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Meine alte Tante Nanna Lagerlöf, die mit dem Propst in Karlskoga, Tullius Hammargren verheiratet war, war keine Bewundererin von Gösta Berling. »Das Leben war damals gar nicht so,« sagte sie zu mir, kurz nachdem das Buch erschienen war. »Weder Männer noch Frauen sind richtig gezeichnet.« Sie schien beinahe geneigt, zu glauben, daß das Buch Schmach über die alten Värmländer und ihr Land bringen würde.
Das war ein hartes Urteil, und ich muß gestehen, daß ich nicht erwartet hatte, es von dieser Seite zu hören. Die Propstin von Karlskoga war selbst eine begeisterte Erzählerin der alten Värmländer Historien, und ich weiß, daß nicht nur einige ihrer besten Mären, sondern vor allem viel von ihrer besonderen Anschauung der Menschen früherer Zeiten in meinem Buch wieder auflebte.
Da sie nichts Gutes über das Buch zu sagen hatte, vermied sie es zumeist darüber zu sprechen, wenn ich auf meinem gewöhnlichen Sommerbesuch im Pfarrhof weilte. Einmal kam es ihr jedoch in den Sinn zu fragen, wen ich mir als Vorbild für Gösta Berling gedacht hatte.
Ich antwortete ihr, mein Held sei ein Pfarrerssohn aus Sunne, von dem ich meinen Vater erzählen gehört. Der war so, daß Freude bei jedem Gastmahl herrschte, sowie er sich nur zeigte, und das allererbärmlichste Klavier klang stark und voll, sowie er nur die Tasten berührte.
Die alte Propstin wußte sofort, wen ich meinte.
»Ach so, Kalle Frykstedt,« sagte sie. »Ich habe mich eben gefragt, ob du nicht an ihn gedacht hast.«
Ich wagte nicht zu fragen, ob er recht geschildert war. Vielmehr bat ich meine Tante, mir zu sagen, ob sie in ihrer Jugend viel mit ihm zusammengewesen sei. Ihr Kindheitsheim in Marbacka lag ja nur eine Meile vom Pfarrhof Sunne entfernt, und meine Tante hatte dort viele große Gesellschaften mitgemacht.
Nein, in seinem Elternhause hatte sie ihn nicht gesehen. Er war ja um vieles älter gewesen als sie. Aber nach ihrer Verheiratung hatte sie ihn ein paarmal in Karlstad getroffen.
»Da war er vielleicht schon herabgekommen?« fiel ich ein.
»Kalle Frykstedt!« rief die Propstin mit scharfer Betonung. Und sie sah mich erstaunt an, als könnte sie gar nicht verstehen, was ich meinte.
Es verhielt sich mit meiner Tante so, daß sie mit einem eigenen Zauberkreis um sich durch die Welt gegangen war. Schön, gewinnend und reich begabt, wie sie es gewesen und noch immer war, hatten alle, die sie getroffen, sich ihr von der besten Seite zeigen wollen, und zum Dank dafür blieb sie ihnen treu und sah sie für allezeit edel, gut und geistvoll vor sich. Sie war durchaus kein unerfahrenes Kind, sie wußte, wie niedrig und töricht die Menschen sich gewöhnlich betragen, aber sie hielt diese Erkenntnis stolz von sich ab, und dasselbe verlangte sie von allen, die in ihre Nähe kamen.
Eine Weile saß sie stumm da, und das Strickzeug ruhte in ihrem Schoß. Aber bald sah sie mit einem feinen Lächeln auf. »Warte, jetzt sollst du hören, wie Kalle Frykstedt war,« sagte sie, und ich begriff, daß sie mir nun zeigen wollte, wie falsch ich meine Värmländer geschildert hatte.
»Es war zu der Zeit, als ich neuvermählt war,« begann sie, und nun wußte ich, daß ich etwas richtig Schönes zu hören bekommen würde. Meine Tante hatte keine reizenderen Geschichten als die, die in der Zeit spielten, wo ihr Mann als junger Magister in der Knabenschule in Åmål angestellt war und sie so verwunderlich wenig zum Leben hatten. Nie vergesse ich eine Geschichte von einer Packkiste, die ihr erstes Salonsofa wurde. Sie konnte so schön und drollig von dieser Packkiste erzählen, daß ich seither nie eine große Holzkiste sehen konnte, ohne daß mich Lachen und Weinen zugleich ankam.
Nun erzählte sie, wie ihr Mann, als sie ein Jahr verheiratet waren, den Entschluß faßte, das Pastorexamen abzulegen. Den Magistergrad hatte er schon in Upsala erworben, aber es war zu jener Zeit gebräuchlich, daß die Schullehrer auch Geistliche waren.
»Mußte er da wieder nach Upsala zurückfahren?« fragte ich.
»Nein, nur nach Karlstad,« erklärte meine Tante. »Man konnte das Pastorexamen vor dem Domkapitel in Karlstad ablegen.«
Tante Nanna und ihr Mann verließen also ihr kleines Heim in Åmål und zogen nach Karlstad, wo sie blieben, so lange die Studien für das Pastorexamen dauerten. Und die ganze Zeit über mußten sie von geborgtem Gelde leben. »Nein, daß ihr euch in ein solches Abenteuer gewagt habt!« sagte ich. – »Es mußte sein,« sagte meine Tante, und man hörte es ihr an der Stimme an, wie ängstlich sie gewesen war, als sie dieses kühne Unternehmen begonnen.
»Aber nun wollte ich ja nicht von uns sprechen,« fuhr sie fort, »sondern von Kalle Frykstedt. Er war auch unter denen, die das Pastorexamen machen sollten, und er wohnte auch in Karlstad und studierte da, so wie Hammargren. Die letzten Jahre war er als Hofmeister von einem Ort zum anderen herumgezogen, aber nun hatten ihn ein paar Freunde überredet, dieses Examen zu machen, damit er doch einmal einen anständigen Lebensunterhalt hatte.«
»Und als du ihn trafst, Tante, da warst du wohl ganz entzückt von ihm, wie alle anderen?« – »Anfangs hatte ich eigentlich eher Angst vor ihm, denn er war fast nie nüchtern.« – »Ah!« sagte ich und war ganz betroffen. »Aber ich glaubte doch . . .« – »Du fragtest, ob er herabgekommen war,« sagte meine Tante. »Aber er hatte so große Kenntnisse und so viel Geist, daß die Herren des Domkapitels förmlich Angst vor ihm hatten, als sie ihn prüfen sollten. Aber getrunken, das hat er ja. Hammargren und die andern pflegten ihm am Abend vor einem Kolloquium die Schuhe wegzunehmen, denn sonst konnten sie sicher sein, daß er die ganze Nacht im Wirtshaus saß und am nächsten Morgen nicht auf den Füßen stehen konnte.«
Als ich dies hörte, schien es mir doch, daß es besser zu meiner Schilderung der Gösta Berling-Gestalt paßte, als ich erwartet hatte, aber ich hütete mich wohl, eine derartige Bemerkung zu machen.
»Kam es denn überhaupt dazu, daß er sein Examen machte?« fragte ich.
»Doch, er machte es zugleich mit Hammargren, und zwar mit bestem Erfolg. Obwohl ich sagen muß, es wäre mir lieber gewesen, wenn er es nicht bestanden hätte,« fügte sie hinzu.
Es ging mir durch den Sinn, daß meine Tante gemerkt hatte, daß Kalle Frykstedt nicht für den priesterlichen Beruf paßte, aber das hätte sie nie zugegeben. Es durfte nichts Tadelnswertes an den Gebräuchen und Einrichtungen der alten Zeit geben, und sie tat so, als sei es ganz in Ordnung, daß Kalle Frykstedt die Priesterweihe erhielt und eine Gemeinde in seine Hut gegeben wurde.
Nein, aus einem ganz anderen Grunde hätte sie gewünscht, daß er durchgefallen wäre. Sie und ihr Mann hielten sich für verpflichtet, am Examenstage für den Bischof, das Domkapitel und die Prüfungskameraden eine Mittagstafel zu geben. Und meine Tante wollte Kalle Frykstedt nicht bei dem Feste haben, weil sie überzeugt war, daß er sich betrinken und die ganze Gemütlichkeit stören würde; aber nun, da er sein Examen bestanden, war es unvermeidlich, ihn einzuladen.
Mit nicht sehr freudigen Gefühlen traf meine Tante ihre Vorbereitungen für diese Mittagstafel. Sie und ihr Mann hatten eine kleine Wohnung gemietet, Schlafraum und Speisezimmer im ersten Stock, während die kleine Küche und das Arbeitszimmer des Mannes im Erdgeschoß lagen. Man mußte ihr recht geben, das war kein passender Schauplatz für ein Bischofsdiner. Das Essen war nicht schwer zu beschaffen, das meiste schickte ihr ihre Mutter aus Marbacka. Aber Porzellan, Glas und Silber hatte sie nicht genug für so viele Gäste, so mußte sie sich das Fehlende bei Freunden und Bekannten ausleihen.
Die schwerste Sorge war aber doch, daß sie nicht darum herum konnte, Kalle Frykstedt zu bitten.
Die Mittagstafel fand also statt. Der Bischof kam mit dem ganzen Domkapitel, die Prüfungskameraden fanden sich ein, und auch Magister Frykstedt blieb nicht aus. Und wunderbarerweise wurde diese Mittagsgesellschaft der allergrößte gesellschaftliche Erfolg, den meine Tante je erlebt hatte.
Ich dachte daran, welch einnehmende, unterhaltende Hausfrau meine Tante noch in ihren alten Tagen sein konnte. Zu jener Zeit, als sie noch Schönheit und jugendlichen Frohsinn besaß, mußte sie ja unwiderstehlich gewesen sein. Und ich fragte ganz still, ob es nicht ihr Verdienst gewesen sei, daß das Fest so vortrefflich gelungen war.
Aber das verneinte sie auf das Bestimmteste. Es war nicht ihr Verdienst, sondern das Magister Frykstedts.
Erstens einmal war er so schön gewesen, mit den tiefen, melancholischen Augen und dem reichen, welligen Haar. Es war etwas Hochgestimmtes und Strahlendes um ihn gewesen. Die Freude, die er darüber empfand, daß es ihm gelungen war, eine neue Lebensbahn einzuschlagen, hatte ihn mit schönem, ernstem Enthusiasmus erfüllt.
Nie hatte sich meine Tante gedacht, daß ein Mensch einer so starken Inspiration mächtig sein könnte. Er hielt eine Rede nach der anderen, und das waren keine gewöhnlichen Tischreden, sondern sie waren voll von den tiefsten Gedanken. Alles, was er bei dieser Mittagstafel vorbrachte, war so interessant, daß alle nur ihm lauschen wollten. Er wurde der Mittelpunkt aller Gespräche, und er entführte die Anwesenden in neue unbekannte Welten. Aber obgleich man von den edlen und kühnen Ideen, die er hinwarf, tief ergriffen war, fanden doch alle, daß er selbst das größte Wunder war. Man genoß das erhebende Schauspiel, den Genius in einer Menschenseele lodern und leuchten zu sehen.
Unter den Eingeladenen befanden sich viele hervorragende Persönlichkeiten. Bischof Agardh war selbst ein hoher Geist, der Hausherr, sowie mehrere der Gäste waren begabte, gelehrte Männer. Sie wurden von Kalle Frykstedt mitgerissen, sie erhoben sich alle über ihre grauen Alltagsgedanken und taten beredte, tiefsinnige Aussprüche. Aber keiner war doch wie er.
Solange Magister Frykstedt am Mittagstisch saß, berührte er kaum den Wein, und überhaupt wurde an dieser Tafel Speise und Trank nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber die Eingeladenen blieben doch Stunde um Stunde bei Tische sitzen. Endlich erhob sich der Bischof und nahm Abschied, indem er den jungen Gastgebern für das angenehmste Festmahl dankte, das er noch in seiner Bischofstadt miterlebt hatte. Zugleich mit dem Bischof entfernten sich mehrere der älteren Herren, und auch die Hausfrau zog sich zurück.
Aber einige von den Gästen konnten sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Sie trugen Flaschen und Gläser in das Arbeitszimmer im Erdgeschoß, und da setzten sie das Fest bis zum lichten Tage fort.
Magister Frykstedt hielt die ganze Zeit herrliche Reden, aber nun begann er auch zu trinken. Gegen Morgen stand er, an den Tisch gelehnt, auf dem die Trinkwaren standen, und redete. Ganz plötzlich schwankte er, fiel zu Boden und riß das Tischtuch und alles, was an Flaschen und Gläsern darauf stand im Fall mit.
Als meine Tante am nächsten Morgen erwachte, hatte sie noch kaum recht an den gestrigen Tag zurückdenken und sich daran freuen können, daß alles so gut gegangen war, als sie auch schon erfuhr, daß eine Anzahl Gläser und Karaffen zerschlagen waren. Man kann sich ihre Bestürzung und Kränkung denken. Es wäre schon unangenehm gewesen, wenn das Zerstörte ihr gehört hätte, aber nun war ja fast alles geborgt. Unter dem Zerschlagenen befanden sich kostbare alte Erbstücke, die zu ersetzen nicht im Bereich der Möglichkeit lag. Meine Tante weinte, wenn sie an all die Ausgaben dachte, denen sie sich unterziehen mußten, um den Schaden gutzumachen, all die Entschuldigungen, die sie vorbringen mußte, und all den Ärger den sie ihren Freunden bereitete, weil sie ihr Eigentum nicht besser in acht genommen.
Im Laufe des Vormittags kam Magister Frykstedt zu Besuch. Meine Tante wischte sich die Tränen aus den Augen und empfing ihn ganz wie immer. Er war jetzt nüchtern und ruhig, dankte für den angenehmen Abend und blieb dann noch ein Weilchen sitzen und plauderte über alltägliche Dinge. Aber es war eine gewisse Unruhe über ihm. Er sah meine Tante forschend an. Er schien auf irgendeinen Ausbruch des Zorns oder der Bitterkeit zu warten. Endlich machte er einen Versuch, sich zu entschuldigen.
»Ich entsinne mich nicht recht . . .« sagte er und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Es schwebt mir etwas dunkel vor . . . ich werde mich doch hoffentlich gestern nicht schlecht benommen haben?«
»Nein,« sagte meine Tante, und ich kann mir vorstellen, wie sie ihn dabei mit ihrem bezauberndsten Lächeln ansah, »Sie haben sich gewiß nicht schlecht benommen, Magister Frykstedt. Sie waren derjenige, der uns alle unterhalten – ja, das ist viel zu wenig gesagt – uns alle hingerissen hat.«
Er sah sie staunend an. Ihre Antwort hatte ihn nicht ganz beruhigt. »Ich möchte um Entschuldigung bitten, wenn vielleicht doch irgend etwas . . .«
»Sie haben sich durchaus nicht zu entschuldigen, Herr Magister,« sagte meine Tante mit entschiedener Stimme.
Ich begriff so gut, warum sie so geantwortet hatte. Der Mann, der vor ihr stand, hatte ihr Verdruß und große Kosten verursacht, aber sie hatte ihn als einen hochfliegenden Genius kennen gelernt, und sie konnte es nicht über sich bringen, zu gestehen, daß sie um seine Erniedrigung wußte.
»Ach, was bin ich froh,« hatte der Arme da gerufen. »Ach, was bin ich froh!« Er hatte die Hand meiner Tante geküßt wie ein Bettler, der ein Gnadengeschenk bekommen hat. Dann hatte er sich emporgerichtet und war strahlend und geistsprühend gewesen wie am vorhergehenden Tage.
Auch ich küßte meiner Tante die Hand, und es wurde mir schwer, die Tränen zurückzudrängen. Sie hatte immer etwas an sich, das zugleich bezaubernd und rührend war. Es ruhte Poesie über ihrem ganzen Wesen. Die Poesie der Menschen der alten Zeit.
Ich verstand wohl, was sie mich hatte lehren wollen, aber während ich mir der Lektion bewußt war, stieg ein großer Jubel in mir auf.
»Frauen vergangener Zeiten und Männer vergangener Zeiten,« dachte ich, »ihr mögt es selbst leugnen, ihr wart doch so, wie ich euch vor mir gesehen, in einem langen Traum.«