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Ich war ja schließlich auch nur ein Mensch«, wiederholte die stattliche Frau immer wieder, die in der Bierschwemme an dem Bahnhof der kleinen Vorortsiedlung mit ihrer Freundin saß, und schob ihr das Möhrenkraut über die Pflaumen, damit nicht jeder gleich merken sollte: die hatte sich was gegen Gummiband oder Strickwolle aus ihrem Garten geholt, und dem Mann ging das nachher ab. Ich spitzte natürlich sofort die Ohren, denn obwohl ich eigentlich nur da hockte, um den ›Kartoffelexpreß‹, wie die Leute den großen Hamsterzug nennen, der um diese Zeit hier durch die Station fährt, vorüberklackern zu lassen – er ist nämlich so zum Brechen voll, daß ein Mann, der müd von der Arbeit kommt, sich nicht mehr hineinboxen kann – also, obwohl ich im Grund nur hier saß, um vor mich hinzudösen, fühlte ich doch: da bahnte sich eine Geschichte an, die ich unbedingt hören mußte; und Geschichten wie die: nichts Besonderes und je dämlicher, um so schöner, habe ich für mein Leben gern – man fühlt sich dann nicht so allein.
»Am schlimmsten war aber der Papagei«, sagte die stattliche Frau. »Nicht die grüne Lora, die wir jetzt haben, sondern der lausige Jacob, der sofort alles nachplappern konnte. ›Entweder dreh' ich dem Vieh den Hals um, oder ich schmeiße die Elsie hinaus,‹ sagte mein Mann, und er hatte ja recht – es blieb keine andere Wahl.«
»Wie lange«, fragte die Freundin [die mit dem Netz voll Karotten], »war sie eigentlich bei euch untergetaucht? Ich dachte damals, ihr wechselt euch ab – mal diese Bekannte, mal jene; aber im Grund keine länger als höchstens für eine Nacht.«
»Naja. Aber wie das immer so geht, wenn man mit mehreren Leuten zugleich etwas verabredet hat: hernach ist der Erste ja doch der Dumme, an dem es hängen bleibt, und die Anderen springen aus, wenn sie merken, daß das Ding nicht so einfach ist.«
»Der Dumme?« fragte die Freundin zweifelnd und stützte den Ellbogen auf. »Das kannst du doch jetzt nicht mehr sagen, Frieda, wo 30 du damals durch diese Elsie fast ins Kittchen gekommen bist. Schließlich muß man ja heute bedenken, daß dein Mann gerade war in die Partei frisch aufgenommen worden und Oberpostsekretär. Was glaubst du, wie wir dich alle im Stillen bewundert haben, daß du die Elsie versteckt hast, zu sowas gehört doch Mut!«
»Mut? Na, ich weiß nicht. Was sollte ich machen, als sie plötzlich vor meiner Tür stand, die Handtasche über dem Stern? Es schneite und regnete durcheinander, sie war ganz naß und dazu ohne Hut; sie mußte, wie sie so ging und stand, davon gelaufen sein. ›Frieda‹, sagte sie, ›laß mich herein – nur für eine einzige Nacht. Am nächsten Morgen, ich schwöre es dir, gehe ich ganz bestimmt fort.‹ Sie war so aufgeregt, lieber Himmel, und von weitem hörte ich schon meinen Mann mit dem Holzbein die Straße herunterklappern – ›aber nur für eine einzige Nacht‹, sage ich ganz mechanisch, ›und weil wir schon in der Schule zusammen gewesen sind.‹ Natürlich wußte ich ganz genau, daß sie nicht gehen würde; mein Karl, dieser seelensgute Mensch, sagte es schon am gleichen Abend, als er mir das Korsett aufhakte und dabei die letzte Fischbeinstange vor Aufregung zerbrach; es machte knack, und er sagte: ›Die geht nicht wieder fort.‹«
Beide Frauen, wie auf Verabredung, setzten ihr Bierglas an, bliesen den Schaum ab und tranken einen Schluck; hierauf, in einem einzigen Zug, das halbe Bierglas herunter, ich muß sagen, sie tranken nicht schlecht.
»Es war aber doch wohl recht gefährlich in eurer kleinen verklatschten Siedlung, wo jeder den anderen kennt«, meinte die Freundin mit den Karotten. »Und dazu noch der Papagei.«
»Aber nein. An sich war das gar nicht gefährlich. Wenn einer erst in der Laube drin war, kam keiner auf den Gedanken, daß sich da jemand versteckt hielt, der nicht dazugehörte. Wer uns besuchte, kam bloß bis zur Küche und höchstens noch in die Kammer dahinter; alles übrige war erst angebaut worden – die Veranda, das Waschhaus, der erste Stock mit den zwei schrägen Kammern, das ganze Gewinkel schön schummrig und eng, überall stieß man an irgendwas an: an die Schnüre mit den Zwiebeln zum Beispiel, die 31 zum Trocknen aufgehängt waren, und an die Wäscheleine. Auch mit der Verpflegung war es nicht schlimm, ich hatte Eingemachtes genug, der Garten gab soviel her. Nur der Papagei: ›Elsie‹ und wieder ›Elsie‹ – das ging so den ganzen Tag. Wenn es schellte, warf ich ein Tischtuch über den albernen Vogel, dann war er augenblicks still. Mein Mann, das brauche ich nicht zu sagen, ist wirklich seelensgut. Aber schließlich wurde er doch ganz verrückt, wenn der Papagei immerfort ›Elsie‹ sagte; er lernte eben im Handumdrehen, was er irgendwo aufgeschnappt hatte. Die Elsie, alles was recht ist, gab sich wirklich die größte Mühe, uns beiden gefällig zu sein – sie schälte Kartoffeln, machte den Abwasch und ging nicht an die Tür. Aber einmal, ich hatte das Licht in Gedanken schon angeknipst, ehe der Laden vorgelegt worden war, muß die Frau des Blockwalters, diese Bestie, sie von draußen gesehen haben. ›Ach‹, sagte ich ganz verdattert vor Schrecken, als sie mich fragte, ob ich Besuch in meiner Wohnküche hätte, ›das wird wohl meine Cousine aus Potsdam gewesen sein.‹ ›So? Aber dann hat sie sich sehr verändert‹, sagt sie und sieht mich durchdringend an. ›Ja, es verändern sich viele jetzt in dieser schweren Zeit, Frau Geheinke‹, sage ich wieder. ›Und abends sind alle Katzen grau.‹«
»Von da ab war meine Ruhe fort; ganz fort wie weggeblasen. Immer sah ich die Elsie an, und je mehr ich die Elsie betrachtete, desto jüdischer kam sie mir vor. Eigentlich war das natürlich ein Unsinn, denn die Elsie war schlank und zierlich gewachsen, braunblonde Haare, die Nase gerade, wie mit dem Lineal gezogen, nur vorne etwas dick. Trotzdem, ich kann mir nicht helfen – es war wirklich ganz wie verhext. Sie merkte das auch. Sie merkte alles und fragte mich: ›Sehe ich eigentlich "so" aus?‹ ›Wie: so?‹ entgegnete ich wie ein Kind, das beim Lügen ertappt worden ist. ›Du weißt doch – meine Nase zum Beispiel?‹ ›Nö. Deine Nase nicht.‹ ›Und die Haare?‹ ›Die auch nicht. So glatt wie sie sind.‹ ›Ja, aber das Löckchen hinter dem Ohr‹, sagt die Elsie und sieht mich verzweifelt an, verzweifelt und böse und irr zugleich – ich glaube, hätte sie damals ein Messer zur Hand gehabt, sie hätte sich und mich niedergestochen, 32 so schrecklich rabiat war sie. Schließlich, ich fühlte es immer mehr, hatte ich nicht nur ein Unterseeboot, sondern auch eine Irre im Haus, die sich ständig betrachtete. Als ich ihr endlich den Spiegel fortnahm, veränderte sich ihre Art zu gehen und nachher ihre Sprache – sie stieß mit der Zunge an, lispelte und wurde so ungeschickt, wie ich noch nie einen Menschen gesehen habe: kein Glas war sicher in ihren Händen, jede Tasse schwappte beim Eingießen über, das Tischtuch war an dem Platz, wo sie saß, von Flecken übersät. Ich wäre sie gerne losgewesen, aber so wie ihre Verfassung war, hätt' ich sie niemand mehr anbieten können – der Hilde nicht und der Trude nicht und erst recht nicht der Erika, welche sagte, sie könne auch ohne Stern und Sara jeden Menschen auf seine Urgroßmutter im Dunkeln abtaxieren. ›Ja?‹ fragte die Elsie. ›Ganz ohne Stern? Jede Wette gehe ich mit dir ein, daß man dich auch für "so eine" hält, wenn du mit Stern auf die Straße marschierst – so dick und schwarz, wie du bist‹ Von diesem Tag an haßten wir uns. Wir haßten uns, wenn wir am Kochherd ohne Absicht zusammenstießen, und haßten uns, wenn wir zu gleicher Zeit nach dem Löffel im Suppentopf griffen. Selbst der Papagei merkte, wie wir uns haßten, und machte sich ein Vergnügen daraus, die Elsie in den Finger zu knappern, wenn sie ihn fütterte. Endlich wurde es selbst meinem Mann, diesem seelensguten Menschen, zu viel, und er sagte, sie müsse jetzt aus dem Haus – das war an dem selben Tag, als die Stapo etwas gemerkt haben mußte. Es schellte, ein Beamter stand draußen und fragte, ob sich hier eine Jüdin, namens Goldmann verborgen hätte. In diesem Augenblick trat sie vor und sagte mit vollkommen kalter Stimme: Jawohl, sie habe sich durch den Garten und die Hintertür in das Haus geschlichen, weil sie glaubte, das Haus stünde leer. Man nahm sie dann natürlich gleich mit, und auch ich wurde noch ein paarmal vernommen, ohne daß etwas dabei herauskam, denn die Elsie hielt vollkommen dicht. Aber das Tollste war doch die Geschichte mit dem Papagei, sage ich dir.«
»Wieso mit dem Papagei?« fragte die Freundin, ohne begriffen zu haben.
»Na, mit dem Papagei, sage ich dir. Die Elsie nämlich, bevor sie 33 sich stellte, hatte rasch noch das Tischtuch auf ihn geworfen, damit er nicht sprechen konnte. Denn hätte er ›Elsie‹ gerufen: na, weißt du – dann wären wir alle verratzt.«
»Hättest du selber daran gedacht?« fragte die Freundin gespannt.
»Ich? Ich bin schließlich auch nur ein Mensch und hätte nichts andres im Sinn gehabt, als meinen Kopf zu retten. Aber Elsie – das war nicht die Elsie mehr, die ich versteckt hatte und gehaßt und am liebsten fortgejagt hätte. Das war ein Erzengel aus der Bibel, und, wenn sie gesagt hätte: ›Die da ist es, diese Dicke, Schwarze da!‹ – Gott im Himmel, ich wäre mitgegangen!«
Na, solch'ne Behauptung, sagen Sie mal, kann selbst einem harmlosen Zuhörer schließlich über die Hutschnur gehen. »Und der Jacob?« frage ich, trinke mein Bier aus und setze den Rucksack auf. »Lebt er noch, dieses verfluchte Vieh?«
»Nein«, sagte die dicke Frau ganz verblüfft und faßt von neuem nach den Karotten, um die Pflaumen mit dem Karottenkraut ringsherum abzudecken. »Dem hat ein Russe wie einem Huhn die Kehle durchgeschnitten, als er ihn füttern wollte, und der Jacob nach seiner lausigen Art ihm in den Finger knappte.«
»Böse Sache«, sagte ich, »liebe Frau. Wo ist jetzt noch jemand, der Ihren Mann vor der Spruchkammer . . . [eigentlich wollte ich sagen: ›entlastet‹, doch hol es der Teufel, ich sagte, wie immer:] entlaust?« 34