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Die Tür des Zimmers, wo sie sitzt und ihr krankes Kind pflegt, wird aufgerissen, und eine Stimme, die ganz heiser ist vor Schrecken über das Entsetzliche, das sie mitzuteilen hat, ruft zu ihr herein:
»Dein Mann ist wahnsinnig geworden. Er hat sich vor die Kanone geworfen. Er ist totgeschossen!«
Damit schlägt die Tür wieder zu, und der die grausige Neuigkeit gebracht hat, eilt fort. Er will vielleicht nicht bleiben, um die Verzweiflung der Frau nicht mit ansehen zu müssen. Oder auch ihn lockt ein Schauspiel, das anderswo vorgeht, so sehr, daß er sich gerade nur die Zeit genommen hat, mit dieser Nachricht herbeizueilen, und es jetzt nicht erwarten kann, wieder zurückzukommen.
Die Frau zögert keinen Augenblick, ihm zu folgen. Sie ruft dem Kinde zu, sich still zu verhalten, bis sie wieder da ist, und eilt auf die Straße, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, die Tür zu schließen. Sie weiß ganz genau, wohin sie sich zu begeben hat: zu dem großen offenen Platze nächst der Kaserne, wo die Parade stattfinden soll.
Noch gestern abend ging sie da mit ihrem Mann spazieren. Er hatte ihr die Anordnungen gezeigt.
»Siehst du, dort,« hatte er gesagt, »– dort ist die Präsidententribüne, Dort soll Monsieur Carnot morgen sitzen, an seiner Seite unser Bürgermeister und rings herum die Minister und Präfekten und Generale. Und hier gerade gegenüber ist die Tribüne für die Bürger. Hier werden die feinen Familien sitzen, aber dort unten werden sich wohl alle die drängen, die keine Billette bezahlen können. Wenn du abkommen kannst, mußt du dich auch dort aufstellen. Da kannst du das ganze Manöver sehen und die Reden hören. Da kannst du auch mich sehen,« hatte er scherzhaft hinzugefügt.
»Wo wirst du dich denn aufhalten?« hatte sie gefragt.
»Wo sollte ich sonst sein als bei meiner lieben Kanone? Siehst du sie nicht? Sie ist gerade unter der Präsidententribüne aufgestellt. Sie soll abgefeuert werden, um unseren Truppen das Zeichen zu geben, daß die Feierlichkeit beginnt.«
»Armer Monsieur Carnot,« hatte sie da gesagt, »ihr habt eure Kanone ganz dicht vor ihm aufgestellt. Aber die Kanone dröhnt ja entsetzlich. Hast du nicht daran gedacht? Er kann ja taub davon werden.«
»Ah, was das betrifft! Er ist zwar kein Krieger, dieser Carnot, aber ein bißchen Kanonendonner muß ein Präsident von Frankreich schon vertragen lernen. Aber weißt du, was mir weniger gefällt? Ja, daß die Tribüne mit den Zuschauerplätzen gerade vor meiner Kanone aufgestellt ist. Na, wir geben ja nur blinde Schüsse ab, aber eine Kanone ist doch keine Spielerei. Ich löse nie gern den Schuß, wenn ihr Schlund einer großen Menschenmasse zugekehrt ist.«
Auf diesem Spaziergange hatte sie sich vorgenommen, auch hinzugehen und sich die ganze Herrlichkeit anzusehen; aber heute morgen hatte es sich gezeigt, daß ihr kleines Söhnchen nicht recht wohl war. Und so war sie gezwungen gewesen, daheim zu bleiben.
Und jetzt . . . was ist es, das jetzt geschehen ist? Ihr Mann, der so zufrieden, so froh, so stolz auf seine Stellung war und seine liebe Kanone! Der sollte wahnsinnig geworden sein? Sich vor die Mündung der Kanone geworfen haben? Aber das ist ja die reine Unmöglichkeit.
Sie merkt mit einem Male, daß sie schreit, während sie läuft. Sie sieht selbst, wie unheimlich sie aussehen muß, wie sie über die Gasse stürzt. Auf einmal verlangsamt sie den Schritt und fängt an zu gehen. Es ist der Gedanke an ihren Mann, der ihr ihre Selbstbeherrschung wieder gibt. Er pflegte sich so oft zu fragen, wie er sich wohl betragen würde, wenn ihm ganz plötzlich etwas Schreckliches geschähe.
»Man sollte eigentlich nicht Soldat werden dürfen, ehe man nicht irgendeine Art Probe abgelegt hat,« pflegte er zu sagen. »Sieh mich an! Ich bin nie im Kriege gewesen. Kann ich wissen, wie ich mich benehmen werde, wenn die Kugeln sausen? Vielleicht werde ich Angst bekommen. Vielleicht werde ich die Besinnung verlieren. Man kann nie wissen.«
»Gewiß nicht. Du wirst bis zuletzt auf deinem Posten ausharren,« hatte sie geantwortet.
»Wir wollen es hoffen. Aber das ist wirklich etwas, was man nie sicher wissen kann. In solchen Augenblicken ist man nicht Herr über sich selbst. Da ist es etwas anderes, das die Macht an sich reißt und einen führt. Dann kommt es darauf an, ob das, was in einem steckt, stark oder schwach ist. Bevor man die Probe nicht bestanden hat, weiß keiner, wie er handeln wird, wenn eine große Gefahr droht.«
Als sie sich an dies erinnert, richtet sie sich auf und beginnt, gefaßt weiterzugehen.
Aber es dauert nicht lange. Was liegt ihr daran, sich gefaßt zu zeigen? Ihr Mann liegt ja tot, zerschossen. Sie muß laufen, sie muß schreien, sie kann nicht anders.
Der Festplatz ist übrigens nicht weit entfernt. In ein paar Augenblicken ist sie da. Sie sieht die beiden Tribünen. Sie sind voll Menschen, die oben auf den Bänken stehen und schreien und gestikulieren. Es ist also etwas geschehen. Es war kein boshafter Spaßmacher, der sie hergenarrt hat.
Sie bleibt nicht stehen, um zu fragen, wo ihr Mann sich befinden mag. Das ist nicht nötig. Sie hat schon die Richtschnur für ihre Wanderung. Sie braucht nur die Kanone aufzusuchen.
Sie sieht sich auf demselben Platze stehen wie am vorhergehenden Abend. Das Feld davor ist leer oder nahezu leer. Mitten auf dem offenen Platze steht eine Schar Menschen, die ganz still sind, die nicht schreien oder erschrockene Gebärden machen wie die anderen.
Sie wird von einem Kordon aufgehalten, aber der Polizist, der da Wache steht, erkennt sie und läßt sie durch.
»Gehen Sie dorthin, da finden Sie ihn!« sagt er und weist auf eine kleine Gruppe mitten auf dem Felde.
Sie nähert sich, noch immer laute Schreie ausstoßend. Als sie nur ein paar Schritte entfernt ist, wird einer in dieser auf sie aufmerksam. Ein hoher Offizier, der sich kniend über etwas Regungsloses, Unförmiges, das auf dem Boden liegt, gebeugt hat, erhebt sich und geht auf sie zu.
»Warten Sie noch ein wenig,« sagt er. »Gehen Sie noch nicht zu ihm hin! Lassen Sie mich Ihnen erst sagen, was geschehen ist.«
Sie schreit noch immer, und sie versucht, den Offizier fortzudrängen, um durchzukommen.
»Warten Sie,« sagt er. Und er umklammert ihren Arm. »Sie dürfen ihn noch nicht sehen. Sie müssen zuerst wissen.«
»Ich weiß, daß er wahnsinnig geworden ist, daß er sich vor die Kanone geworfen hat.«
»Nein,« sagt der Offizier. »Sie wissen gar nichts. Es ist nicht so.«
Seine Art beruhigt sie so weit, daß sie sich still verhalten kann. Sie beginnt, eine leise, schwache Hoffnung zu fassen. Vielleicht lebt der Mann, vielleicht ist er nur verwundet.
»Sie sehen diese Kanone dort,« sagt der Offizier, »Sie wissen, daß Ihr Mann einen Schuß daraus abgeben sollte. Und sie sehen diese Tribüne, die gerade vor der Kanonenmündung aufgebaut ist.«
»Ich habe das alles schon gestern gesehen, Herr General,« schluchzt die Frau. »Mein Mann hat mir gezeigt, wie alles angeordnet ist. Es war ihm nicht recht. Er wollte nicht so viele Menschen vor einer Kanonenmündung haben, wenn es keine Feinde sind, die niedergeschossen werden sollen.«
»Nun wohl,« sagt der Offizier. »Ihr Mann hatte seine Order bekommen, und er hatte die Lunte in die Kanone eingeführt. Aber in dem Augenblick, in dem wir alle erwarten, daß der Schuß abbrennt, schreit er auf, streckt die Arme zum Himmel und wirft sich mit einem Sprung vor die Kanonenmündung, so, als wolle er den Schuß hindern, abzugehen. Alle, die es sahen, glaubten, er wäre wahnsinnig geworden. Der Schuß brannte natürlich ab, und Ihr Mann wurde weit übers Feld geschleudert, bis dorthin, wo er jetzt liegt.«
Wieder will sie sich losmachen, um sich durchzudrängen, aber der Offizier hält sie zurück.
»Warten Sie,« sagt er. »Sie müssen wissen, was wir fanden, als wir herbeieilten, um seinen Zustand zu untersuchen. Sein ganzer Körper war von einer Masse von Eisendrähten durchbohrt. Sie, als Frau eines Artilleristen, wissen natürlich, was ein Kanonenbesen ist?«
»Ja,« antwortete sie.
»Ihr Mann hat einen solchen Eisenbesen benützt, um die Kanone zu reinigen, und aus irgendeiner Vergeßlichkeit hat er nicht daran gedacht, ihn wieder herauszunehmen, so daß er sich in der Kanone befand, als der Schuß losging. Ihr Mann hat sich früher nicht erinnert, daß er drinnen war, erst im letzten Moment, als die Lunte schon eingeführt war. Da hat er in einem Augenblick vor sich gesehen – denn denken konnte er ja nicht so rasch –, was geschehen mußte, wenn die furchtbare Ladung die Tribüne hier vor uns traf. All diese auseinandergesprengten Stücke Eisendraht würden ebenso viele Menschen durchbohrt haben. Da ward er von übermenschlichem Mitleid ergriffen und stürzte herbei, um die Ladung mit seinem eigenen Leibe aufzunehmen.«
»Ach, mein Gott!« ruft die Frau und faltet die Hände. Im selben Augenblick läßt der Offizier ihren Arm los.
»Madame,« sagt er, »ich will Sie jetzt nicht mehr hindern, Ihren Mann zu sehen. Denken Sie nur, wenn Sie diese zerstörten Reste eines Menschen sehen, daß sie das Edelste umschlossen haben, was in dieser Welt zu finden ist. Es wird Ihnen leichter werden, ihren Anblick zu ertragen, wenn Sie wissen, daß Ihr Mann dies aus eigenem freien Willen gewählt hat, um alle diese anderen retten zu können. Denken Sie sich ferner, daß wir alle, seine Waffenbrüder, ihn um eine solche Heldentat beneiden. Mitten in der Gefahr, wo es keine Besinnung gibt, wo es sich um Leben und Tod handelt, recht handeln zu können, das ist der Beweis von Größe.
Das heißt, die Seele eines Helden in sich haben.«