Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Der Torso

Als die drei Männer mit ihrem Holzpflug aus der Blockhütte in das Freie kamen, merkte man erst, wie tüchtig sie zugerichtet waren. Vor allem das Gesicht des Japaners war vollkommen platt geschlagen, es glich einer scharf geräucherten Flunder mit runzeliger Haut. Auch Johnny hatte ganz ordentlich bei der Sache was abbekommen; er schleifte das linke Bein ziemlich deutlich unter dem Körper her, der linke Arm war gleichfalls gelähmt, und wenn er lachte, verzog sich der Mund zu einer Diagonale in seinem Vollmondgesicht. Habakuk war noch am besten erhalten, obwohl ihm eigentlich durch den Luftdruck am schlimmsten mitgespielt worden sein mußte, doch waren seine Verletzungen nicht äußerlicher Art: er würde wohl für die Zeit seines Lebens eine losgerissene Niere und Gallenstörungen haben.

Im übrigen waren alle drei froh, davongekommen zu sein. Evelyne, Johnnys Frau, meinte das übrigens auch. Freilich war ihre Stellung zwischen den übrig gebliebenen Männern noch ziemlich ungeklärt und jedenfalls ohne Vorbild – aber schon jetzt schien es ziemlich sicher, daß jeder von ihnen ein Recht auf sie hatte, von dem er übrigens noch nicht wußte, ob er Gebrauch davon machen würde, denn keiner hatte schon wieder Lust, sich zufällig zu vermehren. Weil Evelyne, wie sie behauptete, sich über alles erst klar werden mußte, war sie zu Hause geblieben. Johnny war einverstanden damit, denn sie störte ihn bloß beim Denken, und Denken– oder vielmehr Erfinden – war jetzt die Hauptarbeit, die er zu leisten hatte.

»Good bye, Evelyne!«

»Good bye. Kommt bald wieder, sonst wird das Irish stew kalt. Und gib schön acht auf ihn, Habakuk, wenn er wieder das Bein zu rasch vorwärts zieht und über die Pflugschar fällt.«

»Okay.« Und nun waren sie hier. Sie standen auf einer sandigen Fläche, die gegen den zweiten Abhang hin von Kiefern abgegrenzt wurde, und, wie Johnny behauptete, wie geschaffen für ihren Holzpflug war. 10

»Los, Habakuk, singe!« sagte er, während er den Japaner vor seine Erfindung spannte. Sie setzten sich alle drei in Bewegung, das neue Gestell, wie ein kleines Kind, das eben erst gehen gelernt hat, schwankte unsicher hin und her und holperte über jede Scholle, die es zur Seite legte. Johnny runzelte seine Stirn und dachte angestrengt nach. Er war durchaus noch nicht von der Sache und ihrer Leistung befriedigt, aber er wußte, es würde schon kommen, wie alles nach und nach kam. Darum war es vielleicht auch nicht richtig, von einer ›Erfindung‹ zu sprechen; man hätte ›Erinnerung‹ sagen müssen, denn Johnny und auch die beiden andern wußten natürlich genau, daß dies alles schon früher einmal vorhanden gewesen war – früher, vor dieser letzten und tollen Katastrophe, von der sie beim Sprechen zu sagen pflegten, daß sie wirklich ›ganz anständig‹ war. Jeder von ihnen hatte noch immer einen ziemlichen Vorstellungsschatz; einen Schatz von Gefühlen, Erinnerungen und genau begrenzten Kategorien, die er heraufholen mußte, um sie den anderen mitzuteilen; doch das Heraufholen war nicht leicht, weil ihre Seelen wie Siebe gelöchert worden waren und vieles unterwegs fallen ließen, bevor es ans Tageslicht kam. Am meisten hatte noch Habakuk von den früheren Zeiten behalten: sein Gehirn war auf Katastrophen trainiert, denn seine Vorfahren hießen Mendel, Baruch und Rubinstein. Auch der Japaner litt nicht zu sehr unter dem allgemeinen Kopf- und Erinnerungsschwund. Er war sogar ziemlich glücklich darüber, sich endlich wieder mit einem Tonkrug und einer Matte begnügen zu können, die er aus Schilfrohr geflochten hatte, denn seine Fähigkeit, sich Amerika anzugleichen, war überstrapaziert. Am ärgerlichsten war es für Johnny, welcher ein Mann des Fortschritts gewesen und jetzt auf den nackten Anfang zurückgeworfen war. Ihn peinigte vor allem ein Wort, das so ähnlich wie ›Ferrum‹ hieß; er fühlte, daß er am Ende nicht weiterkommen würde; wenn diese Sache ihm fehlte; doch gleichzeitig hatte er das verdammte und unangenehme Bewußtsein, daß es das Wort überhaupt nicht mehr gab, vielmehr die Sache nicht, die das Wort einmal bezeichnet hatte. Sie fehlte von jetzt ab, wie manches fehlte und nicht mehr zu beschaffen sein 11 würde, weil es in seine Atome zerfallen oder verwandelt war . . .

Als der Pflug seine dritte Furche gezogen, und Habakuk bei der Stelle des einhundertzweiten Psalmes, wo des Menschen Tage mit Gras und er selbst mit einer Blume des Feldes verglichen wird, angelangt war, wußte Johnny schon ziemlich genau, was seiner Erfindung noch fehlte; nach der sechsten Furche blieb Johnny stehen und blickte nach der Sonne, die nun bedeutend niedriger stand als vor dem Beginn seiner Arbeit: die Erde mußte ›seit damals‹, wie die Männer in schweigender Übereinkunft sich zartfühlend auszudrücken pflegten, ihre Umdrehungsdauer bedeutend verkürzt und den Ablauf der Zeit, ohne Evelyne um ihre Meinung zu fragen, entsetzlich beschleunigt haben.

»Noch eine Furche und dann ist Schluß!« rief Johnny den beiden anderen zu und setzte von neuem den Pflug auf die Erde; der Japaner ging vorwärts, und Habakuk sang den Psalm im Vesperton aus. In diesem Augenblick bockte die Pflugschar und stieß an etwas an; sie stieg wie ein scheuendes Pferd in die Höhe und legte sich seitwärts um. »Verflucht noch mal«, rief Johnny verärgert – dann gruben sie gemeinsam einen mächtigen Torso aus. »Was is'n das, Habakuk?« fragte Johnny. »Wo kommt dieser Kerl denn her?« Die letzte Frage war ganz idiotisch, denn damals waren die Dinge aus aller Welt durcheinander gewirbelt und irgendwo abgesetzt worden; auch Habakuks Wanderniere ging wahrscheinlich darauf zurück.

»Woher soll ich ihn kennen, Gott der Gerechte? Zwei Mark und fünfzig, kein Pfennig mehr, denn es ist bloß ein Gipsabguß«, erwiderte Habakuk.

Sie hockten jetzt um den Torso herum, der Japaner befühlte die Muskeln des kopf- und beinlosen Mannes; den Bizeps der beiden Oberarme und den mächtigen Brustkorb, die schöne flache und doch kräftige Bauchdecke, die sich zum Ansatz der Schenkel hin verjüngte. Endlich blickten die Männer einander prüfend an und dann wieder auf den Torso. »Ich finde, er sieht dir ähnlich, Johnny«, sagte Habakuk schließlich und fügte hinzu: »Ich meine das natürlich nicht deshalb, weil einiges an ihm fehlt.« 12

»Ich finde, er sieht uns allen ähnlich«, gab Johnny unbeleidigt zurück und starrte mit versunkenem Ausdruck auf den verstümmelten Mann. »Übrigens kommt es mir immer mehr vor, als ob ich ihm schon früher einmal begegnet wäre. Es wird wahrscheinlich im Omnibus von Cook gewesen sein. Die Stadt fing mit A an –« »Akropolis«, sagte Habakuk wie aus der Pistole geschossen. »Aber das war dann der richtige Mann und nicht sein Gipsabguß.«

»Ich find' auch den sehr hübsch«, meinte Johnny, von Andenkenwut gepackt. »Auf jeden Fall wird sich Evelyne freuen, denn er paßt auf ihr Vertiko. Oder will ihn ein anderer haben?«

Es stellte sich heraus, daß die andern den Mann nicht haben wollten – Habakuk nicht, weil ihm eine Kopie, wie er sagte, gegen den Strich ging; der Japaner nicht, weil er nicht wußte, wohin er ihn stellen sollte. Sie pflügten dann ihre letzte Furche und gruben noch etwas Zweites aus, das weniger wirkungsvoll war. Trotzdem freuten sich alle sehr, denn das Ding war aus Holz und war deshalb ganz unbeschädigt geblieben: ein Autoschild mit zwei gekreuzten Knochen und großer lateinischer Schrift.

»Kannst du lesen, Habakuk?« fragte Johnny. Habakuk meinte, das wäre gelacht, und buchstabierte den Text. »Achtung! Fahrt langsam an dieser Biegung! Der Tod ist dauerhaft.«

»Aha«, sagte Johnny erleichtert. »Jetzt wissen wir wenigstens wieder, wo wir eigentlich sind.« 13

 


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