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Es war einige Jahre später, als das Wunder der Kröte geschah. Doch es waren stille Jahre gewesen, die über das Haus der Schatten hingegangen waren, und es läßt sich nicht viel von ihnen berichten. Man könnte vielleicht schon manches vom äußeren Dasein sagen, so wie es die Menschen zu sehn pflegen im Gang ihres Alltags, aber es ist dieses ja eine Geschichte vom Leben hinter den Dingen, und wenn man es mit solchen Augen betrachtet, schaut man nur die seltenen Meilensteine, die den Seelen von unsichtbaren Händen gesetzt sind, und man liest nur ihre Zeichen und Zahlen, denn nur diese sind es, die wesentlich bleiben über die Zeit hinaus. Die Zeit ist nichts. Ein Tag kann viel sein und viele Jahre wenig. Nur wo die Wegweiser des Werdens stehn, ist etwas geschehen, was nicht vergänglich ist.
Die kleine Veronika war größer geworden, und sie hatte manches gelernt, was sie vorher nicht gewußt hatte. Sie war zwar nicht zur Schule gegangen, weil Doktor Gallus das nicht für richtig hielt und sie immer noch eine zarte Gesundheit hatte, aber ihre Mutter und Onkel Johannes hatten sie unterrichtet. Sie war sehr stolz darauf, daß sie nun einiges wußte von dem, was die Menschen Wissen nennen. Aber es ist auch wahr, daß sie dafür etwas vergessen hatte von dem, was sie früher gewußt. Die große Dämmerung, die zuerst über sie gekommen war im Garten der Geister, hatte sich weiter um sie gebreitet, und ihre Schatten verhüllten ihr manches, was ihr einstmals selbstverständliches Dasein war.
Auch die graue Frau sah Veronika nur noch selten, wenn sie durch die Zimmer im Hause der Schatten irrte und plötzlich in einer dunklen Ecke für Augenblicke auftauchte, um wieder rätselhaft zu verschwinden. Immer lächelte sie Veronika freundlich an, aber sie redete nur wenige Worte. Vielleicht auch verstand Veronika nicht mehr so deutlich wie damals ihre lautlose Sprache der Gedanken. Doch stets war sie um Veronika besorgt.
»Falle nicht, kleine Veronika«, sagte sie öfters zu ihr. »Ich bin hier auch gefallen, es sind so viele Stufen und Schwellen im Hause der Schatten.«
Veronika nickte dann und sah die graue Frau aus großen Augen an.
Nur einmal fragte sie: »Bist du noch nicht über die Schwelle gegangen, über die du gehen willst?«
Da hatte die graue Frau den Kopf geschüttelt und sehr traurig ausgesehn.
»Es muß erst hell werden in der Kirche zu Halmar«, sagte sie.
Veronika fragte sie nicht wieder. Ihr schien das bedrückend und schwer verständlich, und sie war es zufrieden, daß sie die graue Frau nur noch selten sah.
Man muß nun nicht denken, daß die kleine Veronika so geworden wäre, wie die meisten Kinder werden, wenn sie ganz ins Diesseits hineingleiten wie die Erwachsenen. Veronika war eine sehr alte Seele und hatte zu viel erfahren auf den weiten Wanderungen früherer Leben, als daß sie alles hätte vergessen können. Sie konnte auch noch, wie immer, mit Mutzeputz und mit Zottel reden, und sie ließ sich auch nach wie vor von Magister Mützchen beraten. Sie nahm Magister Mützchen nun häufig in ihrem Beutel mit, besonders des Sonntags in die Kirche zu Halmar, und sie freute sich, wenn Mützchen den spaßhaften Kopf mit den wackelnden Ohren und dem roten Hut aus der Tasche hervorstreckte. Es war dies eine erfreuliche Abwechslung, wenn ihr Pastor Haller, wie meistens, ein wenig langweilig in seiner Predigt erschien. Es war auch lustig, zu denken, daß niemand sonst Magister Mützchen bemerkte.
In anderen Fällen ärgerte sie das freilich erheblich, zum Beispiel, wenn die Mädchen von Halmar Magister Mützchen nicht ernst nehmen wollten. Veronika hatte zwar keine eigentlichen Schulfreundinnen, weil sie die Schule in Halmar nicht besuchte, sie war jedoch auf den Wunsch der Mutter mit anderen Mädchen der Stadt bekannt geworden, und daß diese von Magister Mützchen nichts wissen wollten und ihn lachend für einen Ulk von Veronika erklärten, hatte sie sehr gekränkt. So war es zu keiner weiteren Annäherung gekommen, und das um so weniger, als die Mädchen von Halmar in Mutzeputz auch nur eine Katze sahen und in Zottel einen Hund, und keine Persönlichkeiten von Rang und Würde. Es war ein Gefühl von Einsamkeit, das Veronika dabei überkommen hatte, noch nicht so schmerzhaft deutlich natürlich, denn sie lebte ja im geborgenen Heim und war gewiß nicht allein. Doch es war erste Ahnung dessen, wie einsam die Menschen werden, die hinter die Dinge schaun, und wie fern sie den anderen Leuten rücken, die nur die laute Straße des äußeren Lebens gehn.
So zog sich Veronika etwas zurück, und nur der blöde Peter blieb immer ihr treuer Spielgefährte. Auch über Peter hatten die Mädchen gelacht, und Veronika konnte ihnen das nicht verzeihen. Man mochte vielleicht begreifen, daß andere Magister Mützchen nicht sahen – er war ja so dünn und durchsichtig, weil er nichts aß –, man konnte es unter Umständen verzeihlich finden, daß Fernerstehende Mutzeputz und Zottel nicht so hoch einschätzten, wie sie es bei näherer Bekanntschaft doch wohl fraglos getan hätten. Doch daß man über Peter lachen konnte, weil er manches schwer verstand, das fand sie roh, und sie stellte sich mutig vor den blöden Kameraden der Kindheit. Gewiß, die anderen wußten mehr, aber Peter glaubte. War Glauben nicht auch eine Kraft und vielleicht die größere? Es ist wahr, die anderen Menschen verstanden es besser als Peter, was alle verstehen und was alltäglich ist, aber begriff nicht Peter alles, was sie ihm von Mutzeputz, von Zottel und Magister Mützchen erzählte oder vom Bilderbuch der grauen Frau? Tief innerlich erfaßte Veronika wieviel näher dem Sinne des Lebens der blöde Peter war, wie viel näher ihr selber, den Tieren und Blumen und einer anderen Welt, die wirklicher, größer und heller war als Halmar mit seinen engen Gassen und seinen dunklen Häusern.
Und der blöde Peter verehrte sie. War es nicht schön, verehrt zu werden? Sie verehrte ja auch jemand, zum Beispiel Mutzeputz und Onkel Johannes.
Die Vielen leben nach außen, die Wenigen leben nach innen, und so leben die Menschen sich auseinander, die sich finden und helfen sollten. Die Zeit ist wirr geworden, und die Seelen gehn aneinander vorbei. Ihr, die ihr heute atmet, denkt daran: Es ist eine Weltenwende gekommen, und die Wege scheiden sich. Sie führen steil in die Höhen des Lichts oder hinab in die Täler der Tiefe. Es ist nicht gut, wie es ist, und die Erde ist allzu dunkel geworden. So dunkel war sie vielleicht noch nie. Ihr, die ihr heute atmet, denkt an der Menschheit Jugendland und lernt es wieder suchen und finden. Durchlichtet die Häuser der Schatten, daß ihr wieder in Tempeln und hellen Hütten wohnt, wie einstmals an einem ersten Morgen. Es ist der Geist der Pfingsten, der euch ruft und den ihr vergessen habt. Pfingsten ist wieder nahegekommen – wollt ihr es nicht begreifen?
Es war auch wenige Tage vor Pfingsten, als das Wunder der Kröte geschah, von dem ich erzählen muß, weil es ein neuer Meilenstein wurde mit goldenen Lettern und Zeichen im Leben der kleinen Veronika.
Es war gegen Abend, und die Sonne neigte sich. Johannes Wanderer und Peter arbeiteten im Garten an einem Blumenbeet, und Veronika half ihnen ein wenig lässig dabei. Sie war heute nicht dazu aufgelegt, viel zu tun, es war eine sonderbare Müdigkeit in ihr. Doch diese war nur körperlich, im Geiste erschien ihr alles lebendiger als sonst, und ihr war es, als sei sie losgelöst von der Erde und als ginge sie irgendwie im Garten spazieren, während sie doch tatsächlich bei Onkel Johannes und Peter am Blumenbeet saß und die Samenkörner nachdenklich durch ihre Finger rieseln ließ. Vielleicht war es der Geist der Pfingsten, der heute alles um sie herum durchsichtiger und klarer machte und der sie wieder so seltsame Stimmen hören ließ, die ihr bekannt und vertraut klangen, als hätten sie schon einmal zu ihr geredet an einem fernen Tag. War es heute nicht wieder, als wäre der Garten ein Garten der Geister? Und wann war das zuletzt gewesen? Sie wußte es selbst nicht mehr. Doch so wie sie jetzt empfand, schien es ihr ein Aufwachen und Sicherinnern zu sein.
»Onkel Johannes«, sagte Veronika, »es redet so viel in Gedanken auf mich ein. Ich habe lange nicht solche Stimmen im Garten gehört wie heute.«
»Alles, was ist, ist ein Gedanke«, sagte Johannes Wanderer, »und alle Gedanken reden und bilden sich Gestalten im Stoff, gute und böse. Es ist um Pfingsten, Veronika, und der Geist ist stärker in allem Leben als sonst. Darum merkst du es deutlicher, was die Bäume flüstern und die Blumen in ihren Kelchen bergen. Auch die Tiere ahnen die Feiertage der Welt. Siehst du nicht auch, daß Magister Mützchens roter Hut besonders leuchtet und daß Mutzeputz und Zottel froher sind als im Alltag?«
Wahrhaftig, Magister Mützchens Hut glänzte auffallend in der Sonne. Mützchen stelzte vorsichtig und gravitätisch an einem Radieschenbeet vorbei, und es kam Veronika vor, als wenn die Radieschen über ihn lachten.
»Ärgere dich nicht, Mützchen«, rief sie ihm zu, »die Radieschen sind immer ein bißchen vorlaut und bissig.«
Magister Mützchen tat, als berühre ihn das alles gar nicht. Was gingen ihn die Radieschen an? Dazu war er viel zu großartig.
»Sieh einmal, Veronika«, meinte Johannes Wanderer, »wenn ich ein Samenkorn in die Erde stecke, so wächst es und wird immer größer, es bildet Stengel, Blätter und Knospen und eine Blüte, die wieder viele neue Samenkörner birgt. Das alles ist jetzt schon im Samenkorn enthalten, es ist der Gedanke der Blume, der sich im Stoff bildet, und so ist alles, was lebt, ein Gedanke Gottes und bleibt ein solcher Gedanke, wenn auch der Stoff in seinen einzelnen Formen zerfällt. Das Gedankenwesen allein ist wirklich in allem, und was es bildet, ist nur sein wechselnder Ausdruck. Ist dir das klar?«
»Ja«, sagte Veronika, »aber sind auch unsere Gedanken wieder wirklich und bilden auch sie Gestalten um uns herum?«
»Gewiß, Veronika, und darum ist es so wichtig, gute und richtige Gedanken zu haben. Ein jeder Mensch schafft sich seine geistige Umgebung. Bei vielen sieht sie wahrhaftig nicht schön aus, und die dunklen Kräfte, die diesen Gebilden verwandt sind, hängen sich an sie an. Ein guter Gedanke aber schützt nicht nur dich selbst und hilft deinem Wesen ins Licht zu wachsen, er ist auch sonst eine Macht, die weiter hinausreicht. Durch jeden Gedanken der Güte wird ein unguter Mensch besser, ein wildes Tier weniger reißend und eine giftige Pflanze weniger gefährlich. Es sind Aufstieg und Niedergang in allem miteinander verwoben, und die ganze Schöpfung, die in das Dunkel herabsank, strebt gemeinsam hinauf zum Licht und sehnt sich nach Erkennen und nach Erlösung. Es ist ja auch alles, was hier geschieht, und mag es äußerlich noch so greifbar sein, von einem Gedanken ausgegangen. Bald ist Pfingsten, Veronika, und es wird wieder ein Stück der Erde vergeistigt.«
Der blöde Peter hörte zu und sagte kein Wort. Er mußte alles, was er hörte, sehr langsam in sich aufnehmen und verarbeiten. Doch er pflanzte andächtig ein Samenkorn neben das andere.
Mutzeputz und Zottel spielten auf einem Gartenweg. Dazwischen ohrfeigte Mutzeputz Zottel mit einer Samtpfote.
»Bitte, seid vorsichtig«, sagte Veronika zu ihnen, »mir ist es so, als könnten hier in der Nähe die Käfer ihre Landhäuser haben. Ich habe das, glaube ich, einmal gesehen.«
»Natürlich sahst du das«, meinte Mutzeputz und sprang mit einem Satz über Zottels Rücken hinweg, »aber es ist wahrhaftig nicht der Rede wert gewesen. Doch wir wollen einige Rücksicht nehmen, weil du es gerne haben willst und weil es gerade Pfingsten ist.«
»Weißt du das auch?« fragte Veronika.
»Was weiß ich nicht?« meinte Mutzeputz großartig.
»Ja, das ist wahr«, sagte Veronika voller Bewunderung.
Ein Igel raschelte im Gebüsch, man sah nur schnell etwas Stacheliges verschwinden. Zottel setzte ihm nach, doch Veronika rief ihn zurück.
»Es ist brav von dir, Veronika«, sagte die Igelstimme, »daß du Zottel gerufen hast. Wir können es nicht leiden, in so gewöhnlicher Weise angebellt zu werden. Ich will es dir auch nicht nachtragen, daß du einmal meine Kinder Kugeln genannt hast.«
Veronika dachte nach. Wann war das nur gewesen? Wann hatte sie das gesagt? Es war ihr, als ob ein Schleier langsam durchsichtiger würde und unklar durch ihn hindurch ein Bild sich forme, das sie einmal geschaut.
»Ich habe mich früher sehr abfällig über Mutzeputz geäußert«, rief eine Amsel vom Baum der kleinen Veronika zu, »wir sind darüber beinahe auseinander gekommen. Ich will nicht sagen, daß ich meine Ansichten ganz zurücknehmen kann, aber ich muß doch anerkennen, daß Mutzeputz das Asylrecht gewahrt hat, wenn du uns im Winter an deinem Fenster gefüttert hast. Wir danken auch verbindlich für die Beköstigung. Es war gut und reichlich, und ich habe dich weiterempfohlen. Einige Körner erschienen mir dazwischen etwas hart. Es mag dies jedoch an der Ernte gelegen haben. Ich will nicht behaupten, daß es die Schuld deiner Speiseanstalt war.«
»Was für sonderbare Dinge man heute hört«, dachte Veronika, »und alles scheint so viel friedlicher und versöhnlicher gestimmt. Ist das auch etwas vom Geist der Pfingsten, der in der Natur redet?«
Veronika sann darüber nach.
»Onkel Johannes«, meinte sie, »es scheint wirklich so, daß alle es fühlen, als ob ein Feiertag nahe ist.«
»Es ist die Ahnung davon, daß einmal die ganze Welt Frieden und Feiertag haben soll«, sagte Johannes Wanderer, »dafür leben und schaffen wir, Veronika.«
Jetzt sah Veronika, wie sich Magister Mützchen mit einem bunten Schmetterling unterhielt. Der Falter wippte mit den Flügeln, und Magister Mützchen wackelte mit den Ohren und machte immer wieder seltsame Verbeugungen. Wie komisch das aussah! Aber nein, es war doch kein Schmetterling, es war eine feine, durchlichtete Gestalt mit Falterschwingen. Hatte sie diesen kleinen Luftgeist nicht schon einmal gesehn? Wahrhaftig, er nickte ihr zu. Und nun flog er auf, die farbigen Flügel in den blauen Äther gebreitet.
Über allem lag eine große, durchsonnte Stille. Nur ferne standen schwarze Wolken, und Wetterleuchten blitzte in ihnen auf.
Es war Friede. Aber der Kampf lauerte in ihm.
Eine rauhe Stimme schreckte Veronika auf.
»Warte du scheußliches Tier, ich werde dich totschlagen!«
Veronika fuhr herum. Auch Johannes Wanderer und Peter sahen eilig von ihrer Arbeit auf. Nahe von ihnen stand der Gartenknecht Eriksen aus Halmar und hatte drohend seine Hacke erhoben. Veronika stürzte auf ihn zu. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um eine große Kröte, die mühsam über den Boden kroch, vor Eriksens Schlag zu bewahren. Veronika stieg das Blut ins Gesicht.
»Laß die Kröte in Ruh!« rief sie wütend.
»Das geht dich nichts an«, sagte Eriksen ärgerlich, aber er ließ die Hacke sinken.
Er konnte auch nicht zuschlagen. Veronika stand vor der Kröte und schützte sie.
Nun kamen auch Johannes Wanderer und Peter hinzu.
»Lassen Sie die Kröte laufen, Eriksen«, sagte Johannes Wanderer ruhig, »Veronika hat recht. Die Kröte tut niemand etwas.«
»Sie ist ekelhaft, und ich habe heute sowieso eine Wut auf alles.«
Man merkte es Eriksen an, daß er getrunken hatte.
»Die Kröte ist nicht ekelhaft«, sagte Johannes Wanderer, »ihre Augen sind sogar sehr schön. Wir werden es jedenfalls nicht dulden, daß Sie der Kröte etwas tun.«
Die Kröte kroch nicht mehr weiter. Sie blieb am Boden sitzen und atmete hastig. War sie erschöpft vom Schreck oder ahnte sie, daß sie geborgen war? Vielleicht war es beides.
»Ich kann das Ungeziefer totschlagen, wenn ich will!« schrie Eriksen erregt.
»Sie haben Ihre Gartenarbeit zu tun, sonst nichts«, meinte Johannes Wanderer, »zum Totschlagen von Tieren nehmen wir niemand in unseren Garten.«
»Dann kann ich also gehn?«
»Wie Sie wollen«, sagte Johannes Wanderer, »aber es wäre mir lieber, wenn Sie einsehn wollten, daß Sie unrecht haben. Die Kröte ist auch ein Geschöpf wie wir alle. Sie will auch leben.«
Veronika war zurückgetreten, und beide Männer standen sich dicht gegenüber. Es war etwas Drohendes in ihrer Haltung.
»Schau gut hin, Veronika«, sagte eine leise, feine Stimme aus dem Baum hervor, »du wolltest ja einmal die großen Gestalten sehen, die hinter den Erdmännchen stehen, wenn sie sich zanken. Du hast Leben geschützt, Veronika, und nun hast du etwas von den Augen der Tiefe bekommen. Schau hin, Veronika, das ist der Kampfplatz von Licht und Dunkel, es geht um mehr, als um eine arme, geängstigte Kröte, es geht um die Erlösung der Welt, um Schneewittchens Erwachen im gläsernen Sarge.«
Wahrhaftig, das war die Elfe im Baum, und nun schaute Veronika hin. Was sie sah, war groß und war grauenvoll zugleich. Auch Magister Mützchen, Mutzeputz und Zottel sahen offenbar dasselbe, denn Mützchens dünne Beine zitterten, Mutzeputz fauchte und Zottels Fell sträubte sich.
Johannes Wanderer und Eriksen redeten kein Wort. Doch es war ein erbitterter Kampf zwischen ihnen. Veronika sah es deutlich. Es waren die Augen der Tiefe, mit denen sie es schaute. Beide Männer führten Waffen, aber sie waren nicht körperlich. Eriksen hatte einen plumpen Streitkolben in der Hand und Johannes ein Schwert, und er war von Kopf bis zu Fuß in eine silberne Rüstung geschlossen. Auf seinem Helm war ein Kreuz. Das hatte Veronika noch niemals an ihm gesehen. Und beide waren sie nicht allein. Hinter Eriksen standen viele dunkle, schreckliche Gestalten, die ähnlich bewaffnet waren wie er und die ihn vorwärts drängten. Zur Seite von Johannes aber standen lauter silbergepanzerte Ritter mit gezogenem Schwert. Ihnen folgten andere, die noch weit glanzvollere Rüstungen trugen. Zwischen beiden Heerlagern hockte angstvoll und hilflos die Kröte.
Die schwarzen Wolken der Ferne waren näher gekommen, ein grellblauer Blitz flammte auf, und der Donner grollte drohend.
Veronika erschauerte. Sie hatte etwas vom großen Kampf der Geister in dieser und jener Welt begriffen.
Jetzt trat Johannes Wanderer einen Schritt vor, und Eriksen und die dunklen Gestalten wichen zurück.
Langsam löste sich das Bild auf.
»Warum soll ich andere leben lassen?« sagte Eriksen verbissen, »mein Kind ist krank, und Gott hilft ihm auch nicht.«
»Ich wußte das nicht«, erwiderte Johannes Wanderer, und es war, als drängte er ihn langsam Schritt um Schritt von den dunklen Gestalten hinweg. »Es tut mir sehr leid, daß Ihr Kind krank ist, ich will kommen und nach ihm sehn. Aber glauben Sie, Gott wird ihm eher helfen, wenn Sie Leben vernichten, statt es zu achten?«
Eriksen besann sich lange.
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte er, legte die Hacke hin und ging zum Garten hinaus.
Die anderen schwiegen und machten sich wieder an ihre Arbeit. Die schwarzen Wolken verzogen sich, und nur in weiter Ferne grollte der Donner. Der Abend sank herab, und die Sonne ging glutvoll und leuchtend unter.
Veronika stand lange wortlos da und staunte mit großen Augen ins Licht.
»Onkel Johannes«, sagte sie leise, »mir ist, als ob ich in den roten Wolken eine Burg sehe, mit hohen Türmen und Zinnen.«
Da legte Johannes Wanderer sein Arbeitsgerät beiseite.
»Du siehst das heute zum ersten Male, weil du Leben geschützt hast«, sagte er feierlich. »Behalte das Bild von dieser Burg in deiner Seele, Veronika. Das, was du siehst, ist Montsalvat.«
Veronika faltete unwillkürlich die Hände.
»Ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört«, sagte sie ergriffen.
»Du hast ihn gehört und wirst ihn wieder hören, Veronika.«
Mutzeputz und Zottel saßen reglos. Magister Mützchen hatte den spitzen roten Hut abgenommen, was er sehr selten tat, und der blöde Peter starrte andächtig und hilflos in den Glanz.
»Kannst du es auch sehen, Peter?« flüsterte Veronika.
Der arme Blöde schüttelte traurig den Kopf.
»Ich sehe nichts, aber ich glaube es«, sagte er ergeben, doch es war dieses Mal viel innerer Jammer in seiner Stimme.
Johannes Wanderer neigte sich tief zu ihm hinab.
»Du mußt nicht traurig sein, Peter«, sagte er, »wenn du es nicht sehn kannst. Du glaubst es ja und du mußt denken, Gott läßt dich darum so vieles noch nicht sehen, weil er eine besondere Freude hat an deinem großen Glauben.«
Da ging ein Lächeln über das Gesicht des Blöden, und es war ein unendlicher Friede in ihm.
Noch eine Weile schauten sie in den Glanz der Sonne. Dann sammelten sie still ihr Arbeitsgerät und gingen dem Haus der Schatten zu.
»Onkel Johannes«, sagte Veronika, »ich habe heute gesehn, daß du eine silberne Rüstung trugst, und hinter dir waren noch viele andere. Kommen die alle von Montsalvat?«
»Ja, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, »es ist ein schwerer Kampf auf dieser Erde, bis sie einmal durchlichtet und durchsonnt ist.«
»Die silberne Rüstung ist schön«, meinte Veronika.
»Und doch sind es nur bescheidene Streiter, die sie tragen«, sagte Johannes Wanderer, »es stehen viel größere Ritter hinter ihnen, aber diese steigen nur selten zu einer irdischen Wanderung hinab. Wir hier sind irrende Menschen, und wir tragen die Rüstung auch nur, wenn wir den Schild halten über denen, die wehrlos sind. Es ist dies etwas von der Sendung des Grals.«
»Ich möchte auch solch eine silberne Rüstung tragen«, sagte Veronika.
»Es ist wohl darum, damit du dieses wünscht, daß Gott dich wieder auf die Erde geschickt hat«, sagte Johannes Wanderer.
Die Sonne sank. Von ferne läuteten die Glocken von Halmar Feierabend.
Pfingsten war nahe herangekommen.
Am anderen Morgen ging Johannes Wanderer nach Halmar hinaus, um Eriksen zu besuchen und nach seinem kranken Kinde zu sehn. Eriksen kam ihm schon an der Türe entgegen.
»Ich möchte Sie wegen gestern um Verzeihung bitten, Herr Johannes«, sagte er etwas mühsam, »ich hatte auch unrecht, aber mir war es, als ob jemand hinter mir stünde, der stärker war als ich. Der Mensch ist schwach, Herr Johannes, man weiß oft nicht, was man tut oder redet.«
»Gewiß, Eriksen, das verstehe ich. Es freut mich auch sehr, daß Sie heute anders denken. Wir wollen das nun vergessen. Ich komme auch nur, um nach Ihrem kranken Kinde zu sehn.«
»Mein Kind ist gesund«, sagte Eriksen.
Er war sehr blaß, und seine Stimme zitterte merklich.
»Es ist so gewesen, Herr Johannes«, erklärte er weiter, »daß es in der Nacht ganz plötzlich besser geworden ist. Das Fieber hörte auf, und als das Kind erwachte, erzählte es mir – Herr Johannes, man muß es schon glauben, wenn das Kind es selber gesagt hat –, es hat geträumt, eine große Kröte sei zu ihm gekommen und habe es ganz gesund gemacht. Das Kind lachte und freute sich, aber ich habe nicht lachen können, Herr Johannes. Es hat mich etwas in der Kehle gewürgt, als ich das hörte. Es ist ein Wunder, Herr Johannes, und ich habe das nicht verdient.«
»Es gibt viel Geheimnisvolles im Geschehen, Eriksen, wollen wir dankbar dafür sein, auch ohne alles zu begreifen.«
»Ich bin, weiß Gott, dankbar«, sagte Eriksen, »aber glauben Sie wirklich, daß diese Kröte mein Kind geheilt hat? Solch ein armes, schwaches Geschöpf, und doch muß es irgendwie seine Richtigkeit damit haben.«
»Sie müssen sich denken, daß alle Kröten von einem gemeinsamen Geist belebt sind, und daß dieser Geist stark sein muß, können Sie sich wohl vorstellen. Er steht der einzelnen Kröte so nahe, als er selber Gott nahe ist, denn Gott ist in ihm und in der angstvollen Kröte von gestern.«
»Wir sind schwache und unwissende Menschen, Herr Johannes, aber so schlecht sind wir nicht, daß wir nicht an Gott und an Wunder glaubten. Dies ist ein Wunder. Gott sei es gedankt, daß ich es erlebt habe. Das Leben ist hart und schwer – was wäre es, wenn keine Wunder geschehen würden? Ich will auch allen Leuten in Halmar vom Wunder der Kröte erzählen. Ich weiß es, daß sie mir glauben werden, denn die Menschen in Halmar wissen wenig, aber sie glauben viel. Nur Pastor Haller glaubt nicht an Wunder. Er sagt, das wären bloß so Geschichten, und die Hauptsache sei, daß wir Christus nachleben. Aber wir wollen an Wunder glauben, Herr Johannes, für uns sind all die modernen Sachen nichts. Mit ihnen können wir nicht durchs Leben kommen. Wir wollen es auch schon lange dem Pastor sagen, daß wir sein neues Zeug nicht in Halmar brauchen können. Ja, gewiß, gerade jetzt werden wir ihm das sagen, und ich zuerst, der ich das Wunder der Kröte erlebt habe.«
Eriksen hatte sich in Eifer gesprochen, und es war schon richtig, daß die Stimme von Halmar aus ihm redete. Johannes Wanderer wußte das gut.
»Sie haben ja recht, Eriksen«, sagte er freundlich, »aber wollen Sie nicht ein wenig geduldiger sein und warten, bis der Pastor von Halmar selber ein Wunder erlebt? Ich kann mir denken, daß es so besser und friedlicher wäre.«
»Ich will sehen, was er zu dem Wunder der Kröte sagt«, meinte Eriksen hartnäckig.
Johannes Wanderer ging, und Eriksen erzählte allen Leuten in Halmar vom Wunder der Kröte. Die Menschen glaubten ihm, und seit diesem Tage hatten die Tiere in Halmar es besser als zuvor.
So wirkte das Wunder der Kröte weiter, wie ein jeder Gedanke der Güte.
Johannes Wanderer hatte Veronika vom Wunder der Kröte berichtet, ruhig und mit sehr einfachen Worten. Veronika fand es ohne weiteres verständlich. Sie selber hatte auch sehr Seltsames in der gleichen Nacht erlebt. Sie hatte lange nicht schlafen können und schaute mit innerlich wachen Augen ins Weite. Draußen war das Gewitter wieder herangezogen, der Donner rollte, und blaue Blitze flammten in den dunklen, drohenden Wolken auf. Da sah Veronika, wie die Pfingstsonne durch die kämpfende Finsternis hindurchschien und eine goldene Märchenkrone auf den Kopf der Kröte malte.
Noch mehr als das schaute Veronika. Sie sah, wie Schneewittchen im gläsernen Sarge die Augen aufschlug und lächelte – und sie hörte in Sturm und Donner das Klirren von Waffen. Dort standen die Streiter von Montsalvat. Und Veronika war es, als habe der Gral auch sie zu seiner Fahne gerufen.