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Mann und Frau erwachten fast gleichzeitig, während der Kuckuck rief. Es war ein starkes, aschgraues Männchen mit schwärzlichen Wellenbändern am Bauch; in dem Bauch des Weibchens, welches er lockte, reifte schon drängend und ungeduldig das Ei, das es heute noch absetzen würde – wahrscheinlich zwischen die Grasmückeneier, die Rotkehlcheneier, die Bachstelzeneier; wohin, war ihm einerlei. Weil das Haus ziemlich nahe am Waldrand lag, war auch der Kuckucksruf nahe; er kam immer näher, fast wie verhext; die Frau, noch im Halbschlaf, glaubte den Schatten eines großen Vogels vorüberstreifen und den Baumwipfel sich bewegen zu sehen, als es ›Kuckuck‹ und ›Kuckuck‹ rief. Der Mann, ein Kriegsverletzter, griff stöhnend und gewohnheitsmäßig nach ihrer Hand, während er sich noch dehnte, das Kuckucksweibchen an Stelle der Frau [und nicht ihre leise zuckende Hand] verweigerte ihm die Antwort, indem es vor dem Männchen davonflog und das Gefühl der Frau mit sich fortnahm . . . ganz fort von der häßlichen braunen Krücke, die am unteren Bettrand lehnte. Fort: ihr Gefühl; und weit von ihm fort: von dem Mann mit dem Humpelstolz und diesem Zimmer, dessen Fenster weit offen standen, war alles, was außer ihrem Gefühl noch Anspruch auf sie machte; fort war sie selbst und sich selber entfallen wie die Grasmücke, die das vertauschte Ei mit der gleichen Inbrunst bebrüten würde, als wenn sie's im eigenen Schoß getragen, und die ohne Mitleid das eigene Ei am Boden zerschellt sehen würde, wenn sie das fremde erst unter den Federn und dem zitternden Körper hätte . . .
Dies war der Augenblick, wo alltäglich Mann und Frau miteinander sprachen: über den Garten zum Beispiel und die eben gelegten Erbsen, an welche die Wühlmäuse gingen; den jungen Kohlrabi, den die Kaninchen, und die neugesetzten Tomatenpflanzen, die der Sturm heute Nacht wohl hingemacht hatte, indem er sie samt dem Bast und der Kordel ganz einfach vom Holzstab fegte. Es hatte 69 abgekühlt, weiter im Westen hatte sich ein Gewitter entladen und mußte auf die Wälder und Gärten niedergegangen sein. Der Himmel war noch immer verhangen; die Wolken, eben erst angerötet, schwammen wie mythologische Schiffe über der Dämmerung hin, von den venerischen Vögeln gezogen, die in einem fort ›Kuckuck‹ riefen. Jeder von beiden – der Mann auf die Frau und die Frau . . . ja, auch die Frau auf den Mann – wartete, daß der andere zu sprechen anfangen würde: über den Garten zum Beispiel und die eben gelegten Erbsen, an welche die Wühlmäuse gingen, den jungen Kohlrabi, den die Kaninchen, und die neugesetzten Tomatenpflanzen, die der Sturm heute Nacht wohl hingemacht hätte – dann gaben sie es auf.
Ein Dritter redete unaufhörlich und fing immer von neuem an. Immer das Gleiche. Zwei gleiche Laute, nur Hall und Widerhall.
». . . vier, fünf.« Nun zählte der Mann mit dem Kuckuck zusammen, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er endlich seine versprochene, eine wirklich gute Prothese, Gott im Himmel, bekommen würde . . . »sechs, sieben –«
». . . zwölf, dreizehn . . .«, die Frau war schon weiter, um das Doppelte fast, obwohl sie nicht wußte, was sie eigentlich hören wollte.
». . . acht, neun, zehn . . .«, zählte der Mann erbittert.
». . . fünfzehn –«, fuhr sie besinnungslos fort, während der Mann es entmutigt aufgab, und blieb bei der Zwanzig stehen.
Nun war es wirklich die doppelte Ziffer, um welche sie dem Krüppel voran war – als der Kuckucksmann plötzlich aussetzte, fortblieb, und mitten im Rufen den Lockton jäh abgebrochen hatte. Die wildernde Katze unter dem Baum, auf welchem er saß, war vorübergewischt, und er selber war weitergeflogen: waldeinwärts und von der Siedlung fort, immer weiter und weiter weg. Im Dahinfliegen ließ er noch einige Laute, immer schwächer, hinter der Flugbahn zurück; doch, daß er leiser geworden war, hatten Mann und Frau nicht mehr wahrgenommen, weil sie beide mit leichtem Erschrecken nur fühlten: er war fort. Zwanzigmal Kuckuck hatte die Frau, und zehnmal der Mann gezählt. Zwanzig Jahre lang war sie dem Kuckuck in den Wald ihrer Wünsche gefolgt; den Wald der 70 Vergangenheit; der Gedankensünden, Begierden und Unterlassungssünden. Zehn Jahre lang war der Mann in die Zukunft [wo er vielleicht eine gute Prothese, die versprochene, wirklich gute Prothese, Gott im Himmel, erhalten würde!] dem Kuckucksruf nachgeeilt. Zwanzig Jahre zurück und zehn Jahre vor. Im ganzen dreißig: ein Menschenleben trennte den Mann und die Frau . . .
Jetzt war der Kuckuck im Kreis geflogen und näherte sich von neuem dem Haus, sein Schnabel war aufgesperrt vor Entzücken, sein Körper bebte, das Astende auch, als er sich niedersetzte. Das ›Kuckuck – Kuckuck‹ sprang voll und weich und sinnlich aus seiner Kehle; es war so nahe, daß jetzt die Blätter, das ganze Blattgewölbe, der Himmel und die dunstige Himmelsglocke davon erschüttert wurden. Wie als Echo gab der Donner ihm Antwort, der gleichfalls im Kreis mit dem Kuckuck gegangen und wiedergekommen war. Anruf und Schicksal verbündeten sich wie Donner und Kuckucksrufe. Jeder Kuckucksruf löste den Donner, jeder Donner den Kuckucksruf aus. Ein Wetterleuchten fuhr über den Himmel und unter den geschlossenen Lidern des Menschenweibchens hin. In jedem Aufblitzen war ein Gesicht: dieses gehörte Jakob, mit dem sie als junges Mädchen zum ersten Mal auf den Tanzboden ging, und dieses dem schönen Philipp, den sie gerne geheiratet hätte; dieses Eduard, der nach verlorenem Weltkrieg nach Kanada auswandern wollte; dieses Karl mit der Pelztierfarm, irgendwo in den Bergen; dieses Ernst, einem jungen Bankbeamten, den der große Krach im Jahr 31 aus dem Sattel geworfen hatte. Auch die Gesichter der beiden Franzosen, die als Kriegsgefangene vor ein paar Jahren das verbombte Dach ihres Häuschens gedeckt und das Gitter des Hasenstalles ausgeflickt hatten, waren darunter – ihr Mann war im Krieg . . . und im nächsten Jahr erst, als der wilde Wein an dem Gartenzaun von dem Summen der Bienen dröhnte, begegnete sie auch ihm. Verbissen und böse hing er in seinen Achselkrücken; er brauchte jetzt nur noch den linken und nicht mehr den rechten Schuh anzuziehen und wartete auf eine gute Prothese, auf eine wirklich gute Prothese, die man ihm, Gott im Himmel, schon so lange versprochen hatte . . . 71
Der Kuckuck rief immer noch. Während er fortfuhr, veränderte sich der Klang seiner Stimme, sie wurde noch voller, noch tiefer und glich zuletzt einem Schluchzen, bis sie endlich im Schluchzen zerbrach. Gepeinigt, drehte er seinen Kopf über den Nackenfedern und begegnete, weder erstaunt, noch bestürzt, den Augen des Kuckucksweibchens. Es war ihm ohne Wissen und Willen von Baum zu Baum nachgeflogen und sah ihm nun unbeweglich entgegen; seine goldenen Augen erweiterten sich, die Flügel fielen matt auseinander, seine Zehen waren wie angeschmiedet, sein Schnabel ganz ohne Laut. Noch einmal und jetzt zum letzten Mal, stieß der Kuckuck den Lockruf aus; ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel hin, in dem Zimmer schlug die Krücke zu Boden, die Frau, mit ganz entsetztem Gesicht, richtete sich empor.
»Laß sie liegen«, sagte der Mann gedämpft. »Ich werde jetzt bald eine neue haben – eine wirklich gute Prothese – ganz sicher. Ich habe mitgezählt. Der Kuckuck hat nur noch einmal gerufen, bald ruft er gar nicht mehr.«
Inzwischen waren die Vögel schon lange weitergeflogen; ihre Flügelspitzen berührten sich leise; die magischen Kreise, die sie beschrieben, bildeten, unsichtbar allen Augen, ein geisterhaftes Nest. »Hast du Schmerzen?« fragte die Frau beunruhigt und nahm den Mann in die Arme. »Du hast doch immer Schmerzen im Knie, wenn das Wetter umschlägt wie heut.«
Er bewegte schweigend den Kopf hin und her, es sollte wohl heißen: »Nein, ich habe keine Schmerzen«, und sagte dann erleichtert: »Erinnere mich, daß ich gleich nach dem Frühstück die Tomaten wieder anbinde. Schade, sie am Boden verderben zu lassen.« Dann sprachen sie über diese Tomaten, und der Mann bemerkte, daß er im Garten Kaninchenfallen stellen, die Erbsen umgraben und statt dessen Wirsingkohl pflanzen wolle. »Oder Grünkohl –. Meinst du nicht auch?« 72