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§ 1. Philal. Unsere Erkenntnis geht nicht weiter als unsere Ideen; § 2 auch nicht weiter als das Erfassen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. § 3. Sie kann nicht immer intuitiv sein, weil man die Dinge nicht immer unmittelbar vergleichen kann, z. B. die Größe zweier an Flächeninhalt gleicher Dreiecke, die dieselbe Basis haben, sonst aber sehr verschieden voneinander sind. § 4. Unsere Erkenntnis kann auch nicht immer demonstrativ sein, denn man kann nicht immer die vermittelnden Ideen finden. § 5. Unsere sinnliche Erkenntnis endlich betrifft nur das Dasein derjenigen Dinge, die im gegenwärtigen Moment unsere Sinne treffen. § 6. So sind nicht allein unsere Ideen beschränkt, sondern unsere Erkenntnis ist es noch mehr als unsere Ideen. Gleichwohl zweifle ich nicht, daß die menschliche Erkenntnis viel weiter gebracht werden könnte, wenn die Menschen sich der Auffindung der Mittel zur Vervollkommnung der Wahrheit aufrichtig widmen wollten: mit völliger Geistesfreiheit und mit all dem Fleiß und all der Emsigkeit, die sie zur Beschönigung oder Aufrechterhaltung des Falschen und zur Verteidigung eines Systems anwenden, für welches sie selbst oder vielmehr eine bestimmte Partei und gewisse Interessen, an denen sie beteiligt sind, sich erklärt haben. Alles in allem jedoch vermag unsere Erkenntnis niemals alles dasjenige zu umfassen, was wir in betreff unserer Ideen zu erkennen wünschen können. Wir werden zum Beispiel vielleicht niemals fähig sein, ein einem Kreise gleiches Quadrat zu finden und sicher zu wissen, ob es ein solches gibt.
Theoph. Es gibt verworrene Ideen, wie z. B. die bestimmter sinnlicher Eigenschaften, bei denen wir uns keine völlige Erkenntnis versprechen können. Wenn indes die Ideen deutlich sind, so darf man alles hoffen. Was die Frage des Quadrats betrifft, das dem Kreise gleich sein soll, so hat schon Archimedes gezeigt, daß es ein solches gibt: es ist nämlich dasjenige, dessen Seite die mittlere Proportionale zwischen dem Halbmesser und dem Halbkreis ist. Ja er hat sogar eine Gerade bestimmt, die dem Umfang des Kreises gleich ist, vermittels einer Geraden, die die Spirale berührt, wie andere es vermittels der Tangente an die Quadratrix getan haben. Mit dieser Art Quadratur war Clavius ganz zufrieden Christoph Clavius (1537-1612); besonders als Herausgeber einer lat. Ausgabe der »Elemente« des Euklid bekannt, die 1574 erschien.; ohne hier von dem Verfahren zu sprechen, daß man einen Faden um die Peripherie herumlegt und ihn dann ausbreitet, oder daß man den Kreis abrollen und auf diese Weise eine Cykloide beschreiben läßt, die man dann in eine Grade umformt. Einige verlangen, daß die Konstruktion nur mittels Lineals und Zirkels gemacht werde; aber die meisten Probleme der Geometrie lassen sich, wenn man lediglich dieses Mittel anwendet, nicht konstruieren. Es handelt sich also vielmehr darum, das Verhältnis zwischen Quadrat und Kreis zu finden. Da aber dies Verhältnis sich durch keine endliche Anzahl rationaler Werte ausdrücken läßt, so mußte man, um lediglich Rationalzahlen anzuwenden, eben dies Verhältnis durch eine unendliche Reihe solcher Zahlen ausdrücken, wofür ich einen ziemlich einfachen Weg angegeben habe S. ob. Anm. 42 (Buch I); zum Folgenden vgl. bes. Leibniz' Vorrede zu der von ihm geplanten Schrift »De Quadratura Circuli Arithmetica«, Math. V, 93 ff., sowie den Aufsatz: De vera proportione circuli ad quadratum circumscriptum in numeris rationalibus expressa« Math. V, 118 ff.. Nun möchte man aber wissen, ob es nicht irgendeine endliche Größe gibt, welche diese unendliche Reihe auszudrücken vermag: mag diese Größe auch irrational oder mehr als irrational sein; d. h. man möchte wissen, ob man hierfür eine Abkürzung finden kann. Nun weisen aber die endlichen Ausdrücke, vor allem diejenigen irrationalen Ausdrücke, die noch über die gewöhnlichen irrationalen Werte hinausgehen, eine zu große Mannigfaltigkeit auf, als daß man sie aufzählen und alle von ihnen möglichen Bestimmungen leicht geben könnte. Es gäbe vielleicht noch ein Mittel, dies zu tun, wenn die Irrationalität sich durch eine gewöhnliche Gleichung ausdrücken ließe – oder sogar durch eine ungewöhnliche Gleichung, bei der der irrationale Wert oder selbst die Unbekannte im Exponenten steht Über diese Gleichungen (z. B. von der Form xx + x = a) vgl. Leibniz' Aufsatz »De ortu, progressu et natura Algebrae, nonnullisque aliorum et propriis circa eam inventis« Math. VII, 215. –, wenngleich auch hierzu eine weitläufige Rechnung nötig wäre, zu der man sich nicht leicht entschließen wird, wenn man nicht einst noch eine Abkürzung findet, durch die man sich aus ihr herausfinden kann. Alle unendlichen Ausdrücke dagegen auszuschließen, ist, wie ich selbst erfahren, unmöglich; und unter ihnen gerade den besten zu bestimmen, ist eine Sache von großer Wichtigkeit Statt: »mais d'exclure toutes les Expressions finies« lese ich hier: »infinies«, vgl. Math. V, 120 f.. All dies zeigt, daß der menschliche Geist, besonders wenn das Unendliche im Spiel ist, sich so sonderbare Probleme setzt, daß man sich nicht wundern darf, wenn man Mühe hat, mit ihnen zustande zu kommen, zumal in diesen geometrischen Fragen oft alles von einer Abkürzung abhängt, auf die man sich nicht immer Rechnung machen kann, wie man ja auch die Brüche nicht immer auf kleinere Ausdrücke bringen oder alle Divisoren einer Zahl finden kann. Allerdings kann man diese Divisoren, wenn sie überhaupt angebbar sind, immer finden, weil ihre Aufzählung ein endlicher Prozeß ist; wenn aber das, was man prüfen soll, ins Unendliche veränderlich ist, und von Grad zu Grad steigt, so ist man nicht immer, wenn man es will, Herr darüber, und es ist zu mühsam, alle erforderlichen Anstalten zu treffen, um auf methodische Weise zu versuchen, zu einer Abkürzung oder einer Progressionsregel zu gelangen, die uns der Notwendigkeit, noch weiter zu gehen, überhebt. Und da der Nutzen nicht der Mühe entspricht, so überläßt man es der Nachwelt, hier zu einem glücklichen Abschluß zu kommen, der ihr vergönnt sein wird, wenn diese Mühe oder Weitläufigkeit durch neue Vorbereitungen und neue Wege, die die Zeit uns liefern kann, verringert sein wird. Damit soll nicht gesagt sein, daß man, wenn diejenigen, welche sich von Zeit zu Zeit diesen Studien widmen, die richtigen Mittel, um weiter zu kommen, anwenden wollten, nicht hoffen dürfte, mit der Zeit bedeutend fortzuschreiten. Man darf sich auch nicht einbilden, daß alles schon getan sei, denn selbst in der niederen Geometrie besitzt man noch keine Methode, die besten Konstruktionen zu bestimmen, wenn die Probleme etwas verwickelt sind. Ein gewisser Fortschritt in der Synthese müßte mit unserer Analyse verbunden werden, um einen besseren Erfolg zu erzielen. Ich erinnere mich, davon gehört zu haben, daß der Ratspensionär de Wit sich mit diesem Gegenstand beschäftigt hat Johan de Witt (1625-1672), der bekannte holländische Staatsmann; von seinen mathematischen Schriften ist besonders sein Werk über die Leibrenten (1671, Cantor3 III, 42 ff.) von Bedeutung..
Philal. Eine Schwierigkeit anderer Art ist es, festzustellen, ob ein bloß materielles Wesen denken kann oder nicht. Wir werden das vielleicht niemals auszumachen imstande sein, obgleich wir die Ideen der Materie und des Denkens haben – und zwar deshalb, weil es uns unmöglich ist, lediglich durch die Betrachtung unserer eigenen Ideen, ohne die Offenbarung, zu entdecken, ob nicht Gott irgendeinem materiellen Aggregat, dessen Anordnung er hierfür für geeignet hält, das Vermögen des Bewußtseins und Denkens verliehen oder ob er nicht mit einer so geordneten Materie eine immaterielle denkende Substanz verknüpft und verbunden habe? Denn nach der Maßgabe unserer Begriffe ist es für uns nicht schwerer zu verstehen, daß Gott, wenn es ihm beliebt, mit unserer Idee der Materie das Denkvermögen verbinden könne, als zu verstehen, daß er mit ihr eine andere mit dem Denkvermögen begabte Substanz verknüpfte, weil wir nicht wissen, worin das Denken besteht, und welcher Art von Substanz dies allmächtige Wesen solch ein Vermögen zu verleihen beliebt hat, das sich in einem geschaffenen Wesen nur kraft des Gutdünkens und der Güte des Schöpfers finden kann.
Theoph. Diese Frage ist zweifelsohne unvergleichlich wichtiger als die vorhergehende, aber ich wage Ihnen zu erklären, daß ich wünschen möchte, es wäre ebenso leicht, die Seelen zum Rechttun zu bewegen und die Körper von ihren Krankheiten zu heilen, als wir sie, meiner Ansicht nach, entscheiden können. Ich hoffe, Sie werden mir wenigstens zugeben, daß ich dies aussprechen kann, ohne die Bescheidenheit zu verletzen und ohne in Ermangelung guter Gründe hierüber einfach als Meister abzusprechen, denn nicht allein, daß ich hier nur die allgemein angenommene Ansicht vertrete, glaube ich der Sache auch eine nicht ganz gewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Zuerst gebe ich Ihnen zu, daß, wenn man, wie dies gewöhnlich der Fall ist, nur verworrene Ideen vom Denken und von der Materie besitzt, man sich nicht wundern darf, wenn man kein Mittel sieht, solche Fragen zu entscheiden. So wird, wie ich schon kurz vorher bemerkt habe, auch jemand, der von den Winkeln eines Dreiecks nur solche Ideen hat, wie man sie gemeinhin besitzt, niemals zu der Entdeckung gelangen, daß sie stets zwei rechten Winkeln gleich sind. Man muß in Betracht ziehen, daß die Materie, wenn man sie für ein vollständiges Wesen nimmt (d. h. die zweite Materie, die der ersten, welche etwas rein Passives und mithin Unvollständiges ist, entgegengesetzt ist Vgl. ob. Anm. 20 (Buch II).), nur ein Aggregat oder das Ergebnis eines solchen ist, und daß jedes reale Aggregat einfache Substanzen oder reale Einheiten voraussetzt. Erwägt man ferner, was das Wesen dieser realen Einheiten ist, nämlich die Perzeption und deren Folgen, so wird man sozusagen in eine andere Welt versetzt, nämlich in die intelligible Welt der Substanzen, während man sich zuvor nur unter den sinnlichen Erscheinungen befunden hatte. Diese Erkenntnis des Inneren der Materie zeigt hinlänglich, wessen sie von Natur fähig ist, und daß Gott ihr jedesmal, wenn er ihr Organe verleiht, die geeignet sind, die Vernunfttätigkeit auszudrücken, auch unfehlbar zugleich die immaterielle Substanz, welche denkt, verleihen wird, kraft jener Harmonie, die gleichfalls eine natürliche Folge der Substanzen ist. Die Materie kann ohne immaterielle Substanzen, d. h. ohne die Einheiten, nicht bestehen, daher man nicht mehr fragen darf, ob es Gott frei steht, ihr solche Einheiten zu geben oder nicht. Und wenn jene Substanzen nicht in sich die Übereinstimmung oder Harmonie, von der ich eben gesprochen habe, hätten, so würde Gott nicht nach der Ordnung der Natur handeln. Wenn man ganz einfach vom Geben oder Verleihen der Vermögen spricht, so kehrt man damit zu den nackten Fähigkeiten der Scholastiker zurück und stellt sich kleine, für sich bestehende Wesen vor, die, wie Tauben in dem Taubenschlag, ein und aus gehen können. Man macht aus ihnen also Substanzen, ohne dies gewahr zu werden. Die ursprünglichen Kräfte machen das Wesen der Substanzen selbst aus, und was die abgeleiteten Kräfte oder, wenn Sie wollen, Vermögen betrifft, so sind dies nur Weisen des Seins, die man von den Substanzen ableiten muß; aus der Materie jedoch, sofern sie nur etwas Mechanisches ist, d. h. sofern man mittels Abstraktion nur das unvollständige Sein der ersten Materie oder das rein Passive betrachtet, lassen sie sich nicht ableiten. Denn das, denke ich, werden Sie mir zugeben, daß es nicht in der Macht einer bloßen Maschine steht, die Perzeption, die Empfindung, die Vernunft aus sich hervorgehen zu lassen. Sie müssen also aus irgendeinem anderen substantiellen Dinge hervorgehen. Nimmt man an, daß Gott anders handelt und den Dingen Bestimmungen gebe, die keine Seinsweisen oder aus den Substanzen abgeleitete Modifikationen sind, so heißt dies auf Wunder zurückgreifen, und auf das, was die Scholastik vermöge einer Art Steigerung ins Übernatürliche, potentia obedientalis nannte, wie wenn gewisse Theologen behaupten, daß das Feuer der Hölle die vom Körper losgelösten Seelen brenne. In diesem Falle kann man sogar bezweifeln, ob es das Feuer ist, das hierbei tätig ist, oder ob nicht Gott selber, indem er an Stelle des Feuers tätig ist, diese Wirkung hervorbringt Vgl. hierzu bes. Leibniz' »Betrachtungen über die Lehre von einem einigen, allbefassenden Geist« (Band II, S. 50). Näheres in der Einleitung zu den metaphysischen Schriften. Band II, S. 81 ff..
Philal. Sie überraschen mich ein wenig durch Ihre Aufklärungen und kommen vielem, was ich Ihnen über die Schranken unserer Erkenntnisse sagen wollte, zuvor. Ich würde Ihnen gesagt haben, daß wir nicht im Zustande des Schauens sind, wie die Theologen sich ausdrücken, daß der Glaube und die Wahrscheinlichkeit uns für viele Dinge und besonders hinsichtlich der Immaterialität der Seele genügen müssen, daß alle die großen Endzwecke der Moral und Religion auch ohne die philosophischen Beweise für diese Immaterialität auf hinlänglich festem Grunde ruhen, und daß offenbar der, der uns den Anfang unseres Daseins hienieden als sinnlich-vernünftiger Wesen gegeben und uns eine Reihe von Jahren in diesem Zustande erhalten hat, die Macht und den Willen besitzt, uns einen ähnlichen, mit sinnlicher Empfindung verbundenen Zustand in einem anderen Leben genießen zu lassen und uns hierbei fähig zu machen, die Vergeltung zu empfangen, die er den Menschen je nach ihrer Handlungsweise in diesem Leben bestimmt hat; daß man endlich hieraus schließen kann, daß die Notwendigkeit, sich für oder gegen die Immaterialität der Seele zu entscheiden, nicht so groß ist, als Leute, die für ihre eigenen Meinungen zu leidenschaftlich eingenommen waren, es uns haben glauben machen wollen. Ich wollte Ihnen all dies und noch mehr in diesem Sinne sagen, sehe aber jetzt, welch ein Unterschied es ist, zu behaupten, daß wir von Natur sinnlich empfindend, denkend und unsterblich sind oder daß wir es nur durch ein Wunder sind. In der Tat müßte man, wie ich zugebe, ein Wunder annehmen, wenn die Seele nicht immateriell ist, aber dieser Gedanke an ein Wunder ist nicht nur unbegründet, sondern wird auch auf viele Leute keinen besonders guten Eindruck machen. Auch sehe ich ein, daß man auf die Art, wie Sie die Sache nehmen, über die vorliegende Frage eine vernünftige Entscheidung treffen kann, ohne nötig zu haben, erst den Zustand des Schauens zu genießen und sich in der Gesellschaft jener höheren Geister zu befinden, die in das innere Wesen der Dinge tief eindringen und deren lebhafter und durchdringender Blick und ausgebreitete Erkenntnis uns vermutungsweise ein Bild von dem Glück, das sie genießen müssen, geben kann. Ich hatte geglaubt, daß es gänzlich über unsere Erkenntnis hinausgehe, die sinnliche Empfindung mit einer ausgedehnten Materie und das Dasein mit einem Dinge, das durchaus keine Ausdehnung hat, zu verbinden. Ich war daher auch davon überzeugt, daß diejenigen, welche hierfür Partei nehmen, die unvernünftige Methode gewisser Leute befolgen, die sich, da sie einsehen, daß die Dinge, von einer gewissen Seite angesehen, unbegreiflich sind, blindlings zur entgegengesetzten Partei schlagen, obwohl auch deren Entscheidung nicht weniger unbegreiflich ist. Dies kam meines Erachtens daher, daß die einen, deren Geist gleichsam zu tief in die Materie versenkt ist, dem, was nicht materiell ist, keinerlei Existenz zuzugestehen vermochten; während die anderen, da sie fanden, daß das Denken nicht zu den natürlichen Vermögen der Materie gehöre, daraus den Schluß zogen, daß selbst Gott einer körperlichen Substanz nicht Leben und Bewußtsein geben könne, ohne eine immaterielle Substanz mit ihr zu verknüpfen. Jetzt aber sehe ich, daß, wenn er es täte, dies durch ein Wunder geschehen müßte, und daß diese Unbegreiflichkeit der Einheit von Seele und Körper oder der Verknüpfung sinnlicher Empfindung mit der Materie durch Ihre Hypothese von der vorherbestimmten Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Substanzen zu verschwinden scheint.
Theoph. In der Tat enthält diese neue Hypothese nichts Unbegreifliches, weil sie der Seele und dem Körper nur solche Bestimmungen zuschreibt, die wir in uns selbst und an ihnen erfahren, und weil sie diese Bestimmungen nur als besser geregelt und verknüpft, als man es bisher geglaubt hat, hinstellt. Die Schwierigkeit, die hier noch zurückbleibt, gilt nur für die, welche das, was nur durch den Verstand erkennbar ist, mit der Einbildungskraft erfassen wollen, wie wenn sie die Töne sehen oder die Farben hören wollten; und dies sind jene, die allem nicht Ausgedehnten das Dasein absprechen, was sie eigentlich nötigt, es Gott selbst abzusprechen, d. h. auf die Ursachen und Gründe der Veränderungen, und zwar gerade dieser bestimmten Veränderungen, zu verzichten. Denn diese Gründe können nicht von der Ausdehnung und von bloß passiven Wesenheiten, ja nicht einmal lediglich aus den besonderen und untergeordneten tätigen Naturen ohne die reine und allgemeine Tätigkeit der obersten Substanz herstammen.
Philal. Was die Dinge betrifft, deren die Materie ihrer Natur nach fähig ist, so bleibt mir noch ein Einwurf übrig. Der Körper ist, soweit wir es uns vorstellen können, nur fähig, einen anderen Körper zu stoßen und auf ihn einzuwirken, und die Bewegung kann nichts anderes als wiederum Bewegung erzeugen, so daß wir, wenn wir darin übereinkommen, daß der Körper Lust oder Schmerz oder wenigstens die Idee einer Farbe oder eines Tones erzeugt, gezwungen zu sein scheinen, unsere Vernunft aufzugeben und, über unsere eigenen Ideen hinausgehend, diese Hervorbringung der bloßen Willkür unseres Schöpfers zuzuschreiben. Welchen Grund haben wir also zu der Annahme, daß es sich mit der Perzeption in der Materie nicht ebenso verhalte? Ich sehe ungefähr, was man darauf erwidern kann, und obwohl Sie hierüber schon mehr als einmal gesprochen, so verstehe ich Sie doch jetzt besser als früher. Ich werde mich indessen freuen, noch zu hören, was Sie mir bei dieser wichtigen Gelegenheit hierauf zu antworten haben.
Theoph. Ich werde Ihnen, wie Sie ganz richtig annehmen, erklären, daß die Materie nicht Lust, Schmerz oder Empfindung in uns erzeugen kann. Die Seele ist es, welche dies alles entsprechend den Vorgängen in der Materie, in sich erzeugt. Auch fangen manche tüchtigen Männer unter den Neueren an, sich dahin zu erklären, daß sie die Gelegenheitsursachen nicht anders als ich verstehen. Dies vorausgesetzt, findet nun hier nichts Unbegreifliches statt: außer daß wir nicht allen Inhalt unserer verworrenen Perzeptionen, die sogar ans Unendliche grenzen und die der Ausdruck der Einzelvorgänge in den Körpern sind, völlig zu entwirren vermögen. Was ferner die freie Willkür des Schöpfers betrifft, so muß man sagen, daß sie mit den Wesenheiten der Dinge dergestalt übereinstimmt, daß sie in diesen nur das hervorbringt und erhält, was ihnen zukommt und was sich aus ihrer eigenen Natur, wenigstens im allgemeinen, erklären läßt, – denn das Einzelne zu erklären geht oft über unsere Kräfte, etwa so wie die Mühe, die wir aufwenden müßten, um die Körner eines Berges aus Sand nach der Ordnung der Figuren zu gliedern, obwohl hierbei die Schwierigkeit lediglich in der Menge besteht. Wenn indessen diese Erkenntnis, an sich selbst genommen, über unser Verständnis hinausginge und wir nicht einmal den Grund der Beziehungen der Seele und des Körpers im allgemeinen begreifen könnten, wenn endlich Gott den Dingen zufällige, von ihren Wesenheiten losgelöste und mithin der Vernunft im allgemeinen fremde Kräfte gäbe: so wäre dies eine Hintertür, durch die man jene nur allzu dunklen Qualitäten, die kein Geist verstehen kann, wieder zurückrufen könnte und jene kleinen, aller Vernunft baren Kobolde von Vermögen
Et quidquid schola finxit otiosa:
hilfreiche Kobolde, die wie die Götter auf dem Theater oder die Feen im Amadis erscheinen, um einem Philosophen im Notfall alles, was er nur verlangen kann, ohne Umstände und ohne Werkzeuge zu verrichten. All dies aber auf das Gutdünken Gottes zurückführen zu wollen, scheint ihm, der die höchste Vernunft ist, und bei dem alles geregelt, alles in Harmonie ist, nicht allzusehr zu geziemen. Ein derartiges Gutdünken wäre nicht einmal gut Im franz. Text: »Ce bon plaisir ne seroit pas même bon, ny plaisir«., wenn nicht zwischen der Macht und der Weisheit Gottes ein beständiger Parallelismus stattfände.
§ 8. Philal. Unsere Erkenntnis der Einerleiheit und Verschiedenheit reicht ebensoweit wie unsere Ideen; dagegen ist (§ 9 u. 10) die Erkenntnis des Zusammenhangs unserer Ideen, im Hinblick auf ihr Zusammenbestehen in ein und demselben Subjekt, sehr unvollständig und fast überhaupt nicht vorhanden, (§ 11) vor allem was die sekundären Eigenschaften, wie die Farben, die Töne, Geschmäcke, betrifft, (§ 12) weil wir deren Verknüpfung mit den primären Eigenschaften nicht kennen, d. h. (§ 13) nicht wissen, in welcher Weise sie von der Größe der Figur oder der Bewegung abhängig sind. § 15. Etwas mehr wissen wir von der Unverträglichkeit dieser sekundären Eigenschaften untereinander: so kann z. B. ein Gegenstand nicht zwei Farben zu gleicher Zeit haben, und wenn es scheint, daß man solche in einem Opal oder einem Aufguß von Lignum nephriticum sieht, so gilt dies doch nur von den verschiedenen Teilen des Gegenstandes (§ 16). Ebenso verhält es sich mit den tätigen und leidenden Kräften der Körper. In diesem Falle müssen unsere Untersuchungen von der Erfahrung abhängig sein.
Theoph. Die Ideen der sinnlichen Eigenschaften sind verworren, und die Kräfte, durch die sie hervorgebracht sein müssen, liefern infolgedessen gleichfalls nur Ideen, in denen eine gewisse Verworrenheit herrscht: so kann man denn die Verknüpfungen dieser Ideen nicht anders als durch die Erfahrung erkennen, insofern man sie auf die distinkten Ideen, die sie begleiten, zurückführt, wie man dies z. B. mit den Farben des Regenbogens und der Prismen getan hat. Diese Methode ist der Beginn einer Analyse, welche in der Physik von großem Nutzen ist und durch deren Verfolg, wie ich nicht zweifle, auch die Medizin mit der Zeit bedeutende Fortschritte machen wird, besonders wenn das Publikum sich ein wenig mehr als bisher dafür interessiert.
§ 18. Philal. Was die Erkenntnis der Beziehungen betrifft, so ist dies das weiteste Feld unserer Erkenntnisse, und es ist schwer zu bestimmen, wie weit es sich ausdehnen kann. Die Fortschritte sind von dem Scharfsinn in der Auffindung der vermittelnden Ideen abhängig. Diejenigen, welche die Algebra nicht kennen, können sich die erstaunlichen Dinge nicht vorstellen, welche man in diesem Felde vermittels dieser Wissenschaft verrichten kann. Und es wird nicht leicht sein, zu bestimmen, welche neuen Mittel zur Vervollkommnung der anderen Teile unserer Erkenntnis durch einen durchdringenden Geist noch erfunden werden könnten. Wenigstens sind die Ideen, die sich auf die Größe beziehen, nicht die einzigen, die des Beweises fähig sind; es gibt andere – und zwar solche, die vielleicht den wichtigsten Teil unserer Betrachtungen ausmachen –, von denen man sichere Erkenntnisse ableiten könnte, wenn die Laster, die Leidenschaften und die herrschenden Interessen sich der Ausführung eines solchen Unternehmens nicht geradezu widersetzten.
Theoph. Was Sie da sagen, ist unbedingt wahr. Was gibt es Wichtigeres, – vorausgesetzt, daß es wahr ist, – als das, was wir, wie ich glaube, über die Natur der Substanzen, über die Einheiten und Vielheiten, über die Einerleiheit und Verschiedenheit, über die innere Beschaffenheit der Individuen, über die Unmöglichkeit des leeren Raumes und der Atome, über den Ursprung der Kohäsion, über das Kontinuitätsgesetz und über die anderen Naturgesetze, vorzüglich aber über die Harmonie der Dinge, die Immaterialität der Seelen, die Einheit von Seele und Körper, die Erhaltung der Seelen, ja selbst die des Tieres über den Tod hinaus, festgestellt haben. Und in dem allem ist nichts, was ich nicht für bewiesen oder beweisbar halte.
Philal. Allerdings scheint Ihre Hypothese außerordentlich konsequent und von großer Einfachheit zu sein, und ein Gelehrter Bayle; vgl. Band II, S. 66, 382 ff., 448., der sie in Frankreich hat widerlegen wollen, gesteht öffentlich, von ihr überrascht worden zu sein. Und zwar ist diese Einfachheit, soviel ich sehen kann, eine äußerst fruchtbare. Es wird gut sein, diese Lehre mehr und mehr ins rechte Licht zu stellen. Aber als ich von den Dingen sprach, die uns am nächsten angehen, habe ich an die Moral gedacht, für welche Ihre Metaphysik, wie ich zugebe, die vortrefflichsten Stützen gibt: doch sind ihre Grundlagen, auch ohne so weit vorzudringen, fest genug, wenngleich sie sich vielleicht (wie Sie, soviel ich mich erinnere, bemerkt haben), nicht so weit erstrecken, wenn nicht eine natürliche Theologie, gleich der Ihrigen, ihnen als Stütze dient. Doch dient bereits die bloße Betrachtung der Güter dieses Lebens dazu, wichtige Folgerungen für die Ordnung der menschlichen Gesellschaften festzusetzen. Man kann über das Rechte und Unrechte ebenso unbestreitbare Urteile fällen, wie in der Mathematik; der Satz z. B.: Wo es kein Eigentum gibt, kann es auch keine Ungerechtigkeit geben, ist ebenso gewiß wie irgendein Beweis aus dem Euklid, da das Eigentum das Recht auf eine gewisse Sache ist und die Ungerechtigkeit die Verletzung eines Rechts. Ebenso verhält es sich mit dem Satze: Keine Regierung bewilligt eine absolute Freiheit. Denn die Regierung besteht in der Aufstellung gewisser Gesetze, deren Innehaltung sie fordert, und die absolute Freiheit ist die Macht, welche jeder hat, zu tun, was ihm beliebt.
Theoph. Für gewöhnlich bedient man sich des Wortes Eigentum in etwas anderem Sinne, denn man versteht darunter ein Recht, das jemand mit Ausschluß des Rechtes jedes anderen, an einer Sache hat. Wenn es daher auch kein Eigentum gäbe, und alles gemeinschaftlich wäre, so könnte es doch nichtsdestoweniger Ungerechtigkeit geben Denn »Eigentum« gibt es nach Leibniz nur vom Standpunkt und unter der Herrschaft des »jus strictum«, welches selbst indes nur die unterste Stufe der Gerechtigkeit überhaupt, der »justitia universalis« bildet. Näheres in der »Méditation sur la notion commune de la justice« Band II, S. 512 ff.. Ferner muß man in der Definition des Eigentums unter den Begriff »Sache« auch die Handlung einbegreifen: denn auch wenn es kein Recht auf Sachen gäbe, so würde es doch immer eine Ungerechtigkeit sein, die Menschen daran zu hindern, eine für sie notwendige Handlung zu vollziehen. Gemäß dieser Erklärung aber ist es unmöglich, daß es kein Eigentum gibt. Was den Satz von der Unvereinbarkeit einer Regierung mit der absoluten Freiheit betrifft, so gehört er zu den Korollarien, d. h. zu den Sätzen, welche nur anzumerken nötig ist. In der Rechtsgelehrsamkeit gibt es Korollarien noch zusammengesetzterer Art; wie z. B. diejenigen, die das jus accrescendi, und diejenigen, die die Bedingungen und verschiedene andere Gegenstände betreffen. Ich habe dies in meiner Jugend in Thesen über die Bedingungen gezeigt, wo ich einige dieser Sätze bewiesen habe Die These, die Leibniz im Jahre 1665 verteidigt hat (s. Guhrauer, Leibniz' Leben, S. 36 f.) und die er im Jahre 1672 unter seinen »Specimina juris« erscheinen ließ, führt den Titel: Specimen Certitudinis seu demonstrationum in jure exhibitum in doctrina Conditionum« (S. Dutens IV, P. 3, p. 92 ff.). – Das »jus accrescendi« bezeichnet im römischen Erbrecht das Recht, das einem Erben durch das Ausscheiden eines seiner Miterben zuwächst (vgl. Dernburg, Pandekten3, III, 174 ff.)., und wenn ich die Muße hätte, würde ich sie noch einmal überarbeiten.
Philal. Dies würde den Wißbegierigen Vergnügen machen und könnte verhindern, daß jemand sie wieder auflegen lasse, ohne daß sie neu bearbeitet wären.
Theoph. Dies ist meiner Ars combinatoria widerfahren, worüber ich mich schon beklagt habe. Es war dies eine Frucht meiner frühesten Jünglingszeit, und dennoch druckte man sie lange nachher wieder ab, ohne mich um Rat zu fragen, ja ohne auch nur zu bemerken, daß es sich um eine zweite Auflage handle, was bei manchen den für mich nachteiligen Glauben erweckte, daß ich fähig sei, eine solche Arbeit im vorgerückten Alter zu veröffentlichen; denn obwohl darin Gedanken von einiger Wichtigkeit sind, die ich noch heute billige, so gab es darin gleichwohl auch solche, die sich nur für einen jungen Studierenden geziemten Der zweite unberechtigte Abdruck der »Dissertatio de arte combinatoria« ist im Jahre 1690 in Frankfurt a. M. erschienen. Leibniz hat gegen diese Ausgabe in einer Note protestiert, die er in die Leipziger »Acta Eruditorum« vom Jahre 1691 einrücken ließ (vgl. Gerh. IV, 103 ff.)..
§ 19. Philal. Ich finde, daß die Figuren ein großes Hilfsmittel gegen die Ungewißheit der Worte bilden; eben dies Mittel aber ist bei den moralischen Ideen nicht anwendbar. Überdies sind die Ideen der Moral zusammengesetzter als die Figuren, die man gewöhnlich in der Mathematik betrachtet. Daher hat der Geist bei dem Inhalt der moralischen Ideen Mühe, die genauen Verbindungen auf eine so vollkommene Art festzuhalten, als es bei langen Deduktionen notwendig wäre. Wenn man in der Arithmetik die verschiedenen Posten nicht durch Zeichen ausdrückte, deren Bedeutung genau bekannt ist, und die stehen bleiben und uns beständig vor Augen sind, so würde es fast unmöglich sein, große Rechnungen zu machen. § 20. Die Definitionen bieten hier ein gewisses Hilfsmittel, wenn man sie in der Moral beständig anwendet; im übrigen aber ist es nicht leicht, vorauszusehen, welche Methoden durch die Algebra oder irgendein anderes Mittel dieser Art etwa dargeboten werden könnten, um der übrigen Schwierigkeiten Herr zu werden.
Theoph. Der verstorbene Erhard Weigel, ein Mathematiker aus Jena in Thüringen, erfand mit vielem Geiste Figuren zur Darstellung moralischer Gegenstände Erhard Weigel (1625-1699), Leibniz' Lehrer der Mathematik während seines Aufenthalts in Jena (1663); über ihn und seine »Sphaera moralis« (»elegantissimae illae, quibus passim utitur, analogiae rerum mathematicarum cum moralibus) s. bes. Leibniz' Animadversiones ad Weigelium (Nouv. lettr. et opusc. S. 146 ff.).. Und als der selige Samuel von Puffendorf, der sein Schüler war, seine »Grundzüge der allgemeinen Jurisprudenz« veröffentlichte, die den Gedanken Weigels ziemlich nahestehen, fügte man denselben in der Jenaischen Ausgabe die » moralische Sphäre« dieses Mathematikers hinzu. Aber diese Figuren sind eine Art Allegorie, etwa wie die Tafel des Cebes Die »Tafel des Cebes«, der Dialog »Πίναξ«, der dem aus Platons Phaedon bekannten Kebes, einem Schüler des Sokrates, zugeschrieben wurde; über den Inhalt vgl. z. B. Willamowitz-Möllendorff, Die griechische Literatur des Altertums, (Die Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. VIII) 2. Aufl. Leipzig 1907, S. 157., wenngleich weniger populär, und dienen mehr dem Gedächtnis, um die Ideen zu behalten und zu ordnen, als dem Urteile, um demonstrative Erkenntnisse zu erwerben. Nichtsdestoweniger haben sie ihren Nutzen, um den Geist zu wecken. Die geometrischen Figuren scheinen einfacher als die moralischen Gegenstände, aber sie sind es nicht, weil das Kontinuierliche die Unendlichkeit in sich schließt, in der man seine Wahl treffen muß. Die Aufgabe z. B., ein Dreieck durch zwei aufeinander senkrecht stehende Gerade in vier gleiche Teile zu zerlegen, erscheint einfach, ist aber ziemlich schwer. Mit den moralischen Problemen dagegen, sofern sie allein durch die Vernunft bestimmbar sind, verhält es sich anders. Übrigens ist hier nicht der Ort de proferendis scientiae demonstrandi pomoeriis zu sprechen und die wahren Mittel anzugeben, um die Kunst des Beweisens über ihre alten Grenzen hinaus, die bisher fast gänzlich mit den Grenzen des mathematischen Gebietes zusammenfielen, zu erweitern. Ich hoffe, wenn Gott mir die dazu nötige Zeit schenkt, einmal hierüber einen Versuch zu veröffentlichen, der diese Mittel tatsächlich ins Werk setzen soll, ohne mich auf bloße Vorschriften zu beschränken.
Philal. Wenn Sie diesen Plan, und zwar gehörigermaßen ausführen, so werden Sie alle Philalethen, wie mich, d. h. alle die, die aufrichtig nach der Erkenntnis der Wahrheit streben, unendlich verbinden. In der Tat ist die Wahrheit ihrer Natur nach für die Geister anmutend, während es nichts so Häßliches und mit dem Verstand Unverträgliches gibt, als die Lüge. Man darf indessen nicht hoffen, daß man großen Eifer auf diese Entdeckungen wenden werde, so lange die Sucht nach Reichtümern und Macht und die Wertschätzung, in der beides steht, die Menschen antreiben wird, die von der Mode autorisierten Meinungen zu den ihrigen zu machen und hinterher Gründe aufzusuchen, um sie als richtig darzustellen oder sie zu beschönigen und ihre Häßlichkeit zu verdecken. So lange die verschiedenen Parteien ihre Meinungen, ohne zu prüfen, ob sie falsch oder richtig sind, allen denen aufdrängen, die sie unter ihrer Gewalt haben können: welches neue Licht kann man da in den der Moral zugehörigen Wissenschaften erhoffen? Vielmehr müßte unter diesen Umständen derjenige Teil des Menschengeschlechts, der sich unter dem Joch befindet, in den meisten Gegenden der Welt in einer Finsternis, ebenso dicht wie die ägyptische, befangen sein, wenn das Licht des Herrn, jenes heilige Licht, welches alle menschliche Macht nicht gänzlich auslöschen kann, nicht dem Geiste selber unmittelbar gegenwärtig wäre.
Theoph. Ich verzweifle nicht daran, daß zu einer ruhigeren Zeit oder in einem ruhigeren Lande die Menschen sich mehr, als es bisher geschehen ist, dem Gebote der Vernunft fügen werden. Denn man darf in der Tat an nichts verzweifeln, und ich glaube, daß dem Menschengeschlecht große Veränderungen in Gutem und Schlimmem aufbehalten sind, aber schließlich mehr im Guten als im Schlimmen. Gesetzt, daß einmal ein großer Fürst erschiene, der wie die alten Könige von Assyrien oder von Ägypten oder wie ein zweiter Salomo lange in tiefem Frieden regierte, und daß dieser Fürst aus Liebe zur Tugend und Wahrheit und mit großem und tüchtigem Geiste begabt, sich vornähme, die Menschen glücklicher und unter sich friedfertiger und mächtiger über die Natur zu machen – welche Wunder würde er nicht in wenig Jahren vollbringen? Denn sicherlich würde man in diesem Falle in zehn Jahren mehr ausrichten, als sonst in hundert oder vielleicht in tausend, wenn man die Dinge ihren gewöhnlichen Weg gehen läßt. Aber auch abgesehen hiervon würden, wenn nur einmal die Bahn gebrochen wäre, viele sie beschreiten, wie dies in der Geometrie der Fall ist, wäre es auch nur zu ihrem Vergnügen oder um Ruhm zu erwerben. Die Allgemeinheit wird dereinst, besser geleitet, der Förderung der Medizin mehr Sorgfalt, als bisher, zuwenden; man wird in allen Ländern Naturgeschichten wie Almanache oder galante Merkure herausgeben; man wird keine gute Beobachtung vorübergehen lassen, ohne sie zu registrieren; man wird die, die sich hiermit beschäftigen, unterstützen; man wird die Kunst, solche Beobachtungen zu machen, und die Kunst, hierauf Bemerkungen zu gründen, vervollkommnen. Es wird eine Zeit geben, wo die Zahl der guten Ärzte im Verhältnis größer und die Zahl mancher Leute anderer Berufe, deren man dann weniger bedürfen wird, entsprechend kleiner geworden sein wird, so daß das Publikum imstande sein wird, der Naturforschung und vor allem dem Fortschritte der Medizin mehr Aufmunterung zu geben, und dann wird diese wichtige Wissenschaft sehr bald über ihren jetzigen Standpunkt sich erheben und zusehends wachsen. Ich glaube in der Tat, daß dieser Teil der Staatsverwaltung, nach der Pflege der Tugend, die größte Sorge der Regierenden bilden sollte, und daß einer der größten Erfolge einer vernünftigen Moral oder Politik darin bestehen würde, uns einen besseren Zustand der Medizin herbeizuführen: wenn nur erst die Menschen anfangen werden, vernünftiger zu sein als jetzt und die Großen lernen werden, ihre Reichtümer und ihre Macht für ihr eigenes Glück besser anzuwenden.
§ 21. Philal. Was die Erkenntnis des wirklichen Daseins – die vierte Art der Erkenntnisse – angeht, so muß man sagen, daß wir von unserem Dasein eine intuitive, von dem Dasein Gottes eine demonstrative und von den übrigen Dingen eine sinnliche Erkenntnis haben. Davon werden wir in der Folge weitläufig reden.
Theoph. Nichts kann treffender sein.
§ 22. Philal. Nachdem wir jetzt von der Erkenntnis gesprochen haben, scheint es angebracht, daß wir, um den gegenwärtigen Zustand unseres Geistes besser zu entdecken, auch seine dunkle Seite ein wenig in Betracht ziehen und von unserer Unwissenheit Kenntnis nehmen, denn sie ist unendlich viel größer als unsere Erkenntnis. Die Ursachen dieser Unwissenheit bestehen in folgendem: 1. daß uns Ideen fehlen, 2. daß wir die Verknüpfung zwischen unseren Ideen nicht entdecken können und 3. daß wir außer acht lassen, die Ideen zu verfolgen und genau zu prüfen. § 23. Was den Mangel an Ideen betrifft, so haben wir von einfachen Ideen nur diejenigen, welche uns durch unsere inneren oder äußeren Sinne zukommen. Daher stehen wir zu einer unendlichen Zahl von Geschöpfen des Weltalls und ihren Eigenschaften im selben Verhältnis, wie die Blinden zu den Farben, da wir nicht einmal die Fähigkeiten besitzen, die zu ihrer Erkenntnis notwendig wären, und allem Anscheine nach nimmt der Mensch unter allen geistigen Wesen den untersten Rang ein.
Theoph. Ich weiß nicht, ob es nicht noch solche gibt, die unter uns stehen. Warum sollten wir uns ohne Not erniedrigen? Vielleicht nehmen wir unter den vernünftigen Lebewesen einen ganz ehrenvollen Rang ein; denn höhere Geister könnten Körper von anderer Beschaffenheit haben, so daß der Name Lebewesen für sie nicht passen würde. Man kann nicht sagen, ob unsere Sonne, unter der großen Zahl anderer, mehr über als unter sich hat, und wir befinden uns an einem günstigen Platze innerhalb des Sonnensystems: denn die Erde nimmt die Mitte unter den Planeten ein und ihre Entfernung scheint für ein denkendes Wesen, das sie bewohnen sollte, wohl gewählt. Übrigens haben wir unendlich mehr Grund, uns über unser Los zu freuen, als darüber zu klagen, da die meisten unserer Übel unserer eigenen Schuld zugerechnet werden müssen. Vor allem aber würden wir sehr Unrecht haben, uns über die Mängel unserer Erkenntnis zu beklagen, da wir uns ja derjenigen Kenntnisse, welche die liebreiche Natur uns darbietet, so wenig bedienen.
§ 24. Philal. Es bleibt jedoch wahr, daß die außerordentliche Entfernung fast aller Teile der Welt, die sich unserem Blicke darbieten, sie unserer Erkenntnis entzieht, und augenscheinlich ist die sichtbare Welt nur ein kleiner Teil des unendlichen Weltalls. Wir sind in einem kleinen Winkel des Raumes, d. h. in unserem Sonnensystem, eingeschlossen und wissen nicht einmal das, was auf den anderen Planeten, die ebenso gut, wie unsere Erdkugel, um sie kreisen, vor sich geht.
§ 25. Diese Kenntnisse entgehen uns wegen der Größe und Entfernung der Gegenstände, andere Körper aber bleiben uns wiederum wegen ihrer Kleinheit verborgen, und zwar sind dies gerade die, deren Erkenntnis uns am wichtigsten wäre, denn aus ihrer Struktur könnten wir den Nutzen und die Wirkungsart der sichtbaren Körper erschließen und einsehen, warum der Rhabarber abführt, der Schirling tötet und das Opium einschläfert. So weit also auch immer der Fleiß des Menschen die experimentelle Forschung betreffs der Dinge der Natur treiben mag, so bin ich doch zu glauben versucht, daß wir in diesen Fragen niemals zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis werden kommen können.
Theoph. Ich glaube wohl, daß wir niemals so weit gelangen werden, als es zu wünschen wäre; mir scheint indessen, daß man mit der Zeit bedeutende Fortschritte in der Erklärung mancher Erscheinungen machen werde, weil die große Zahl der Erfahrungen, die wir anzustellen vermögen, uns mehr als hinlängliche Data liefern kann, so daß nur die Kunst sie richtig zu verwenden fehlt. Ich verzweifle aber nicht daran, daß man die kleinen Anfänge dieser Kunst weiterführen wird, seitdem wir in der Infinitesimalrechnung das Mittel besitzen, die Geometrie mit der Physik zu verbinden und seit die Dynamik uns die allgemeinen Naturgesetze geliefert hat.
§ 27. Philal. Die Geister stehen unserer Erkenntnis noch ferner; wir können uns keine Idee von ihren verschiedenen Ordnungen bilden und doch ist sicherlich die geistige Welt größer und schöner als die materielle.
Theoph. Diese beiden Welten gehen einander immer parallel, was die wirkenden Ursachen betrifft, nicht aber, was die Endursachen betrifft. Denn in dem Maße, als die Geister über die Materie herrschen, bringen sie in ihr eine wunderbare Ordnung hervor. Deutlich tritt dies in den Veränderungen hervor, die die Menschen zur Verschönerung der Erdoberfläche vorgenommen haben: wie kleine Götter, die dem großen Baumeister des Weltalls nachahmen, obgleich dies nur durch den Gebrauch der Körper und ihrer Gesetze geschieht. Welche Vermutungen bieten sich nicht dar über diese unendliche Menge von Geistern, die über uns erhaben sind? Und da die Geister in ihrer Gesamtheit eine Art von Staat bilden, unter Gott, dessen Regierung vollkommen ist, so sind wir weit entfernt, das System dieser intelligiblen Welt zu begreifen und die Strafen und Belohnungen zu fassen, welche denen, die sie nach strengster Vernunft verdienen, bereitet sind, sowie uns vorzustellen, was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat und was niemals in des Menschen Herz gekommen ist. Alles dies zeigt, daß wir zwar alle deutlichen Ideen besitzen, die erforderlich sind, um die Körper und die Geister überhaupt, nicht aber, um ihre tatsächliche Beschaffenheit im einzelnen zu erkennen, und daß unsere Sinne nicht durchdringend genug sind, um die verworrenen Ideen zu entwickeln, noch weit genug reichen, um sie alle gewahr zu werden.
§ 28. Philal. Was die fehlende Erkenntnis der Verknüpfung unserer Ideen betrifft, so wollte ich Sie darauf hinweisen, daß die mechanischen Wirkungen, die von den Körpern ausgehen, keinerlei Verbindung mit den Ideen der Farben, der Töne, der Gerüche und Geschmäcke, der Lust und des Schmerzes haben, und daß die Verknüpfung zwischen beiden nur vom Belieben und der Willkür Gottes abhängt. Wie ich mich aber erinnere, sind Sie der Ansicht, daß hier eine vollkommene Korrespondenz stattfindet, obgleich diese nicht immer eine vollständige Ähnlichkeit bedeutet S. oben S. 109.. Sie erkennen jedoch an, daß wir infolge des übergroßen Details der kleinen Dinge, die hierbei mitwirken, nicht imstande sind, das, was hierin verborgen ist, zu entwirren, wenngleich Sie noch die Hoffnung hegen, daß wir uns der Sache bedeutend nähern werden. Sie werden also nicht, wie mein berühmter Autor, die Behauptung zulassen, daß es (§ 29) verlorene Mühe sei, sich auf eine solche Untersuchung einzulassen; aus Furcht, daß dieser Glaube dem Wachstum der Wissenschaft Abbruch tue. Ich hätte Ihnen auch von der Schwierigkeit gesprochen, die man bisher darin gefunden hat, die Verbindung von Seele und Leib zu erklären, da man nicht begreifen konnte, daß ein Gedanke eine Bewegung im Körper, noch daß eine Bewegung einen Gedanken im Geiste erzeuge; aber seit ich Ihre Hypothese der prästabilierten Harmonie kenne, scheint mir diese Schwierigkeit, an deren Lösung man verzweifelte, mit einem Schlag und wie durch einen Zauber gehoben.
§ 30. So bleibt also nur noch die dritte Ursache unserer Unwissenheit übrig: daß wir nämlich die Ideen, die wir haben oder doch haben können, nicht gehörig verfolgen und uns nicht bemühen, die vermittelnden Ideen aufzufinden. Auf diese Weise entgehen uns z. B. manche mathematischen Wahrheiten, obgleich hierbei weder eine Unvollkommenheit in unseren Geisteskräften noch irgendeine Unsicherheit in den Dingen selbst vorliegt. Der falsche Gebrauch, den man von den Worten macht, hat am meisten dazu beigetragen, uns an der Auffindung der Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung der Ideen zu hindern; und die Mathematiker, welche ihre Gedanken unabhängig von den Worten bilden und gewohnt sind, statt der Laute die Ideen selbst geistig gegenwärtig zu haben, haben dadurch einen großen Teil der Schwierigkeit vermieden. Wenn die Menschen bei ihren Entdeckungen in der materiellen Welt ebenso verfahren wären, wie sie es bei denen, die die geistige Welt betrafen, getan haben, und wenn sie alles in ein Chaos von Ausdrücken unbestimmter Bedeutung eingehüllt hätten, so würden sie ohne Ende über die Zonen, über Ebbe und Flut, über den Bau der Schiffe und über die Seewege gestritten haben; man würde den Äquator niemals passiert haben, und die Antipoden wären noch jetzt so unbekannt als zu den Zeiten, da man den Glauben an sie für eine Ketzerei hielt.
Theoph. Diese dritte Ursache unserer Unwissenheit ist die allein tadelnswerte. Und Sie sehen, daß die Verzweiflung, weiter zu kommen, gleichfalls unter sie fällt. Diese Mutlosigkeit schadet viel, und gescheite und bedeutende Menschen haben die Fortschritte der Medizin durch die falsche Überzeugung aufgehalten, daß es verlorene Mühe wäre, daran zu arbeiten. Wenn man die aristotelischen Philosophen der vergangenen Zeit von den Lufterscheinungen, wie z. B. vom Regenbogen reden hört, so findet man, daß sie glaubten, man dürfe nicht einmal daran denken, dieses Phänomen in distinkten Begriffen zu erklären, und die Versuche eines Maurolycus und darauf des Marcus Antonius de Dominis erschienen ihnen wie ein Ikarusflug Maurolycus (1494-1575) als Mathematiker und Physiker bekannt (vgl. Cantor, Gesch. der Mathematik3, II, 558; Lasswitz, Gesch. der Atomistik II, 316) »Problemata ad perspectivam et iridem pertinentia« als Anhang der Schrift »De lumine et umbra«, 1575 erschienen; Antonio de Dominis De radiis visus et lucis in vitris perspectivis et iride Tractatus, Venedig 1611.. Die Folgezeit hat indessen die Welt eines Besseren belehrt. Allerdings hat der schlechte Gebrauch, den man von den Termini machte, einen großen Teil der Unordnung verursacht, die sich in unseren Erkenntnissen vorfindet: nicht nur in der Moral und Metaphysik oder in dem, was Sie die geistige Welt nennen, sondern auch in der Medizin, wo dieser Mißbrauch der Termini mehr und mehr zunimmt. Wir können uns nicht immer, wie in der Geometrie, durch Figuren helfen, aber die Algebra zeigt, daß man große Entdeckungen machen kann, ohne immer auf die Ideen der Dinge selbst zurückzugehen. Hinsichtlich der angeblichen Ketzerei der Antipoden will ich noch im Vorübergehen bemerken, daß Bonifacius, Erzbischof von Mainz, den Virgilius von Salzburg in einem Brief, den er hierüber an den Papst richtete, allerdings deswegen verklagt hat und daß der Papst in einer Weise darauf antwortet, die zeigt, daß er ungefähr im Sinne des Bonifacius dachte; man findet aber nicht, daß diese Beschuldigung Folgen gehabt habe. Virgilius hat sich immer behauptet. Beide Gegner gelten für Heilige, und die Gelehrten Bayerns, welche Virgilius als einen Apostel Kärntens und der benachbarten Länder betrachten, haben sein Andenken gerechtfertigt Der angezogene Brief ist in der Sammlung der Briefe des Bonifacius der 140. (Max. Bibl. Patr. Tom. XIII, p. 131-133); darin bezeichnet es der Papst Zacharias als eine verkehrte und falsche Lehre, daß eine andere Welt und andere Menschen unter der Erde (sub terra) seien (Sch.)..