Elisabeth Langgässer
Der Torso
Elisabeth Langgässer

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Vorlage auf Reisen

Verdammt noch mal, diese Leute hier haben kein bißchen Humor.« Der schwarze Etienne aus Montpellier [schwarz wie die Sünde und wie die Kirschen, die er gerade pflückte] baumelte mit den kurzen Beinen über der luftigen Tiefe und rückte den muskulösen Hintern in der Astgabel hin und her.

»Möchte wissen, woher sie ihn haben sollten«, gab der blonde Fernand gelassen zurück und spuckte den Kirschkern aus: »Oder findest du, daß hier viel Ursache ist – in diesem Dreckloch Berlin? Schließlich wohnen nicht alle in einer Villa in Tegel mit Obstgarten, na, und so . . .«

»Ursache – zieh mal den Zweig dort herunter und friß nicht alles allein! Ursache? Wenn ich Ursache hätte, brauchte ich keinen Humor. Oder glaubst du, als Grenzgänger in dem Maquis hatte mein Onkel Ursache, hm? Ich meine jetzt nicht meinen Onkel Guillaume, sondern Onkel Nicolas, der vorm Erschießen gesagt haben soll –«

»Ich weiß, ich weiß. Du meinst nicht Onkel Guillaume aus Arles –«

»Aus Nimes!«

»Aus Nimes, der den Stierkämpfer Louis –«

»Den Stierkämpfer Henri!«

»Zum Teufel auch: Henri. Du meinst Onkel Nicolas, der vorm Erschießen gesagt haben soll . . . Friß nicht alles allein! Oder glaubst du, der dicke Bartholomäus bäckt die Kirschtorte mit den Kernen, die du Schwein auf die Erde spuckst?«

Die beiden Sergeanten grinsten sich an, dann sagte der blonde Fernand: »Gib den Korb her und rede mir nicht von Humor. Ein Verbrecher wie du hat keinen Humor.«

»Nein?«

»Oder frage doch Bartholomäus, ob du etwa keiner bist. Na? Der Korb ist noch nicht bis zur Hälfte voll. Aber, ich wette, dein Bauch.«

»Was geht dich mein Bauch an? Kümmere dich um deine eigene Seele.« 73

»Ich wußte ja, daß du keinen Humor hast. Die Leute bei euch da unten haben alle keinen Humor«, sagte Fernand befriedigt.

»Ich kann nur lachen.«

»Dann ist noch Hoffnung.«

»Wieso?«

»›Daß Sie gerettet werden, mein Kind . . .‹ pflegte Pater Vorage zu sagen. Hast du eigentlich Pater Vorage gekannt?«

»Voyage?«

»Quatsch. Pater Vorage. Voyage war sein Spitzname. Wußtest du nicht? Gar nicht schlecht für den Reiseonkel mit seinem Flugzeugvehikel auf Rädern und der Glocke neben dem Lenkrad.«

»Du legst es wohl darauf an, daß ich an einem Kirschkern ersticke? Aber hoffe nicht allzu früh.«

»Natürlich hoffe ich, daß du erstickst. Und zwar möglichst rasch, damit von den Kirschen noch etwas übrig bleibt.«

»Ich verstehe, du bist ein Geretteter dieses edlen Paters Vorage. Daher deine Nächstenliebe.«

»Habe ich etwa von Nächstenliebe gesprochen? Ich redete von Humor.«

»Das merke ich.«

»Überhaupt nichts merkst du. Humor ist ganz einfach ein anderer Name für diesen Pater Vorage. Oder Voyage. Wie du willst.«

»Ist mir zu hoch.«

»Je höher, je besser, am besten sind immer die Kirschen, die an der Spitze hängen. Übrigens werde ich nur von Voyage, vielmehr von Vorage erzählen, wenn du aufhörst, Kirschen zu schlucken. Oder glaubst du, ich unterstütze dein sündiges Leben noch?«

»Hund!« sagte der schwarze Etienne mit liebevoller Stimme. »Aber damit du siehst, daß wir Leute aus Montpellier Sinn für Humor noch kurz vorm Erschießen haben –« Er blies seine Backen auf, prustete und spuckte eine Ladung von Kernen dem blonden Fernand ins Gesicht. Gleich darauf stürzten beide übereinander her. Der Baumwipfel zitterte, Spritzer von Licht zuckten auf ihren Gesichtern und hüpften von einer Stelle zur andern, die Gabelung knackte, sie kämpften lautlos und hielten sieh an den Händen, bis endlich 74 Fernand dem schwarzen Etienne die Gelenke nach außen drehte.

»Bist du endlich bekehrt? Dann lasse ich los und erzähle von Pater Vorage.«

»Ich bedanke mich für diese Art von Bekehrung und auch für Pater Vorage«, sagte Etienne erbittert und rieb seine Handgelenke. »Es ist keine Kunst zu bekehren, wenn man den Feind auf die Matte legt.«

»Richtig. Aber was sollte ich machen? Ich bin nicht Pater Vorage. Bei Pater Vorage bist du einfach vor Lachen umgefallen, bevor du erschossen warst. Stell dir vor: am Triumphbogen habe ich neulich Pater Vorage und den Wagen, vielmehr das Flugzeuggestell, mit welchem er von Flugplatz zu Flugplatz gerasselt ist, wiedergesehen. Ich stehe da ahnungslos am Etoile – du brauchst nicht ›aha‹ zu sagen und überhaupt ist sie nicht gekommen – es wimmelte nicht gerade von Menschen, nur Amerikaner waren zum Knipsen angetreten, als die Dakota, ein Mammut auf Rädern – du kennst doch diese Transportflugzeuge mit dem Zeichen der Royal Air Force – sozusagen herangetobt kam. Natürlich gab es sofort einen Auflauf, der Wagen hielt vor dem Grabmal des Unbekannten Soldaten, und mein lieber guter Vorage stieg aus, um an dem Grabmal zu beten. Er sah noch genau so aus wie früher: ein Mann wie aus Draht von oben bis unten mit viel zu großen Händen und Füssen und einem cholerischen Kindergesicht, das vor Empörung rot anlief, wenn einer von uns nicht den Unterschied zwischen einem Spiralbohrer, sagen wir mal, und einem Drillbohrer kannte. Auch seine Kapelle aus altem Blech war noch unverkennbar die gleiche: das verbeulte, gräßlich rappelnde Ding mit den Einschußstellen zahlreicher Kugeln und dem abgesprungenen Lack. Sie war sein ganzer Stolz, dieses Monstrum, dieses ausgediente Transportflugzeug, das er kurzerhand auf vier Räder setzte und in ein Auto verwandelte; eigentlich in einem Omnibus, der außer seinem Führer noch dreißig Personen faßte. Als nach der Landung der Engländer das Benzin einmal knapp wurde, baute er kurzweg einen Holzgasgenerator, was sagst du, und setzte ihn, eigentlich mehr aus Unsinn, seiner Kapelle auf. Vorne das große eiserne Kreuz und hinten der Holzgasgenerator – das war der 75 ganze Vorage, ein konstruktives Genie. Seine Leidenschaft war die Technik, mit der Erbsünde stand er auf gutem Fuß, denn eine paradiesische Welt hätte er nicht ertragen. Er mußte verbessern. Er mußte vervollkommnen. Mußte die Dinge notwendig komplizierter und die Handhabung einfacher machen. ›Idiotensicher‹ nannte Vorage diesen Vorgang. Und er hatte nicht einmal Unrecht, er kannte die Menschen ganz gut. Genau so behandelte er die Seelen. Sie gefielen ihm nicht. Sie mußten verbessert, mußten auf Tour gebracht, mußten geölt und mußten vereinfacht werden. Keine Erschütterung durfte die Präzision ihrer Leistung verändern, kein falscher Handgriff den Arbeitsgang stören, ja überhaupt möglich sein. ›Idiotensicher‹ war seine Parole auch in der Seelenführung. Übrigens hatte ich ihn in Verdacht, daß er durchaus nicht so praktisch war, wie er selbst von sich glaubte. Na ja. Du wirst sagen: er war ein Original. Ich weiß nicht. Er war verliebt in den Fortschritt und, wie nur je ein echter Franzose, verliebt in die Vernunft. Das gab ihm etwas Trockenes, weißt du, und einen Schuß Ironie. Manchmal war es verdammt gefährlich, wenn er da zwischen Alarm und Alarm von Flugplatz zu Flugplatz raste, und seine Piloten zusammensuchte, um für sie die Messe zu lesen. Er hatte genug Phantasie, um zu wissen, daß es jeden Augenblick aus sein konnte. Doch er war ganz ohne Furcht. Wenn es besonders dreckig herging, pflegte er mit der linken Backe ein ganz klein wenig zu zucken, weiter nichts, dann zog er ein Scherchen aus seiner Westentasche und schnitt sich, ohne ein Wort zu sagen, das Haar aus den Nasenlöchern. Manchmal habe ich mich gefragt, was ihm eigentlich wichtiger war: seine Technik oder das Missionieren, und einmal, das Radio hatte gerade deutsche Flugzeuge angesagt, fragte ich es ihn selbst.«

»Na – und? Was sagte Pater Vorage?«

»Er hatte wohl keine Zeit mehr, etwas dazu zu sagen; die Luft war dick, in der nächsten Sekunde lagen wir auf dem Bauch. Hernach gab es einiges gut zu machen: die Dakota sah etwas komisch aus und wußte anscheinend selbst nicht mehr recht, wozu sie gebaut worden war. Am Ende fuhren wir schließlich weiter; das heißt: die Dakota 76 fuhr, und wir schoben, dabei erzählte Pater Vorage, daß es von jeher sein Wunsch war, das Pilotenexamen zu machen.

»Na, dazu ist es wohl nicht mehr gekommen?«

»Natürlich nicht. Der Krieg war zu Ende, Vorage und seine Dakota gingen wieder nach Haus. Aber neulich, an dem Etoile, na weißt du, sind wir uns fast in die Arme gefallen vor lauter Zärtlichkeit. Natürlich fragte ich ihn nach seiner Flugzeugkapelle, und ob sie etwa ganz abmontiert oder verschrottet sei. Verschrottet? Im Gegenteil, sagte er. Sie stehe jetzt neben der anderen Kirche, und nächstens werde ein Dominikaner Missionen darin halten. Es sei alles vorhanden: das Kreuz und die Glocke, man brauche nur zu läuten, dann kämen schon Menschen genug.«

»Das will ich wohl glauben. Dreißig Bekehrte werden das Wenigste sein«, sagte Etienne und spuckte aufs neue eine Ladung Kirschkerne aus; er hatte heimlich weitergefressen und schämte sich nicht einmal.

»Wenn ich jetzt nicht Humor hätte . . .«, sagte Fernand aus Bapaume in der Normandie. 77

 


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