und Nacht. Es waren alte und traurige Geschichten, von denen die Brandung sang, und es wäre gut für Schloß Irreloh gewesen, wenn es diese Geschichten nicht mehr zu hören brauchte. Doch es mußte sie hören, denn es waren Geschichten, die ja auch in der alten Chronik von Irreloh standen. Sie flüsterten in den alten Mauern dasselbe Lied, das die Brandung sang, und sie redeten ihre eigene unheimliche Sprache einem jeden, der sie zu hören und zu lesen verstand. Das konnten nicht mehr viele von den Menschen, die heute lebten, aber die Lettern und Zeichen der alten Geschichten stehen überall da, auch wenn sie nicht gelesen und nicht mehr verstanden werden.

Ach, wäre es nicht besser, man würde die verwaschenen Lettern lesen und die verschlungenen Zeichen deuten? Würde man nicht klarer sehen, wohin die Wege und Umwege führen, die man wandert, wenn man mehr darauf bedacht wäre, den Boden zu kennen, auf den man den Fuß setzt? Ihr, die ihr heute atmet, denkt daran, wie viele vor euch diese Straße gingen, liebten und haßten, beteten und sündigten. Der Sand des Ufers, das ihr betretet, hat schon viele Spuren vor euch in sich drücken und wieder verwehen lassen – in Trauer und Frohsinn eurer Reden mischen sich ferne, fremde Stimmen, in eure Gedanken andere Gedanken, die hier einmal gedacht wurden, und in die Kränze, die ihr dem Leben flechtet, binden unsichtbare Hände welke Blumen, die einmal in vergangenen Tagen geblüht. Es ist alles Geschehen so seltsam miteinander verwoben. Wie vieles könnte man klären, wie manches vermeiden, wenn man bewußter durch dieses Dasein ging. Aber wir wandern im Dunkel der Dämmerung, die über uns gekommen ist, und die Schatten alter Zeiten wandern mit uns.

Ach, Ulla Uhlberg, wärst du nach Schloß Irreloh gezogen, wenn du das Lied der Brandung verstündest, wenn du die Lettern der alten Mauern und die Zeichen der dunklen Torbogen lesen könntest? Wärest du hergekommen, wenn du geschaut hättest, wie viele welke Kränze in den Gängen und Hallen hängen, und wenn du es hören würdest, wie erloschene Stimmen sich die alten Geschichten von Irreloh erzählen? Ich weiß es, du bist hierher gezogen, um dem nahe zu sein, den du liebst. Aber Schloß Irreloh ist kein Ort, um ein Rosenlager zu bereiten, seine grauen Gewölbe ersticken die Seligkeit heimlicher Liebesträume, und nach deinen heißen, sehnsüchtigen Gedanken greifen kalte Gespenster. Ach, Ulla Uhlberg, du bist eine starke und stolze Frau, aber du wirst nicht stark genug sein, um die Geister von Irreloh zu bannen. Du weißt ja auch nichts von ihnen. Wie soll man kämpfen und siegen, wenn man es nicht weiß, was man bekämpfen und besiegen soll?

Nein, Ulla Uhlberg wußte nichts von den Geistern von Irreloh. Sie war als kleines Mädchen in die Schule von Halmar gegangen, als sie nach dem frühen Tod der Eltern zu einer Tante gekommen war, die dort wohnte. Es war eine stille Welt gewesen, in der sie mit den Kindern von Halmar aufgewachsen war, und die engen Gassen des kleinen Städtchens waren ihre Heimat geworden. Aber Ulla Uhlberg sehnte sich nach dem Großen, dem Grenzenlosen, sie träumte von Pracht und Glanz, von Leben und Lachen in schimmernden Hallen, und wenn sie davon träumte, erschien es ihr immer, als kenne sie das alles, als käme sie von dort her und müsse wieder dahin zurückgelangen. Doch sie wußte nicht viel von der Welt, und Schloß Irreloh mit seiner plumpen Größe erschien ihr stets als ein lockender Gegensatz zum Frieden von Halmar, das still und ruhevoll, aber immer ein wenig eng und langweilig war. Als Ulla Uhlberg erwachsen war, erbte sie das große Vermögen der Eltern. Erst ging sie auf Reisen, sie war ja reich und jung und hatte Zeit, sich die Welt zu betrachten. Doch sie blieb nicht draußen. Sie kam wieder und kaufte Schloß Irreloh, das lange Jahre verlassen und unbewohnt und ziemlich verfallen war. Ulla Uhlberg hatte nun freilich genug von der Welt gesehen, um zu wissen, daß Irreloh nichts weniger als Pracht und Glanz bedeutete – ach nein, es war wahrhaftig keines der vornehmen Häuser von Florenz, das sie so sehr liebte. Aber sie hatte Kinderträume um Irreloh gesponnen, hatte unsichtbare Fäden um dieses alte Gemäuer gezogen, und ihr war es, als wenn sie gerade hier das Wunder erleben müsse, nach dem sie sich in der Enge der Jugendjahre gesehnt. Sie wollte Macht empfinden und herrschen, aber sie wollte es hier; auf diesem Boden wollte sie groß sein, wo sie so klein gewesen war. Oder vielleicht war es die Heimat, die sie wieder zu sich rief? Es ist so schwer zu sagen, wie viele verschiedene Empfindungen unwägbar in der Seele eines Menschen reden – er weiß es oft selber nicht, er hört nur die eine Stimme in sich und ahnt nicht, daß es viele sind. Man will, aber niemals kann man wirklich deutlich sagen, warum man etwas will. Ein bindendes Heimatgefühl hatte Ulla Uhlberg eigentlich nicht. Sie war keine so reine Nordländerin wie die anderen, die mit ihr in Halmar groß geworden waren. Schon als Schulmädchen fiel sie aus der Reihe heraus mit ihren schwarzen Haaren, den dunklen Augen und der seltsam braunen Tönung der Haut. Nein, sie hatte sich in Florenz heimischer gefühlt, unter dem tiefblauen Himmel und den leuchtenden Farben des Südens, als hier, wo Schnee und Nebelgrau häufiger waren als Sonne und Klarheit. Und doch kam sie wieder in die Heimat und kaufte Irreloh. Es war nicht nur das Schloß der Kinderträume, das sie besitzen wollte, es war wohl darum, weil sie dem nahe sein wollte, was sie hineingeträumt, und das war so vieles. Wir wissen es alle nicht, wo wir eigentlich zu Hause sind, und wie selten gelingt es uns, das verworrene Gewebe unseres Lebens zu entwirren, ehe es der Tod uns aus den Händen nimmt und ein neues Muster daraus gewoben wird am Webstuhl des ewigen Werdens.

Nein, heute war Ulla Uhlberg kein kleines Schulmädchen mehr, sie wußte es gut, was wirkliche Schönheit und Pracht ist, und sie sah es deutlich, wie dunkel und düster Schloß Irreloh war. Aber sie war nicht umsonst so schön und jung und stark, und sie hatte an den alten Mauern von Irreloh so viel gebaut wie einst an den Träumen der Kinderzeit. Und wenn die Brandung von ferne sang, wenn die eichenen Türen knarrten, die schweren Schwellen ächzten oder ihr Schritt in den öden Gängen widerhallte, dann lachte sie jugendsicher und sorglos. Sie war ja Herrin von Irreloh, und sie wollte es umgestalten und ihm die heiße Zauberglut des Südens einhauchen, die in ihrer eigenen Seele lebte, sie wollte dies graue Gemäuer mit roten Rosen umranken und einst darin ihren Kindertraum mit ihren Küssen zum Leben erwecken.

Ach, Ulla Uhlberg, du bist jung und schön und stark. Aber wirst du stark genug sein, die Geister von Irreloh zu bannen? Das Leben ist so anders, als man es sich träumt, wir flechten Blumen und schmieden uns Ketten. In allem, was in uns ist, rufen wir Kräfte, gute und böse, um uns herum. Du hütest ein Feuer in dir, das rot und glutvoll ist. Auch in Irreloh hütet man alte Feuer, die einmal brannten. Aber die Feuer von Irreloh waren falsche Feuer, denke daran, Ulla Uhlberg. Feuer zieht Feuer an, und niemand von uns weiß es, was nur Gleichnis hinter den Dingen bleibt und was zum Geschehen geboren wird an einem Tage des Schicksals aus einem geheimnisvollen Schloß.

*

Ulla Uhlberg saß in einem hohen Lehnstuhl in der Halle von Irreloh. Die Türen zum Garten standen offen, und das goldene Licht des Sommers tanzte auf den schweren, dunklen Renaissancemöbeln, die ein passender Rahmen für Ulla Uhlbergs etwas strenge Schönheit waren. Pastor Harald Haller aus Halmar und seine Frau saßen Ulla gegenüber, sie waren zu Tisch dagewesen und nahmen nun den Kaffee in der Halle ein. Johannes Wanderer war eben erst gekommen, er saß ein wenig abseits von den anderen in einer tiefen Fensternische und beobachtete Pastor Haller, der eifrig sprach und seine liberalen theologischen Ansichten auseinandersetzte. Er hatte das schon bei Tisch getan, und Ulla Uhlberg mußte sich zu einer höflichen Anteilnahme zwingen. Ihr war es grenzenlos gleichgültig, ob Pastor Haller liberal oder orthodox war, und sie wünschte sehnlichst, er möge gehen und sie mit Johannes Wanderer allein lassen. Ihre Finger spielten unruhig mit einer feinen, goldenen Halskette von venezianischer Arbeit. Der Diener servierte lautlos. Pastor Haller war eine gute Erscheinung, noch ziemlich jung und hoch gewachsen, mit einem ernsten und klugen Gesicht, das aber mehr an einen Dozenten als an einen Priester erinnerte. Seine Frau war belanglos hübsch, freundlich und ein wenig ängstlich.

»Es ist natürlich nicht leicht, moderne Ansichten in Halmar einzubürgern«, sagte Pastor Haller, »die Leute hier sind rückständig, sie glauben an allerlei Wunder, ja sogar an Gespenster, an graue Frauen und kleine Männchen. Es ist schwer, ihnen das abzugewöhnen und sie in die Gegenwart und in den Geist der Aufklärung zu führen. Immer wieder muß ich ihnen versichern, daß es auch bei Jesus nur auf das moralische Vorbild ankommt, nicht auf die alten christlichen Legenden, so sehr ja auch diese ihren poetischen Wert haben mögen.«

»Es tut mir leid, daß Sie sich hier unter den Leuten nicht einleben können«, meinte Ulla Uhlberg höflich.

Wenn Pastor Haller bloß ahnte, wie furchtbar einerlei ihr das alles war! Aber sie bot ihm freundlich noch eine Tasse Kaffee an.

»Ich kann nicht sagen, daß ich mich nicht eingelebt habe, nein, ich fühle mich ganz wohl hier. Aber sehen Sie, es ist keine Gegenwart, in der man hier lebt, es ist eine Vergangenheit, die dem modernen Dasein, den Forschungen von heute nicht mehr standhalten kann. Ich finde das ungesund und versuche durchaus, in einem anderen Sinn auf die Menschen einzuwirken. Man kann doch nicht immer im Mittelalter steckenbleiben.«

»Aber, Haraldchen«, wandte Frau Haller schüchtern ein, »Papa war doch auch Pastor wie du, und er hat immer streng auf das Wort gehalten und gesagt, daß man nichts davon nehmen dürfe. Und Papa war doch sehr beliebt bei seiner Gemeinde, und ich muß eigentlich auch immer wieder so denken, wie er gedacht hat. Die Leute hier hätten dich sicher auch viel lieber, wenn du ihnen all ihre Wunder lassen wolltest.«

»Ja, liebes Kind«, meinte Pastor Haller überlegen, »dein Vater hatte eben die andere Richtung, und es war ja auch eine andere Zeit. Dagegen will ich natürlich nichts sagen. Aber wir müssen der Gegenwart Rechnung tragen. Das ganze veränderte Leben heute, die moderne Naturwissenschaft, die Errungenschaften der Technik, das alles sind Faktoren, an denen wir nicht vorbeigehen können. Man glaubt eben nicht mehr an Wunder im alten Sinne, die Legenden sind schöne Gleichnisse, aber worauf es ankommt, ist das, im Christentum ein menschliches Vorbild zu haben. Der Aberglaube vergangener Zeiten ist mit unsern heutigen Erkenntnissen unvereinbar.«

Frau Haller schwieg bedrückt. Sie ahnte unklar, daß in dem stolzen akademischen Gebäude ihres Gatten etwas nicht stimmte, und sie fühlte es in ihrer Einfachheit viel deutlicher als er, daß die Leute in Halmar gegen diese neue Kirchlichkeit einen Widerwillen hatten, der ihr irgendwie auch als eine Gefahr des eigenen Hauses erschien.

Ulla Uhlberg unterdrückte ein Gähnen.

Pastor Haller wurde unsicher und suchte nach einem Stützpunkt.

»Herr Wanderer«, sagte er, »Sie schweigen immer so hartnäckig. Ja, wenn ich mich recht erinnere, habe ich Sie eigentlich sehr selten sprechen hören. Wie denken Sie über diese Sache? Sie haben sich doch auch dazwischen mit religiösen Fragen beschäftigt.«

»Ich denke, daß ein Leben ohne Wunder sehr arm ist«, meinte Johannes Wanderer, »ich möchte es nicht leben. Ich sehe in Jesus von Nazareth auch mehr als nur einen großen Menschen, dem man nachleben soll. Das Nachleben glückt auch meistens weder den Liberalen noch den Orthodoxen. Vielleicht gibt es Leute, die mit einer moralischen Doktrin leben können, aber mit ihr allein zu sterben, scheint mir nicht ausreichend. Leben und Sterben aber sind uns gleich nahe an jedem Tag.«

Pastor Haller räusperte sich. Dieser stille Mensch, der sich immer abseits hielt in Gesellschaft, war ihm eigentlich unheimlich.

»Nun ja«, sagte er, »gewiß muß diese moralische Doktrin gestaltet und umgesetzt werden. Aber die Wunder können wir nun einmal heute dem aufgeklärten Verstande nicht mehr zumuten.«

»Ich bin gewiß kein Freund orthodoxer Unduldsamkeit, der anderen übrigens auch nicht, ich finde aber, daß eine Religion ohne Wunder keine Religion mehr ist. Es geschehen doch auch heute noch Wunder, jede Blume ist eines, und das Wunder des Lebens und Sterbens kann auch die moderne Naturwissenschaft nicht erklären.«

»Wir sind doch vielem nahegekommen«, wandte Pastor Haller ein.

»Oder sehr weit. Verstand und Geist ist nicht dasselbe.«

»Am Ende reden Sie noch den Leuten von Halmar das Wort und stehen ihren Gespenstern näher als mir?« fragte Pastor Haller scherzend, aber es war ein wenig Schärfe in seinem Ton, der harmlos klingen sollte.

»Offengestanden, ja, Herr Pastor«, sagte Johannes Wanderer ruhig.

Ulla Uhlberg lächelte amüsiert.

»Aber was ist das für eine Richtung?« fragte Pastor Haller entsetzt, »welchen Weg gehen Sie denn in religiösen Dingen?«

»Es ist gar keine Richtung«, erklärte Johannes Wanderer freundlich, »ich halte überhaupt nichts von sogenannten Richtungen. Ich denke aber, daß ein Mensch und besonders ein Priester nur einen Weg gehen kann, das ist der Weg nach Damaskus, und wie das im einzelnen Fall geschieht, erscheint mir eigentlich unwesentlich.«

Pastor Haller stand auf. Wahrhaftig, dieser sonderbare Mensch war nicht viel weiter als die einfachen Leute von Halmar. Das kommt von den asiatischen Reisen.

»Nun ja, wie man es nimmt, in diesem Sinne freilich«, sagte er ablenkend, »aber nun müssen wir leider gehen, gnädiges Fräulein, haben Sie vielen Dank für Ihre gastliche Aufnahme.«

»Ich bedaure sehr, daß Sie keine Zeit mehr haben«, meinte Ulla Uhlberg höflich, »der Wagen ist bereit.«

»Es ist sehr freundlich, daß Sie dafür gesorgt haben, wir hätten den Weg nach Hause auch gut zu Fuß machen können«, sagte Frau Haller.

»Es ist weit bis Halmar«, meinte Ulla Uhlberg, »und es ist doch selbstverständlich, daß ich daran dachte, als Sie äußerten, gleich nach Tisch aufbrechen zu wollen.«

Ulla Uhlberg geleitete ihre Gäste zum Wagen. Dann kam sie in die Halle zurück und setzte sich zu Johannes Wanderer.

»Nun habe ich dich endlich einmal ein wenig für mich«, sagte sie befreit, »Pastor Haller meint es ja gut mit all seiner modernen Aufklärung, aber mir ist das schrecklich langweilig und völlig einerlei.«

Johann Wanderer lachte.

»Dir vielleicht«, sagte er, »aber den Leuten in Halmar nicht. Die wollen in der Kirche etwas, woran sie sich halten können, und sie haben recht. Der Altar ist kein Lehrstuhl für theologische Forschungen, und trotz aller modernen Kenntnisse ist es sehr dunkel in der Kirche zu Halmar, wie sich einmal jemand ausdrückte.«

»Wer sagte das?« forschte Ulla Uhlberg, »ich finde es interessant, das so zu sehen und auszudrücken.«

»Das kann ich dir nicht erklären, Ulla, der Mensch, der das sagte, steht zwischen zwei Welten.« »Das klingt so geheimnisvoll«, meinte Ulla Uhlberg, »aber erzähle mir lieber etwas von dir, Johannes. Du bist lange nicht bei mir gewesen. In unserer Schulzeit in Halmar waren wir täglich beisammen. Vergräbst du dich nicht zu sehr in deine Studien? Wie geht es Regine und Mariechen, und was macht Veronika?«

»Ich danke, Ulla, es geht allen soweit gut. Veronika hatte ein wenig Fieber, aber es war nichts Besonderes. Regine und Mariechen haben fleißig zu tun, und die Gartenwirtschaft ist zufriedenstellend. Es ist immerhin eine hübsche Nebeneinnahme zu ihrem Vermögen. Ich helfe ihnen, wo ich kann. Gartenarbeit ist etwas Hochwertiges, es ist Erwerb und Schönheit darin vereinigt, wenn auch vieles recht mühsam ist.«

»Hat Regine eigentlich den Tod des Mannes verwunden?«

»Ich glaube es wohl. Es ist ja auch schon eine ganze Weile her, und ich hatte nicht den Eindruck, daß sie sich sehr nahestanden. Unsere üblichen Ehen bilden eben kaum mehr als eine Gewohnheit. Regine selbst ist auch ein Mensch, der für mein Gefühl nie ganz erwacht ist, sie sagt niemals völlig ja oder nein zu einer Frage des Lebens. Ich habe es oft versucht, sie zu festigen, aber es bleibt ihr etwas Ratloses, auch Veronika gegenüber.«

»Für Veronika war es traurig, daß sie den Vater so zeitig verlor«, meinte Ulla Uhlberg nachdenklich.

Sie dachte an den frühen Tod der eigenen Eltern. Johannes fühlte das.

»Sie hat noch die Mutter, da ist es etwas anderes, als es mit dir war, Ulla. Das Heim ist ihr ja geblieben. Ich kann mir auch nicht denken, daß Veronika viel vom Vater gehabt hätte. Er war so ganz anders als sie. Ich achte gewiß die Verkettungen des Blutes, aber man muß sich auch nicht darüber täuschen, daß sie nur an zweiter Stelle stehn. Die geistige Verwandtschaft ist stärker. Beides trifft selten zusammen. Ich meine das so, daß Veronikas Wesenheit wohl stark mit Regine verbunden ist, aber nur wenig mit dem Vater. Mit ihm hatte Regine ihr Schicksal auszugleichen, nicht das Kind.«

»Glaubst du das oder weißt du das, Johannes?«

»In diesem Falle weiß ich es«,, sagte Johannes Wanderer, »wenn Veronika einmal stirbt, wird ihr der Vater als erster nicht begegnen. Sie hat nähere Seelen, drüben, wie hier. Er geht einen ganz anderen Weg als Veronika, und vorläufig scheint es mir, daß dieser Weg kein allzu leichter sein kann. Er stand den geistigen Welten doch gar zu ferne, und es wird lange dauern, bis er sich in sie hineinfindet.«

»Hast du das gesehen, Johannes? Kann man Tote schauen wie Lebendige?«

»Das kann man schon tun, Ulla. Tote und Lebende wirken enger zusammen als man denkt, und sie bauen zusammen an dieser und jener Welt. Nur heute, wo wir materieller und erdgebundener geworden sind, scheint uns die Trennung von den Toten so unüberbrückbar. Die alten Kulturen dachten und fühlten noch anders. Ich will gewiß nicht sagen, daß ich viel von diesen Dingen verstehe. Aber siehst du, es ist schon einiges, was ich auf meinen Reisen gelernt habe. Diese Reisen waren Wanderungen, du wirst es verstehen, Ulla, was ich damit meine.«

Ulla Uhlberg besann sich.

»So bin ich nicht gereist. Ich kann nicht sagen, daß ich dabei gewandert wäre, leider. Aber ich war ja auch in Italien und du in Asien. Ich kann es mir denken, daß man da vieles lernt und manches anders ansieht als hier.«

»Ach, das ist das wenigste«, wehrte Johannes ab, »man ist mir darin auch zu Hilfe gekommen. Es muß ja einer dem anderen helfen, Ulla, das Leben ist sehr schwer, wenn man erst darüber nachdenkt und versucht, sich darin zurechtzufinden.« »Genügt dir nun das einfache Leben hier?«

»Ja, Ulla, ich hoffe, daß ich das ausfüllen kann.«

»Sage, Johannes, bist du Veronikas wegen wiedergekommen oder um deinen Schwestern zu helfen oder – vielleicht auch aus einem anderen Grunde? Du brachst doch deine Reisen sehr plötzlich ab.«

»Ich hatte natürlich das Bedürfnis, Regine zu helfen, als der Todesfall eintrat, aber es ist wahr, daß ich eigentlich gerufen wurde, um Veronika behilflich zu sein. Mariechen braucht ja niemand, sie ist so selbstsicher in ihrer Wirtschaft.«

»Du wurdest gerufen?« fragte Ulla Uhlberg.

»Ja, Ulla, nicht äußerlich, sondern innerlich. Ich stehe Veronika sehr nahe und muß ihr helfen, es sind das Gesetze aus einer anderen Welt. Auch dem blöden Peter muß ich helfen.«

»Das ist sehr schön, Johannes, und ich kann es verstehen, daß dir Veronika innerlich nahe ist. Sie ist ein sonderbares Kind, wie du es auch immer warst. Vielleicht liebte ich dich darum gerade besonders. Aber genügt dir das? Kannst du nicht andre Werke schaffen, mit allem, was du kannst und gelernt hast, als den blöden Peter zu unterrichten?«

»Es wäre ein großes Werk, wenn es mir gelänge, ihm den eingeschlafenen Geist um einiges zu erwecken. Vielleicht ist das verdienstvoller, als große Werke zu schreiben. Du mußt auch nicht über einen Blöden denken, wie die Menschen es tun. Siehst du, wir gehen von Leben zu Leben, und wenn der blöde Peter heute ein gefangener Geist ist, vielleicht war er einmal ein großer Weiser, und er ist aus Erbarmen mit den Blöden in diesem Dasein ein Blöder geworden, um das Leiden der Blöden, ihr Suchen und Finden in all seiner Hilflosigkeit, im Innersten zu erfahren und ihnen in einem künftigen Leben Führer zu sein.«

Ulla Uhlberg sah voller Erstaunen auf. »Ich könnte das verstehen«, sagte sie langsam, »aber glaubst du es, daß Peter solch ein Weiser war?«

»Ich will das glauben, Ulla. Es ist zum mindesten besser für meine Mühe an ihm, wenn ich das als möglich annehme. Wer kann das Schicksal von Menschen enträtseln? Das ist sehr schwer, und ich bin kein Meister.«

»Aber du kanntest einen?« fragte Ulla Uhlberg, »war das in Asien? Erzähle mir bitte davon.«

»Ich kannte wohl einen, aber es war nicht in Asien. Wie soll ich sagen, wo das war? Das ist gar nicht greifbar, Ulla. Ich habe in Asien gelernt, was Vorbereitung ist, um einen Meister zu sehen, aber den Meister sah ich erst später. Es ist ganz gleich, an welchem Ort es geschieht. Es braucht ja auch kein Mensch zu sein in unserem irdischen Sinne. Das sind große Dinge, und sie sind sehr wirklich, es ist nur schwer, sie in Worte zu fassen. Du selbst bist dem allem vielleicht auch näher, als du glaubst, Ulla, sonst würdest du nicht so fragen.«

»Ich glaube wohl, daß es ein Leben hinter den Dingen gibt, ähnlich dem Dasein, das in die Dinge hineingestellt ist. Es hätte vielleicht keinen Wert, zu leben, wenn es anders wäre. Ich habe es mir nie denken mögen, daß es alles sein könne, was die Menschen in ihrem Alltag sehen und was sie an ihm haben. Darum lohnte es nicht zu atmen und zu kämpfen.«

»Kämpfst du um etwas, Ulla?« fragte Johannes.

Ulla Uhlberg neigte den Kopf.

»Vielleicht, Johannes«, sagte sie leise. »Wir kämpfen wohl alle, aber es weiß niemand, ob er siegt.«

Johannes Wanderer schwieg und sah hinaus in die Blumenpracht des Parkes, über der die Mittagssonne golden und strahlend lag. Wie nahe verwandt war dieser reife Sommertag Ulla Uhlbergs Schönheit! Aber jeder Tag muß über den Mittag hinaus in den Abendfrieden, in eine Nacht und in einen neuen Morgen ... »Sieh einmal, Johannes«, fuhr Ulla Uhlberg fort, »du sprachst von verschiedenen Leben. Ich verstehe das so, daß wir schon vorher in anderen Gestalten auf dieser Erde waren, daß wir wiedergekommen sind und aufs neue wiederkommen werden. Ich kann es mir auch nur so erklären, daß Schicksale sich verketten, sich ausgleichen, sich lösen und wieder verbinden. Darüber habe ich oft gegrübelt, und eigentlich ist mir das immer verständlich gewesen, viel leichter zu begreifen, als daß es zum Beispiel Gespenster gibt und ähnliche übersinnliche Dinge.«

»Man braucht kein Mystiker zu sein, Ulla, um die Wiederverkörperung verständlich zu finden. Sie ist doch, auch nur logisch betrachtet, die einzige Möglichkeit, Ausgleich von Ursachen und Wirkungen und eine Gerechtigkeit in allem Geschehen zu sehn. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß man nicht helfen soll, wo es irgend geht, denn wir brauchen Hilfe und müssen Hilfe erweisen, Menschen, Tieren und allem Leben.«

»Kannst du sehen, Johannes, wer jemand war? Oder hast du es bei irgend jemand gesehen?«

»Ich kann das nur selten, Ulla. Man muß auch sehr vorsichtig mit solchen Wahrnehmungen sein, es wird viel Unfug damit getrieben, und die Täuschung ist da vielleicht noch eher möglich, als in manchen anderen übersinnlichen Fragen. Aber der Grundgedanke als solcher ist gesund, er nähert uns wieder der Weltanschauung, die einmal gottnahe war und die im heutigen Materialismus versandete.«

Ulla Uhlberg hatte das Gefühl, als ob Johannes ablenken wolle.

»Und wenn ich dich etwas darüber fragte?« sagte sie.

»Zum Beispiel, wer Baron Bombe war?« meinte Johannes und lachte, »dein immerwährender Verehrer, nicht wahr?« »Pfui, Johannes«, rief Ulla Uhlberg, »hast du kein reizvolleres Beispiel? Aber wenn du schon dabei bist, weißt du es, wer er war?«

»Ich glaube, darüber lohnt es nicht, weiter nachzudenken. Solche Fragen verlangen viel Kontemplation und Ruhe, ich würde sie nicht an dieses Problem verschwenden. Menschen mit primitivem Standesdünkel und ohne Eigengeltung sind meist im früheren Leben kleine Leute gewesen, sie haben sich in eine vermeintliche Stellung hineingesehnt und sie bleiben darin, bis sie lernen, sich wieder daraus zu befreien. Es sind keine interessanten Inkarnationen, und es lohnt nicht, sich weiter damit abzugeben. Doch es ist schon richtig, daß man solche Äußerlichkeiten anziehen kann. Die innere Verbindung hat natürlich ihre besonderen Gesetze. Ich will nichts Häßliches damit über Baron Bombe sagen, er ist spaßhaft und im übrigen ein harmloses Geschöpf. Man kann ihn ruhig in seinem Traum von der eigenen Vorzüglichkeit lassen.«

Ulla Uhlberg lachte.

»Baron Bombe kann ich mir in solch einem subalternen Leben vorstellen, er hat bloß den Anzug gewechselt, und bei vielen Menschen scheint es mir nicht mehr zu sein, als nur das. Aber manches ist doch sicher sehr lehrreich darin zu erfahren, und ich denke mir oft, wenn ich eine Tischgesellschaft habe, wer nun in Wirklichkeit alle die Menschen sein mögen, die um mich herum sitzen und ihre Maske von heute tragen.«

»Es kämen oft sonderbare Bilder heraus, wenn man die Masken abnehmen wollte«, meinte Johannes Wanderer.

»Weißt du, Johannes, als ich in Florenz war, kam es mir oft so vor, als kenne ich das alles, was ich sah, schon lange. Ich schäme mich, es zu sagen, daß ich mich dort heimischer gefühlt habe als hier.«

»Ich kann das verstehen. Aber du bist doch zurückgekommen, Ulla?« Über Ulla Uhlbergs Wangen flog eine feine Röte.

»Ja, warum, Johannes? Du mußt es doch wissen, daß ich hier zu Hause bin.«

Sie stand auf.

»Komm, wir wollen in den Park gehen, es ist eine dumpfe Luft hier. Draußen ist es schön unter den vielen Blumen.«

Johannes Wanderer folgte ihr.

»Wolltest du fragen, Ulla, ob ich glaube, daß du schon einmal in Florenz gelebt hast? Ja, das glaube ich, denn du hast heute noch vieles davon behalten. Manches nimmt man mit in ein späteres Leben, weil es sich noch nicht ausgewirkt hat. Wie soll ich dir das sagen, Ulla? Mir scheint es, du bist noch stark an Florenz hängengeblieben und an dem, was damals war.«

»Hast du das gesehen, Johannes?«

»Ich habe einiges davon gesehen, nicht alles.«

»Warum vergißt man das? Es ist eine Erinnerung da, aber sie ist ohne Klarheit.«

»Man wußte noch mehr davon, als man ein Kind war, Ulla. Auch Veronika weiß noch einiges. Dann vergißt man es. Der größte Teil des Lebens ist Dämmerung geworden, nur halb bewußt. Das ist schwer für uns, aber wir müssen versuchen, aus dem Dunkel ans Licht zu gelangen, und was wir dann besitzen, ist uns wirklich eigen. Doch bis man das lernt, ist es schon so wie du sagst. Man vergißt so leicht, was man nicht vergessen sollte, und später vergißt man schwer, was man gerne vergessen möchte. Es ist wie mit drei Lichtern, die alle anders brennen, bis sie sich ausgleichen und zu einer einzigen, reinen Flamme werden. Das sind Geheimnisse des Lebens, man kann sie nur unbeholfen erklären, man muß in sie hineinwachsen und sie in sich wach werden lassen.«

»Johannes, als ich in Florenz wohnte, war es mir immer, als stündest du neben mir, und ich hatte das Gefühl, daß wir beide einmal dort gelebt haben und daß wir uns sehr nahestanden, ähnlich wie heute, oder vielleicht noch mehr. Ich kann es nicht so sagen, wie ich es meine.«

»Wir sind beide in Florenz gewesen, wir waren auch glücklicher als heute, wenn du es so meintest, aber wir wollen es nicht zurückwünschen. Das Glück in Florenz brach in Scherben, und es war ein grauenvoller Morgen, als das geschah. Wir sind heute eine große Stufe weitergekommen, wir müssen noch weiter gelangen, und dabei wollen wir uns beide helfen, Ulla, du und ich. Doch an Florenz mußt du nicht so viel denken, man muß vorwärtsgehen und nicht zurück, und manches muß man vergessen, glaube es mir.«

»Es ist vieles schwer zu vergessen, Johannes.«

»Gewiß, aber vergessen heißt nicht auslöschen. Vergiß die Schale, die abfallen soll, und bewahre den Kern des Geschehens. Man kann sich ja alles auch leichter machen, aber das Leben ist schwer für alle, die helfen wollen, und ich will helfen, ich bemühe mich ehrlich darum. Du willst es doch auch, Ulla, nicht wahr? Es warten so viele Menschen und Tiere darauf, die Welt ist verworren, und überall gibt es unerlöste Seelen.«

»Ich will, was du willst, Johannes«, sagte Ulla Uhlberg einfach. »Ich habe ja dich hier, und ich habe ein Stück von Florenz in diesem alten Gemäuer eingefangen. Findest du nicht auch, daß ich Irreloh prachtvoll umgestaltet habe? Ich wollte, du würdest dich hier recht wohl fühlen, Johannes.«

»Ich bin gerne bei dir, Ulla, aber ein Schloß liegt mir nicht besonders. Ich will dir nicht die Freude an deinem Besitz nehmen, ich sehe auch, wie hübsch du alles gemacht hast. Der alte Kasten, von dem wir als Kinder schwärmten, ist kaum wiederzuerkennen. Aber dennoch wünschte ich, du hättest Irreloh nicht erworben und dir lieber ein neues Haus gebaut.«

Über Ulla Uhlbergs Gesicht huschte ein Schatten.

»Ich dachte, auch dir würde Irreloh gefallen. Es war der Traum unserer Jugendjahre, hier Ritter und verzauberte Königstochter zu spielen, und du hast es versprochen, mich vom Drachen, der mich bewacht, zu erlösen. Weißt du das nicht mehr, Johannes?«

»Ja, das weiß ich, Ulla, und ich will mein Versprechen halten. Darum sage ich dir ja gerade das alles.«

Ulla Uhlberg lächelte und setzte sich auf eine steinerne Gartenbank.

»Komm, setze dich zu mir und erzähle mir, was du an Irreloh auszusetzen hast. Kriegt man hier Rheumatismus oder gibt es am Ende Gespenster?«

»Sieh einmal, Ulla, ich meine das so: Man hat vieles in sich, dem Wesen und Schicksal nach, was sich ausleben und klären muß, Gutes und Böses, aber man zieht auch manches an sich heran aus der Umwelt, mit dem man verwandt ist oder gegen das man nicht stark und bewußt genug angehen kann. So scheint mir die Wahl eines Ortes nicht ganz belanglos, vorausgesetzt, daß man ihn überhaupt wählen kann.«

»Lebst du darum im kleinen Gartenhäuschen und nicht bei Regine und Mariechen?«

»Ja, Ulla, ich kann dort besser arbeiten, es kommen weniger Einflüsse an mich heran. Es ist da mehr Kontemplationsmöglichkeit vorhanden, ein reinerer Boden. Mir kommt es so vor, als wäre mir dort die Brücke zur geistigen Welt ein wenig näher als im Hause der Schatten.«

»Vielleicht hast du recht. So friedlich ist Irreloh nicht. Schau bloß den greulichen hohen Turm an. An ihm ist sogar meine Verschönerungskunst gescheitert, es ist nichts weiter darin als altes Gerümpel. Jetzt hoffe ich bloß noch, daß sich die Eulen dort einnisten, das wäre wirklich romantisch. Ich habe Eulen so gern, aber sie tun mir nicht den Gefallen, den alten Turm zu bewohnen. Hier im Park herum hausen sie, ich höre sie in der Nacht rufen.«

»Ich kann es verstehen, Ulla, daß die Eulen nicht auf dem Turm nisten wollen. Er ist nicht gut. Es ist manches nicht gut in Irreloh.«

»Wie meinst du das? Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern.«

»Ich will nicht sagen, daß dort Gespenster sind. Ich weiß das nicht. Ich kenne mich auch in Irreloh nicht so genau aus, wie im Hause der Schatten. Aber ich meine das nur so, daß an allen Dingen etwas hängt, aus früheren Zeiten, nicht greifbar natürlich, aber doch durchaus wirklich. Du mußt bedenken, daß ein hellsichtiger Mensch, wenn er einen Gegenstand in die Hand nimmt, sagen kann, wie sein Besitzer aussah und was für ein Schicksal er hatte. Ich habe das oft erlebt. In diesem Sinn sind überall noch restliche Kräfte, wenn man es so nennen will, aber man muß sie nicht erwecken.«

»Das tue ich ja nicht, Johannes.«

»Vielleicht noch mehr als das. Man muß ihnen oft eine Kraft entgegensetzen, darf ihnen zum mindesten nichts Verwandtes bieten, das uns mit ihnen verketten kann. Hier in Irreloh ist manches, was besser nicht wäre. Irreloh hatte früher einen schlimmen Ruf, es hat falsche Feuer an der Küste gebrannt, und es ist vom Strandgut reich geworden.«

»Ach, das ist lange her, Johannes. Was geht es mich an? Ich habe die falschen Feuer nicht angezündet und habe kein Strandgut geraubt.«

Johannes Wanderer schüttelte den Kopf.

»Du nicht, Ulla, aber ich meine es anders. Wenn ich an mich denke, so sage ich mir, daß auch in mir Gefahren sind und ungeklärte seelische Gebiete. Wir haben alle noch irgendwo ein Feuer in uns, das allzuheftig flackert, wenn auch vielleicht nur unter der Asche, und wir alle haben uns, oft wohl nur unbewußt, am Strandgut des Lebens vergriffen. Das ist so schwierig und geht so seltsam verschlungen ineinander über.«

»Das mag wohl sein, Johannes, aber ich will ja nichts, als das Leben bejahen. Wenn man das tut, wird man gewiß auch mit den alten Geschichten fertig.«

»Ich wünsche dir ja gerade, daß du das Leben richtig bejahst und die Geister von Irreloh ausschaltest, Ulla. Ich warne dich ja nicht, damit du verneinen sollst, gewiß nicht. Aber hast du einmal darüber nachgedacht, wie schwer es ist, das Leben zu bejahen? Die meisten Menschen, die das als gesunde Weltanschauung predigen, bejahen gar nicht das Leben, sondern sie bejahen nur sich selbst. Das Leben verneinen sie – würden sie sonst Kriege führen, Tiere töten und ganze Wälder ausrotten? Das Leben bejahen, heißt alles Leben bejahen, sich selbst in Andacht eingliedern in alles brüderliche Dasein anderer Geschöpfe. Täten die Menschen das, wir wären alle glücklicher und besser. Die heutige Menschheit bejaht nur sich, nicht das Leben. Das Leben verneint sie und nennt das Lebensbejahung. Der Rest ist ein Chaos. Es ist nicht leicht, Ulla, das Leben wirklich so zu bejahen, daß man alles Leben bejaht. Es ist schon ein Problem, wenn man es ehrlich durchdenken und angreifen will.«

Ulla Uhlberg sah mit großen Augen zu Johannes Wanderer auf.

»Du hast viel gedacht, Johannes, ich will gerne von dir lernen. Es ist wahr, daß wir heute in lauter Schlagworten reden und daß es dadurch immer verworrener wird. Ich will auch kein fremdes Leben verneinen, wenn ich meines bejahe. Ich hoffe, es wird mir glücken.«

»Ich will dir dabei helfen, Ulla, so gut ich es kann. Nun muß ich nach Hause.«

»Wie schade! Willst du den Wagen?«

»Nein, danke, es ist nicht weit nach dem Hause der Schatten, und ich gehe gern meine einsamen Wege.«

»Das tatest du immer, Johannes. Aber ich fürchte, du grübelst zuviel.«

»Ich will das gewiß nicht tun und weiß, daß es ein Fehler wäre, aber ich mühe mich, das Leben zu begreifen, sonst kann ich nicht helfen. Das aber muß ich, und das Leben ist schwer zu verstehn.«

Ulla Uhlberg neigte den schönen Kopf.

»Das ist es. Lebe wohl, Johannes, komme bald wieder.«

»Lebe wohl, Ulla. Komme einmal zu uns, wenn du Lust hast, und sei immer du selbst, dann wirst du auch Herrin über die Geister von Irreloh.«

Ulla Uhlberg sah Johannes lange nach, bis er auf einem verwachsenen Waldweg ihr aus den Augen kam. Sie strich sich mit der Hand über die Stirne.

»Ja, ich will ich selbst sein«, dachte sie, »ist das schwer oder leicht? Das Leben ist sicher anders, als man es sich träumt. Aber wie es auch sei, ich will es bejahen, das Leben ist ja auch mein Leben!«

Sie rief den Diener und ließ ihr Reitpferd satteln, indes sie sich umkleidete. Sie hatte Lust, in die Heide hinauszureiten, und als das Pferd unter ihr tanzte und der Sommerwind ihr durch die Haare pfiff, fühlte sie wieder die ganze sieghafte, frohe Kraft der Jugend, und die Rätsel des Daseins und die Geister von Irreloh blieben weit hinter ihr zurück. Sie ritt schnell und hielt erst an, als sie das Haus der Schatten aus der Ferne sehen konnte.

Drei Birken auf roter Heide standen vor ihr. Da scheute ihr Pferd und stieg. Sie hatte Mühe, es zu beruhigen, und klopfte dem Tiere den Hals.

»Du weißt doch nicht, was hier einmal geschehen ist?« sagte sie, »oder könnt ihr mehr sehen als wir, Hassan?«

Gab es denn überall Schatten auf den Wegen?

»Los, Hassan!« rief sie und jagte im Galopp die Straße wieder zurück, die Augen weit in die Ferne gerichtet. Dort wartet das Leben, das Glück, im Grenzenlosen – noch war sie jung, war schön und reich und trug einen Namen auf den Lippen und im Herzen! Hassan lief, daß die Funken unter seinen Hufen aufsprangen.

Am Straßengraben saß Aron Mendel mit seiner Bürde. Ulla Uhlberg ritt vorüber und sah ihn nicht.

Ach, Ulla Uhlberg, wie viele jagen auf jungem Roß wie du und schaun mit trunkenen Augen der Sehnsucht in die Ferne hinaus! Ins Leben reiten sie, ins Leben! Ach, Ulla Uhlberg, so manche Ferne ist leer, und ihr reitet am Leben vorbei – das Leben sitzt still und ergeben am Straßenrand und schleppt seine mühsamen Lasten.

*

Veronika hatte Magister Mützchen den ganzen Nachmittag vermißt. Auch Mutzeputz wußte es nicht zu sagen, wo Mützchen geblieben war. Nun hüpfte er plötzlich ins Kinderzimmer und sprang Veronika auf den Schoß.

»Ich habe einen Ausflug gemacht«, sagte er heiter, »ich bin in die Tasche von Onkel Johannes gekrochen und bin mit ihm zusammen in Irreloh gewesen. Ich bin sonst an das Haus der Schatten gebunden, mußt du wissen, und ich benötige irgendwo einen Anschluß, wenn ich einmal ausgehen will. Man möchte doch auch etwas anderes sehen und sich zerstreuen.«

»Ich werde dich nächstens in meinem Beutel herumtragen«, meinte Veronika, »zum Beispiel am Sonntag in die Kirche von Halmar. Ist es nicht sehr dunkel in der Tasche von Onkel Johannes?«

»Das tut nichts«, sagte Magister Mützchen, »es ist dort immer noch behaglicher als in Irreloh. Das ist kein gutes Gebäude, Veronika, und solche Leute wie ich könnten da nicht gedeihen. Im Hause der Schatten ist es weit lichter und besser zu leben, trotz all seiner Schwellen und Stufen, und auch das Bilderbuch der grauen Frau, obwohl es ja gar nicht nett ist, scheint mir immer noch angenehmer, als die roten Gesellen von Irreloh.«

»Wer ist denn das«, fragte Veronika, »das klingt so unheimlich.« »Huh«, sagte Magister Mützchen, »es ist eine eklige Gesellschaft, sie hocken im alten Turm und hüten ein Feuer, das sie einmal anfachen wollen, wenn der rechte Sturm und die rechte Stunde von der See herüberkommt. Wer weiß, wann das sein wird? Ich möchte es nicht erleben.«

»Sind das Gespenster?« fragte Veronika, und es gruselte sie ein wenig.

»Das sind sie nicht«, meinte Magister Mützchen, »es ist schlimmer als das, denn man kann nicht mit ihnen reden. Es sind Reste von falschen Feuern, die sich zu Gebilden gestaltet haben. Es ist etwas Ähnliches wie das Bilderbuch der grauen Frau, nur ist es viel schrecklicher, weil es ein Eigenleben hat. Ich bin im alten Turm herumgekrochen und habe es mir genau von allen Seiten betrachtet. Drei rote Gesellen sind es, und sie sehen greulich aus. Ulla Uhlberg wird sich vor ihnen hüten müssen.«

»Ich mag Tante Ulla eigentlich nicht«, sagte Veronika zögernd.

»Warum nicht?« fragte Magister Mützchen und spitzte die Ohren, wie Zottel es tat, wenn ihm etwas nicht klar war.

»Warum?« meinte Veronika. »Das weiß ich nicht. Bloß so.«

Magister Mützchen wackelte mit den Ohren. Er konnte das wundervoll, zu Veronikas steter Freude.

»Dann war es also gar nicht nett in Irreloh?« forschte Veronika weiter. »Bevor ich im Turm war, war es sehr lustig«, sagte Magister Mützchen und grinste unartig, »ich kroch aus der Tasche von Onkel Johannes und setzte mich auf die langen Rockschöße

von Pastor Haller. Der Pastor sprach viel und schimpfte über den Aberglauben von Gespenstern und Männchen, gerade als ich auf ihm herumtanzte.«

»Sah dich denn niemand?« fragte Veronika und lachte.

»Nur Onkel Johannes«, erklärte Magister Mützchen, »und er sagte mir später, er würde mich nicht mehr mitnehmen, wenn ich so ungezogen wäre. Aber ich kann doch nichts dafür, wenn der Pastor Unsinn redet.«

»Ich nehme dich nächstens in meinem Beutel mit«, tröstete ihn Veronika.

*

Die Nacht sank über die grauen Mauern von Irreloh. Ulla Uhlberg schlief und träumte von Flammen, die sie verzehrten. Im Turm hockten die roten Gesellen von Irreloh und schürten ein flackerndes Feuer unter der Asche vergangener Zeiten. An die Fenster klopften schattenhafte, blasse Gestalten und forderten das Strandgut zurück, um das sie einst ihr Leben gelassen.

Ferne sang die See. Im Park riefen die Eulen.


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