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Kapitel VIII.
Von den inhaltsleeren Sätzen.

Philal. Ich will gern glauben, daß vernünftige Leute sich hüten werden, die identischen Grundsätze in der eben besprochenen Art und Weise anzuwenden. § 2. Es scheint auch, daß jene rein identischen Maximen nur inhaltsleere Sätze sind; nugatoriae, wie die Schulen selbst sie nennen. Ja ich würde mich nicht damit begnügen, zu sagen, daß dies so zu sein scheint, wenn nicht Ihr überraschendes Beispiel, nämlich der Beweis der Konversion der Urteile durch Vermittlung der identischen Sätze mich fortan zur Behutsamkeit anhielte, sobald es sich darum handelt, etwas gering zu schätzen. Indessen will ich Ihnen vortragen, was man geltend macht, um diese Sätze für gänzlich inhaltsleer zu erklären. Der Grund hierfür liegt darin (§ 3), daß man auf den ersten Blick erkennt, daß sie keinerlei Belehrung enthalten, es sei denn, um mitunter jemand die Ungereimtheit, in welche er sich verwickelt hat, klar zu machen.

Theoph. Rechnen Sie das für nichts, und erkennen Sie nicht an, daß einen Satz ad absurdum zu führen, soviel ist, als sein kontradiktorisches Gegenteil beweisen? Freilich glaube ich, daß man jemand nicht dadurch belehrt, daß man ihm sagt, er dürfe nicht das nämliche zu gleicher Zeit leugnen und bejahen, aber man belehrt ihn, wenn man ihm durch zwingende Folgerungen nachweist, daß er, ohne daran zu denken, so verfährt. Es ist meines Erachtens schwierig, sich dieser apagogischen Beweise, d. h. derer, welche auf eine Ungereimtheit führen, in jedem Falle zu entschlagen, und alles durch sogenannte ostensive Beweise darzutun; und die Geometer, die hieran ein großes Interesse nehmen, erfahren dies zur Genüge. Proklus hebt es von Zeit zu Zeit hervor, wenn gewisse alte Geometer, die nach Euklid gekommen sind, einen vermeintlich direkteren Beweis, als den seinigen, gefunden haben. Das Stillschweigen dieses alten Kommentators zeigt jedoch hinlänglich, daß dies nicht in jedem Falle gelungen ist.

§ 3. Philal. Wenigstens werden Sie mir zugeben, daß man (auf diese Weise) eine Million Sätze mit wenig Mühe, aber auch sehr wenig Nutzen bilden kann, denn ist es nicht z. B. leere Mühe, zu bemerken, daß die Auster die Auster ist, und daß es falsch ist, dies zu leugnen und zu sagen, die Auster sei nicht die Auster? Witzig sagt unser Verfasser, daß jemand, der aus dieser Auster bald das Subjekt, bald das Attribut oder Prädikat machen wollte, wie ein Affe sein würde, der sich damit unterhielte, eine Auster aus einer Hand in die andere zu werfen, was seinen Hunger gerade so stillen könnte, als diese Sätze dem Verstande des Menschen genug tun können.

§ 3. Theoph. Ich finde, daß unser ebenso geist- als urteilsvoller Verfasser alle möglichen Ursachen hat, sich gegen diejenigen auszusprechen, die einen solchen Gebrauch von den identischen Sätzen machen würden. Aber Sie erkennen wohl, wie man sie anwenden muß, um sie nützlich zu machen: indem man nämlich auf Grund von Folgerungen und Definitionen zeigt, daß andere Wahrheiten, welche man begründen will, sich auf sie zurückführen lassen.

§ 4. Philal. Ich erkenne das an und sehe wohl, daß man es mit noch mehr Grund auf diejenigen Sätze anwenden kann, die inhaltsleer zu sein scheinen und es in vielen Fällen auch sind, in denen nämlich ein Teil der zusammengesetzten Idee von dem Gegenstand dieser Idee bejaht wird, wie wenn man sagt: das Blei ist ein Metall. In dem Geiste eines Menschen, der die Bedeutung dieser Ausdrücke kennt und der weiß, daß das Blei einen sehr schweren, schmelzbaren und dehnbaren Körper bezeichnet, hat eine derartige Aussage lediglich den Nutzen, daß man ihm, indem man Metall sagt, auf einmal mehrere einfache Ideen bezeichnet, statt sie ihm eine nach der anderen aufzuzählen. § 5. Dasselbe gilt, wenn ein Teil der Definition von dem definierten Ausdruck bejaht wird, wie wenn man sagt: Alles Gold ist schmelzbar, vorausgesetzt, daß man das Gold als einen gelben, schmelzbaren und dehnbaren Körper definiert hat. Ebenso dient die Erklärung, daß das Dreieck drei Seiten hat, daß der Mensch ein lebendes Wesen ist, daß ein Zelter (ein altes Wort) ein Tier ist, das wiehert, nur dazu, die Worte zu definieren, enthält also keine weitere, darüber hinausgehende Belehrung. Man lehrt uns dagegen etwas, wenn man uns sagt, daß der Mensch einen Begriff von Gott habe, und daß das Opium ihn in Schlaf versetze.

Theoph. Abgesehen von dem, was ich über die völlig identischen Sätze gesagt habe, wird man finden, daß auch diese nur zur Hälfte identischen noch ihren besonderen Nutzen haben. Der Satz zum Beispiel: Ein weiser Mensch ist immer ein Mensch, gibt zu erkennen, daß er nicht unfehlbar, daß er sterblich ist usw. Jemand braucht in einer Gefahr eine Pistolenkugel, er hat aber kein Blei, um sie in die Form, die er bei sich hat, zu gießen; da sagt ihm ein Freund: Erinnere dich, daß das Silber, das du in deiner Börse hast, schmelzbar ist. Dieser Freund lehrt ihm alsdann keine neue Eigenschaft des Silbers, aber er veranlaßt ihn, an einen Gebrauch zu denken, den er von ihm machen kann, um sich bei diesem dringenden Bedürfnis Pistolenkugeln zu verschaffen. Ein großer Teil der moralischen Wahrheiten und der schönsten Sentenzen der Schriftsteller ist von dieser Art: sie lehren sehr oft nichts Neues, aber sie veranlassen uns, an das, was wir wissen, zur rechten Zeit zu denken. Jener sechsfüßige Jambus der römischen Tragödie:

Cuivis potest accidere, quod cuiquam potest Bei Seneca (De tranquillitate animi, Cap. 11) als ein Vers des Publius angeführt (Sch).,

(den man, wenngleich weniger hübsch, so ausdrücken könnte:

Was einem mal geschehen kann,
Das kann geschehen jedermann)

erweckt in uns nur die Erinnerung an die menschliche Lage überhaupt:

Quod nihil humani a nobis alienum putare debemus.

Jene Regel der Rechtslehrer: qui jure suo utitur, nemini facit injuriam Die Regel ist aus den »Regulae et praecepta juris«, welche älteren Ausgaben der Institutionen angehängt zu sein pflegen. Der Wortlaut selbst findet sich im Corpus nicht, wohl aber Ähnliches, namentlich Digest, lib. 30 tit. 2, 26 wo Ulpian sich sogar des Bildes bedient, das Leibniz gebraucht und ebendaselbst 24 eine fast gleichlautende Äußerung des Trebatius (Sch.). (der, welcher sein Recht gebraucht, tut dadurch niemand unrecht), scheint inhaltsleer; sie hat indessen in manchen Fällen einen sehr wichtigen Nutzen und lenkt unsere Gedanken genau auf das Erforderliche und Richtige. Wenn z. B. jemand sein Haus soweit, als es durch statutarisches und Gewohnheitsrecht erlaubt ist, höher baute und seinem Nachbar auf diese Weise eine Aussicht nähme, so würde man diesen Nachbar gleich mit dieser Rechtsregel abweisen, wenn er es sich einfallen ließe, sich zu beklagen. Übrigens führen uns die faktischen Sätze oder Erfahrungen, wie die, daß das Opium schlaferregend ist, weiter, als die reinen Vernunftwahrheiten, in denen wir über das Gebiet unserer deutlichen Ideen niemals hinausgelangen. Was den Satz anbetrifft, daß jeder Mensch einen Begriff von Gott hat, so ist das ein Vernunftsatz, wenn unter Begriff »Idee« zu verstehen ist. Denn nach meiner Ansicht ist die Idee von Gott allen Menschen eingeboren; soll aber unter Begriff eine Vorstellung verstanden sein, die im wirklichen Denken tatsächlich vorkommt, so ist es ein faktischer Satz, der von der Geschichte des Menschengeschlechts abhängt. § 7. Wenn man endlich sagt, daß ein Dreieck drei Seiten hat, so ist das nicht so identisch, als es scheint, denn es bedarf einiger Aufmerksamkeit, um einzusehen, daß ein Polygon ebensoviel Winkel als Seiten haben muß: auch würde eine Seite mehr erforderlich sein, wenn das Polygon nicht als geschlossen vorausgesetzt würde.

§ 9. Philal. Die allgemeinen Sätze, die sich auf Substanzen beziehen, scheinen größtenteils nichtig zu sein, wenn sie sicher sind. Wer die Bedeutungen der Worte: Substanz, Mensch, Tier, Form, vegetative, empfindende, vernunftbegabte Seele kennt, kann daraus viele zweifellose aber unnütze Sätze bilden; besonders über die Seele, von der man oft spricht, ohne zu wissen, was sie eigentlich ist. Jeder kann eine zahllose Menge von Sätzen, von Räsonnements und Schlüssen dieser Art in den Büchern der Metaphysik, der scholastischen Theologie und in denen einer gewissen Art Physik ersehen, deren Lektüre ihn über Gott, über die Geister und Körper nichts mehr lehren wird, als das, was er schon wußte, ehe er jene Bücher durchlaufen hatte.

Theoph. Es ist richtig, daß die Kompendien der Metaphysik und manche andere Bücher dieser Art, wie man sie gewöhnlich sieht, nur Worte lehren. Sagt man z. B., daß die Metaphysik die Wissenschaft des Seins im allgemeinen sei, die die Prinzipien des Seins und die hieraus fließenden Bestimmungen erklärt; daß die Prinzipien des Seins Essenz und Existenz seien, und daß die Bestimmungen entweder ursprüngliche sind, nämlich das Eine, Wahre und Gute, oder abgeleitete, nämlich das Selbige und Verschiedene, das Einfache und Zusammengesetzte usw., und gibt man für jeden dieser Ausdrücke nur unbestimmte Begriffe und Wortunterscheidungen – so heißt dies mit dem Namen der Wissenschaft nur Mißbrauch treiben. Indessen muß man den tieferen Scholastikern, wie Suarez Franz Suarez (1548-1617); von seinen Werken vgl. bes. die Schrift »Metaphysicarum disputationum, in quibus et universa naturalis theologia ordinate traditur et quaestiones ad omnes duodecim Aristotelis libros pertinentes accurate disputantur (zuerst: Salamanca 1597). (von dem Grotius so viel hielt), die Gerechtigkeit widerfahren lassen, anzuerkennen, daß bei ihnen mitunter bedeutende Untersuchungen vorkommen, z. B. über das Kontinuum, das Unendliche, die Zufälligkeit, die Realität der Abstrakta, über das Prinzip der Individuation, über den Ursprung der Formen und das Vacuum formarum, über die Seele und deren Vermögen, über die Mitwirkung Gottes in der Tätigkeit der Kreaturen usw., ja auch in der Moral über die Natur des Willens und die Prinzipien der Gerechtigkeit. Man muß mit einem Worte gestehen, daß es doch noch Gold in diesen Schlacken gibt, aber nur Leute von Einsicht können Nutzen daraus ziehen, und die Jugend mit einem Haufen unnützer Dinge zu belasten, weil hie und da etwas Gutes darin steckt, hieße das kostbarste aller Dinge, die Zeit, schlecht zu Rate halten.

Übrigens gebricht es uns nicht ganz und gar an allgemeinen Sätzen über die Substanzen, welche gewiß und zugleich des Wissens wert sind. Es gibt große, vortreffliche Wahrheiten über Gott und die Seele, welche unser gelehrter Verfasser entweder auf eigene Hand oder zum Teil nach anderen gelehrt hat. Auch wir haben dem vielleicht etwas hinzugefügt. Und was die allgemeinen Erkenntnisse hinsichtlich der Körper anbetrifft, so hat man den Sätzen, die Aristoteles hierüber hinterlassen hatte, recht beträchtliche hinzugefügt, und man muß sagen, daß die Physik, selbst die allgemeine, einen weit größeren Realitätsgehalt als zuvor erlangt hat. Was die reale Metaphysik betrifft, so fangen wir sozusagen eben erst an, sie zu begründen, und wir finden bedeutende, in der Vernunft gegründete und durch die Erfahrung bestätigte Wahrheiten, welche sich auf die Substanzen im allgemeinen beziehen. Ich hoffe auch, die allgemeine Erkenntnis der Seele und der Geister ein wenig vorwärts gebracht zu haben. Eine solche Metaphysik ist das, was Aristoteles forderte – sie ist die Wissenschaft, welche bei ihm Ζητουμένη, die ersehnte oder die, die er suchte, heißt Vgl. Aristoteles Metaphysik I, 2, 982 b., und die in bezug auf die anderen theoretischen Wissenschaften das sein muß, was die Wissenschaft der Glückseligkeit in Rücksicht auf die besonderen Disziplinen ist, deren sie bedarf, und was der Architekt im Verhältnis zu den Arbeitern ist. Darum sagte Aristoteles, daß die übrigen Wissenschaften von der Metaphysik, als der allgemeinsten, abhangen und von ihr ihre Prinzipien, die in ihr erwiesen würden, entlehnen müßten. Auch muß man wissen, daß die wahre Moral sich zur Metaphysik wie die Praxis zur Theorie verhält: denn von der allgemeinen Lehre über die Substanzen hängt die Erkenntnis der Geister und insbesondere die Erkenntnis Gottes und der Seele ab, welche erst der Gerechtigkeit und Tugend ihren rechten Umfang gibt. Denn wenn es weder eine Vorsehung noch ein zukünftiges Leben gäbe, so würde, wie ich anderswo bemerkt habe, der Weise in der Ausübung der Tugend beschränkter sein, denn er würde alles nur auf seine gegenwärtige Befriedigung beziehen; und selbst diese Befriedigung, die schon bei Sokrates, beim Kaiser Mark Antonin, bei Epiktet und anderen Alten vorkommt, würde ohne jene schönen und großen Aussichten, welche die Ordnung und Harmonie des Weltalls uns in eine unbegrenzte Zukunft hinein eröffnen, nicht stets so wohl begründet sein. Andernfalls wäre die Seelenruhe nur das, was man erzwungene Geduld nennt; so daß man sagen kann, daß die natürliche Theologie mit ihren zwei Teilen, dem theoretischen und dem praktischen, zugleich die echte Metaphysik und die vollkommenste Sittenlehre enthalte Vgl. hierzu besonders die Einleitung zum »Codex juris gentium diplomaticus«, § XI ff. Dutens IV, P. 3, S. 294 ff..

§ 12. Philal. Das sind ohne Zweifel Erkenntnisse, die keineswegs nichtssagend oder bloß verbaler Natur sind. Von dieser letzteren Art aber scheinen alle diejenigen Sätze zu sein, in welchem ein Abstraktum von einem andern ausgesagt wird, z. B. daß Sparen Mäßigkeit, daß Dankbarkeit Gerechtigkeit ist; denn so blendend solche und andere Sätze dieser Art mitunter auf den ersten Blick erscheinen, so finden wir doch, wenn wir ihren Sinn genau erwägen, daß dies alles weiter nichts als die Bedeutung der Ausdrücke besagt.

Theoph. Die Bedeutungen der Ausdrücke, d. h. die Definitionen, bilden indes im Verein mit den identischen Axiomen die Prinzipien aller Beweise, und da diese Definitionen zugleich derart sein können, daß sich aus ihnen gleichzeitig die Ideen und deren Möglichkeit erkennen läßt, so ist klar, daß das, was hieraus folgt, nicht immer bloß in Worten besteht. Was das angeführte Beispiel betrifft, daß die Dankbarkeit Gerechtigkeit oder vielmehr ein Teil der Gerechtigkeit ist, so ist es nicht zu verachten; denn man erkennt daraus, daß das, was man actio ingrati oder die Klage nennt, welche man gegen Undankbare anstellen kann, in den Gerichtshöfen weniger vernachlässigt werden sollte. Die Römer ließen diese Klage gegen die Liberti oder Freigelassenen zu, und auch heutzutage hat sie hinsichtlich des Widerrufs von Schenkungen statt. Übrigens habe ich schon an einer anderen Stelle gesagt, daß auch von zwei abstrakten Ideen die eine von der andern, der Geschlechtsbegriff vom Artbegriff, prädiziert werden kann, wie wenn man z. B. sagt: die Dauer ist ein Kontinuum, die Tugend ist eine Fertigkeit, aber die universelle Gerechtigkeit ist nicht nur eine Tugend, sondern sie ist sogar die sittliche Tugend in ihrer Gesamtheit.


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