Selma Lagerlöf
Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen
Selma Lagerlöf

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Zur Auswanderungsfrage

Da saßen der Propst und der Hilfsprediger und der Amtmann von Högbro und der Sägewerksbesitzer von Hyllinge und der kleine Stationsinspektor von der schmalspurigen Bahn beisammen und auch ein paar Bauern und Dorfkrämer.

Sie hatten die Jahresversammlung der Sparkasse abgehalten, aber jetzt waren alle Rechnungen durchgenommen, und der Ausschuß hatte das Absolutorium bekommen, und die Revisoren für das nächste Jahr waren gewählt, und der Vorsitzende hatte mit dem Hammer auf den Tisch geschlagen und die Sitzung für geschlossen erklärt. Nun stand es ihnen frei, auseinander zu gehen, aber sie waren doch um den großen Tisch des Banklokals sitzen geblieben, um ihre Gedanken und Ansichten auszutauschen.

Und als sie ein Weilchen über andere Dinge hin und her geredet hatten, kamen sie auf die Auswanderungsfrage.

Und da sagten ein paar von ihnen, das Geld, das aus Amerika hereinkäme, das sei so wenig, daß es gar nicht der Rede wert wäre.

Und andere sagten, daß die, die fortführen, mehr Geld aus dem Lande brachten, als irgend jemand wußte.

Und einige behaupteten wieder, daß es bald ganz unmöglich sein würde, die Erde in diesem Kirchspiel zu bestellen, weil alle Arbeiter auf und davon gingen. Und diese große Arbeit, die Senkung des Seegrundes, die sie hatten vornehmen wollen, die konnte gar nicht zustandekommen, weil alle jungen und tatkräftigen Leute fortgezogen waren.

Und der eine oder andre meinte, es liege an der Auswanderung, daß sie eine so furchtbar große Armensteuer zu tragen hatten; denn wenn alle Jungen, die für die Alten sorgen sollten, sich aus dem Staube machten, könne es ja gar nicht anders kommen.

Und andere wiederum sagten, das ganze Land sei in Gefahr; denn wenn alle, deren Aufgabe es war, es zu verteidigen, einfach auf und davon gingen, konnte uns ja der Feind jederzeit unterkriegen, wenn es ihm so beliebte.

Und der eine war eifriger als der andere, seine Ansicht vorzubringen, aber dann wurde es auf einmal ganz still. Der Propst hatte eine Bewegung gemacht. Er hatte bis dahin nichts gesagt, und nun erwarteten sie, daß er seine Meinung aussprechen würde.

Denn seht, der Propst war so, daß er meist eine Meinung für sich hatte, die der aller andern gerade entgegengesetzt war; und wenn man sich auch noch so fest im Sattel glaubte, so war man doch nie sicher, daß er nicht ein paar Worte sagte, die einem die festesten Ansichten geradezu auf den Kopf stellten. Und als es nun aussah, als ob der Propst sich aussprechen wollte, wurden sie sofort ein bißchen unruhig, die Handelsleute und die Bauern und der Sägewerksbesitzer aus Hyllinge und der Amtmann und der Stationsinspektor der neuen Bahn.

Aber der Propst sagte nicht ein Wort, sondern saß ganz still da wie zuvor, und da wurden sie wieder eifriger und selbstsicherer. Denn sie waren ja doch eigentlich in tiefster Seele überzeugt, daß der Propst in diesem Falle keine Einwände erheben konnte, sondern zu ihnen halten mußte. Denn daß die Auswanderung dem Lande zum Schaden gereichte, das war wohl unbestreitbar.

Und dann fingen sie an, von all den hellen Köpfen zu reden, die für Schweden verloren gingen, und von all dem Unternehmungsgeist, der nun einem andern Lande zugute kam.

Und einige sprachen von all jenen, die untergingen. Es gab ja hie und da einen, der dort draußen sein Glück machte, doch all die, die in Not und Elend verkamen, von denen hörte man nie etwas.

Und einige sagten, mit denen, die fortführen, wäre es ja nicht so arg, wenn sie nur den Verstand hätten, nicht diese Photographien nach Hause zu schicken, auf denen sie in Seide und Samt gekleidet waren; denn just diese Photographien machten die Leute hier daheim ganz krank vor Sehnsucht, auch draußen ihr Glück zu probieren.

Und einige sprachen davon, wie unnütz und schädlich es für die Menschen dieses Landes war, nach Amerika zu fahren. Man sah es ja. Wenn sie nach Hause zu Besuch kamen, dann waren sie ja so sonderbar und verdreht, daß man es kaum mit ihnen aushalten konnte.

Die ganze Zeit saß der Propst schweigend da, aber nun merkte einer, wie er den Kopf drehte und gleichsam ein kleines Sonnenfunkeln in seine Augen kam. Er stieß die andern an, und in dem Gespräch entstand sofort eine Pause, denn man wollte hören, was der Propst zu sagen hatte. Aber auch diesmal kam es nicht dazu, daß er sich äußerte. Und das war ja nicht zu verwundern. Es war ja ganz unmöglich, daß er in einer solchen Sache anders denken konnte als die andern.

Und sie sagten, es gäbe Kirchspiele, wo die Häuser verlassen und leer standen, und man kaum einen lebenden Menschen traf. In Gemeinden, wo mehrere tausend Menschen gewohnt hatten, fand man jetzt nicht mehr als einige hundert.

Und sie sagten, es sei doch seltsam, daß die Leute nicht einsähen, wie unrecht es war, das Land zu verlassen, wo sie aufgewachsen waren. Wo Vater und Mutter sich hatten durchschlagen können, da konnten doch auch die Kinder bleiben und ihr Auskommen finden.

Denen, die ihr Vaterland verlassen hatten, wurde es ja doch nie so recht wohl, sagte ein anderer. Solange man jung war, ging es ja noch, aber wenn einmal das Alter kam, dann kam auch die Sehnsucht nach dem alten Lande.

Der Propst schwieg noch immer. Er saß in dem Präsidentensessel zurückgelehnt, groß und breit, die Hände über dem Leib gefaltet.

Nun beugte er sich über den Tisch vor, und dann fragte er ganz sanftmütig, wieviele wohl aus diesem Kirchspiele nach Amerika gefahren sein mochten.

Ja, die genaue Ziffer konnte ja niemand so aus freier Hand sagen, aber daß es wenigstens fünfhundert waren, glaubten sie ganz bestimmt.

Da beugte sich der Propst noch weiter über den Tisch vor und sah die, die rings um ihn saßen, mit festem Blick an.

– Nun möchte ich euch alle, die ihr so gegen die Auswanderung seid, eines fragen, – sagte er. – Was würdet ihr mit all diesen fünfhundert anfangen, wenn sie wiederkämen? –

Und damit lehnte er sich wieder zurück und kreuzte die großen Hände über dem Leib wie zuvor.

Als der Propst diese Frage gestellt hatte, öffnete der Amtmann von Högbro sofort den Mund um zu sagen, daß dies das beste wäre, was geschehen könnte. Aber da fiel ihm ein, daß er einen Bruder hatte, der vor langer Zeit nach Amerika gefahren war. Und wenn der nun zurückkäme, dann würde er wohl auch Anspruch auf den Besitz dieser Gemeindetrift erheben, die der Vater für ihn bestimmt hatte, aber für die er bisher keine Verwendung gehabt hatte. Und als der Amtmann nun daran dachte, welch gute Erde diese Trift hatte und wie er sie beackert und wieviel Arbeit er daran gewendet hatte, da preßte er die Lippen aufeinander und sagte kein Wort.

Der eine der Kaufleute hob auch den Kopf, er wollte sagen, daß der Tag, an dem die Amerikafahrer wiederkämen, ein Freudentag für ihn und für das ganze Kirchspiel sein würde. Aber da mußte er daran denken, daß dann auch eine Schwester von ihm wiederkommen würde, die ausgewandert war und sich dort draußen mit einem armen Burschen verheiratet hatte und nun als Witwe mit fünf oder sechs unversorgten Kindern dasaß, und daß es kein Spaß für ihn sein würde, diese ganze Gesellschaft auf den Hals zu bekommen. Und wie es nun war, so antwortete er dem Propst nicht, sondern fing an, seine Papiere zusammenzukramen, so als wollte er seiner Wege gehen.

Als der Stationsinspektor merkte, daß diese beiden, die den ganzen Abend so kühn ihre Meinung gesagt hatten, sich nicht aufraffen konnten, dem Propst zu antworten, wollte er eben rufen, an dem Tage, an dem die Amerikafahrer in seiner Station ausstiegen, würde er auf dem Bahnsteig stehen und ein Hurra auf sie ausbringen. Aber da fiel es ihm ein, daß er dort drüben eine hatte, der er einmal die Ehe versprochen und die er im Stich gelassen hatte. Das war nun schon viele Jahre her, aber so alt er war, es wäre ihm doch nicht lieb gewesen, ihr zu begegnen und zu hören, was sie alles Schweres hatte durchmachen müssen, ohne eine hilfreiche Hand, die sie stützte. Und anstatt dem Propst Rede und Antwort zu stehen, erhob er sich und sagte, er müsse nun gehen und das Pferd anschirren.

Als der Stationsinspektor seiner Wege gegangen war, hörte man ein längeres Räuspern von dem Sägewerksbesitzer. Aber gerade als er die Stimme erheben und sagen wollte, er könnte leicht fünfhundert Menschen Obdach und Auskommen verschaffen – diese Sache hätte keinerlei Schwierigkeit – kam es ihm in den Sinn, daß, wenn all die Fortgefahrenen wiederkämen, auch ein Sohn von ihm zurückkehren würde, der so verkommen und entartet war, daß er für ihn, seine Frau und für sein ganzes Haus eine Qual gewesen war. Und ganz leise begann er sich vom Tische zu entfernen und ging ins Nebenzimmer, um seine Überkleider zu suchen.

Zugleich mit ihm standen zwei Bauern auf. Denn der eine von ihnen hatte einen guten Freund drüben, und dieser Freund hatte ihm einiges Geld zur Verwaltung geschickt. Dieses Geld hatte bis vor ganz kurzer Zeit gut verzinst in der Bank gelegen. Aber just vor ein paar Tagen hatte er sich genötigt gesehen, etwas davon zu entnehmen, um seiner Tochter die Hochzeit auszurichten. Und er konnte nicht behaupten, daß er wünschte, daß die Auswanderer zurückkämen, bevor er diese Sache erledigt und geordnet hatte.

Der andere, der zugleich mit ihm aufgestanden war, hatte einen Sohn dort drüben, der guttat und Weihnachten und Ostern Geld nach Hause schickte. Und er wußte nicht, wie er sich auf seinem Hofe halten sollte, wenn diese Sendungen aufhörten.

Der Kommissar saß noch an dem Tische, aber er dachte an einen Mann, der für die ganze Gegend ein Schrecken und eine Pein gewesen war und ihn selbst zu wiederholten Malen an Leib und Leben bedroht hatte. Und er sagte zu sich selbst, daß es nicht gerade wünschenswert wäre, daß dieser Mann zurückkehrte. Und auch er stand auf und kehrte sich der Wand zu und blieb da stehen und sah sich ein paar große Touristenvereinsplakate an, die da hingen.

Nun war nur mehr der eine der Handelsleute an dem Tische sitzen geblieben; doch ihm war es schon die ganze Zeit klar, daß das größte Unglück, das ihn treffen könnte, wäre, wenn der alte Handelsmann zurückkehrte, der ihm den Laden verkauft hatte und eine so große Geschicklichkeit im Geschäft besaß, und ein so anziehendes Wesen gegen die Kunden, daß er allen Handel im ganzen Kirchspiel an sich gelockt hätte, wenn er nicht auf den Gedanken verfallen wäre auszuwandern.

Bis dahin war der Propst stumm dagesessen und hatte gewartet. Aber als er merkte, daß niemand mehr am Tische saß als der kleinste und ärmste der Krämer, wandte er sich ihm zu. – Ja, was sagt Ihr zu der Sache, Söderberg? fragte er.

– Ich mein halt, wie's kommt, so ist's wohl am besten, – sagte der Krämer.

– Ja, das habe ich mir gedacht, – sagte der Propst. – Ich wußte schon, daß Ihr zu dieser Meinung kommen würdet, wenn Ihr Euch nur die Zeit nehmt, die Sache zu überdenken.

 


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