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§ 1. Philal. Wer nicht begriffen hat, von welcher Wichtigkeit es ist, richtige Ideen zu besitzen und ihre Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung zu verstehen, wird glauben, daß wir, wenn wir darüber mit soviel Sorgfalt handeln, Luftschlösser bauen und daß unser ganzes System lediglich ideelle und imaginäre Bestandteile besitze. Ein Phantast von erhitzter Einbildungskraft kann darin vor anderen bevorzugt sein, daß er lebhaftere und zahlreichere Ideen besitzt: er müßte demnach auch größere Erkenntnis besitzen. Ferner müßte in den Visionen eines Enthusiasten ebensoviel Vernunft sein, als in den Schlußfolgerungen eines Menschen von gesunden Sinnen, wenn der Enthusiast nur zusammenhängend spricht; und es wäre ebenso wahr, zu sagen, daß eine Harpye kein Zentaur ist, als zu sagen, daß ein Quadrat kein Kreis ist. § 2. Ich antworte darauf, daß unsere Ideen mit den Dingen übereinstimmen (müssen). § 3. Aber man wird ein Kriterium dafür fordern. § 4. Ich antworte noch einmal, daß 1. diese Übereinstimmung hinsichtlich der einfachen Ideen unseres Geistes offenbar ist, denn da unser Geist sie nicht selbst bilden kann, müssen sie durch die Dinge hervorgebracht sein, die auf ihn einwirken und 2. daß (§ 5) alle unsere zusammengesetzten Ideen (ausgenommen die der Substanzen), da sie Musterbilder sind, die der Geist selbst gebildet hat, ohne sie dazu zu bestimmen, Kopien von irgend etwas zu sein, und ohne sie auf das Dasein irgendeines Dinges, als ihre Originale, zu beziehen, notwendig jene Übereinstimmung mit den Gegenständen besitzen müssen, die zu einer realen Erkenntnis erfordert wird.
Theoph. Unsere Gewißheit würde gering oder vielmehr gleich null sein, wenn sie für die einfachen Ideen keine andere Grundlage besäße, als diejenige, die aus den Sinnen stammt. Haben Sie denn vergessen, wie ich bewiesen habe, daß die Ideen ursprünglich unserem Geiste innewohnen und daß selbst unsere Gedanken aus unserem eigenen Grunde stammen, ohne daß die übrigen Geschöpfe einen unmittelbaren Einfluß auf die Seele haben können? Übrigens liegt der Grund unserer Gewißheit, was die allgemeinen und ewigen Wahrheiten betrifft, in den Ideen selbst, unabhängig von den Sinnen, wie auch die reinen Verstandesideen, wie z. B. die des Seins, des Einen, des Selbigen usw., nicht von den Sinnen abhangen. Die Ideen der sinnlichen Eigenschaften hingegen, wie die der Farbe, des Geschmacks usw. (die in der Tat nur Phantome sind), stammen aus den Sinnen, d. h. aus unseren verworrenen Vorstellungen. Und der Grund der Wahrheit der zufälligen und einzelnen Dinge liegt darin, daß es gelingt, die Erscheinungen der Sinne geradeso zu verknüpfen, wie die intelligiblen Wahrheiten es fordern. Dies ist der Unterschied, den man hierbei machen muß, während die Unterscheidung, die Sie hier zwischen einfachen und zusammengesetzten Ideen und zwischen den zusammengesetzten Ideen, sofern sie sich auf Substanzen oder Akzidenzien beziehen, machen, mir nicht begründet scheint, weil alle Verstandesideen ihre Urbilder in der ewigen Möglichkeit der Dinge haben.
§ 5. Philal. Allerdings brauchen unsere zusammengesetzten Ideen Urbilder außerhalb des Geistes nur dann, wenn es sich um eine wirklich daseiende Substanz handelt, die jene zusammengesetzten Ideen und die einfachen Ideen, aus denen sie bestehen, außerhalb unserer Vorstellung tatsächlich in sich vereinigen muß. Die Erkenntnis der mathematischen Wahrheiten ist eine reale, obgleich sie es nur mit unseren Ideen zu tun hat, und man z. B. nirgends vollkommene Kreise findet. Man ist indessen überzeugt, daß die wirklichen Dinge mit unseren idealen Musterbildern übereinstimmen werden – in dem Maße, als das, was man in jenen voraussetzt, sich tatsächlich verwirklicht findet. § 7. Dies dient ferner auch bei den Dingen der Moral dazu, ihre Realität zu rechtfertigen. § 8. Die Offizien Ciceros sind darum nicht weniger mit der Wahrheit übereinstimmend, weil es niemand in der Welt gibt, der sein Leben genau nach dem Muster eines solchen Rechtschaffenen, wie ihn Cicero uns beschreibt, einrichtet. § 9. Aber, wird man sagen, wenn die moralischen Ideen von unserer Erfindung sind, welchen sonderbaren Begriff werden wir alsdann von der Gerechtigkeit und Mäßigkeit haben? § 10. Ich antworte, daß die Ungewißheit nur in der Sprache besteht, weil man das, was man sagt, nicht immer versteht oder nicht immer im gleichen Sinne versteht.
Theoph. Sie könnten auch und meiner Ansicht nach viel besser antworten, daß die Ideen der Gerechtigkeit und Mäßigkeit nicht von unserer Erfindung sind, ebensowenig wie die des Kreises oder Vierecks. Ich glaube das hinlänglich gezeigt zu haben Näheres in der »Méditation sur la notion commune de la justice« (Band II, S. 506 ff.).
§ 11. Philal. Was die Ideen von außer uns vorhandenen Substanzen betrifft, so ist unsere Erkenntnis soweit real, als sie jenen Urbildern entspricht, und mit Rücksicht hierauf darf der Geist die Ideen nicht willkürlich verbinden, um so weniger, als es nur sehr wenige einfache Ideen gibt, von denen wir – über das hinaus, was durch sinnliche Beobachtungen feststeht – behaupten könnten, daß sie in der Natur miteinander zusammen bestehen oder nicht zusammen bestehen können.
Theoph. Weil, wie ich schon mehrmals erklärt habe, diese Ideen, wenn die Vernunft über ihre Vereinbarkeit oder Verknüpfung kein Urteil zu fällen vermag, verworren sind, wie dies bei den Ideen der besonderen Sinnesqualitäten der Fall ist.
§ 13. Philal. Was die wirklich existierenden Substanzen betrifft, so empfiehlt es sich auch, sich nicht auf die Namen oder auf diejenigen Arten, die man durch die Namen für bestimmt ansieht, zu beschränken. Ich komme bei diesem Anlaß wieder auf das zurück, was wir schon ziemlich oft betreffs der Definition des Menschen erörtert haben. Denn wenn man von einem Blödsinnigen spricht, der vierzig Jahre gelebt hat, ohne das geringste Zeichen von Vernunft zu geben, könnte man da nicht sagen, daß er die Mitte zwischen Mensch und Tier einnimmt? Dies würde vielleicht für ein sehr kühnes Paradoxon oder gar für einen Irrtum von sehr gefährlichen Folgen gelten. Indessen war es früher meine eigene Meinung und ist noch die Meinung mancher Freunde von mir, die ich noch nicht eines Besseren belehren kann, daß dies nur infolge eines Vorurteils geschieht, das sich auf die falsche Voraussetzung gründet, daß die beiden Worte Mensch und Tier bestimmte Arten bezeichnen, welche durch wirkliche Wesenheiten in der Natur so scharf abgegrenzt sind, daß keine andere Art zwischen sie fallen kann: wie wenn alle Dinge genau nach der Zahl jener Wesenheiten gleichsam in Formen gegossen wären. § 14. Wenn man diese Freunde fragt, welche Art von lebenden Wesen jene Blödsinnigen sein sollen, da sie weder Menschen noch Tiere sind, so antworten sie, daß es Blödsinnige sind und daß dies genüge. Fragt man weiter, was aus ihnen in der anderen Welt werden solle, so antworten unsere Freunde, daß ihnen nichts daran gelegen sei, dies zu wissen oder danach zu forschen; – daß sie » ihrem Herrn stehen und fallen« (Römerbrief Kap. 14, V. 4), der gut und getreu ist und über seine Kreaturen nicht nach den engen Schranken unseres Denkens oder unserer besonderen Meinungen verfügt und sie nicht nach den Namen und Arten unterscheidet, die es uns zu ersinnen beliebt; daß es für uns genug ist, wenn die der Unterweisung Fähigen aufgerufen werden, um Rechenschaft von ihrem Wandel abzulegen und ihren Lohn zu empfangen nach dem, was sie bei Leibesleben getan haben (2. Korinth. Kap. 5, V. 10). § 15. Auch den Schluß ihrer Beweisführung will ich Ihnen noch darlegen. Die Frage, ob man den Blödsinnigen das zukünftige Leben absprechen solle, beruht – so sagen sie – auf zwei in gleicher Weise falschen Voraussetzungen; die erste ist, daß jedes Wesen, das die Gestalt und äußere Erscheinung eines Menschen hat, für einen Zustand der Unsterblichkeit nach diesem Leben bestimmt ist; die zweite, daß alles was von menschlicher Abkunft ist, dies Vorrecht genießen muß. Nehmt diese Einbildungen weg und ihr werdet sehen, daß diese Art Probleme lächerlich und unbegründet sind. Ich glaube in der Tat, daß man den ersten Satz aufgeben muß und daß man mit seinem Denken nicht so sehr in der Materie versunken sein wird, um zu glauben, das ewige Leben komme irgendeiner Gestalt von materiellem Stoffe dergestalt zu, daß dieser Stoff in Ewigkeit Bewußtsein haben müsse, weil er in eine solche Gestalt geformt worden ist. § 16. Aber hier kommt der zweite Satz zu Hilfe: man wird sagen, jener Blödsinnige stamme von vernunftbegabten Eltern und müsse daher eine vernunftbegabte Seele haben. Ich weiß nicht, auf welche Regel der Logik man eine solche Folgerung gründen kann, und wie man demgemäß wagen dürfte, schlecht geformte und monströse Geburten zu vernichten. O, das sind Monstra, wird man sagen. Gut, es sei. Aber wie wird es dann mit dem unheilbar Blödsinnigen stehn? Soll denn ein leiblicher Fehler ein Monstrum ausmachen, ein geistiger aber nicht? Das heißt zu der schon widerlegten ersten Annahme zurückkehren, daß das Äußere genügt. Ein wohlgestalteter Blödsinniger ist, dieser Meinung gemäß, ein Mensch, er besitzt eine vernünftige Seele, wenngleich sie sich auch nicht zeigt: aber macht die Ohren ein wenig länger und spitzer und die Nase ein wenig platter als gewöhnlich, so fangt ihr schon an, ungewiß zu werden. Macht das Gesicht enger, platter und länger – dann seid ihr völlig entschieden. Und ist gar der Kopf vollkommen der irgendeines Tieres, so ist's ohne Zweifel ein Monstrum, und das ist euch ein Beweis, daß es keine vernünftige Seele hat und aus der Welt geschafft werden muß. Ich frage euch nun: wo wollt Ihr das rechte Maß und die letzten Grenzen finden, ohne die es keine vernünftige Seele gibt? Es gibt menschliche Fötus, die halb Tier, halb Mensch sind; andere sind zu drei Viertel das eine, zu einem Viertel das andere. Wie soll man da genau die Züge bestimmen, welche die Vernunft bezeichnen? Wird ferner ein solches Monstrum nicht eine Mittelart zwischen Mensch und Tier sein? Und gerade dies ist der Blödsinnige, um den es sich handelt.
Theoph. Ich wundere mich, daß Sie zu dieser Streitfrage, die wir doch hinlänglich, und zwar mehr als einmal, untersucht haben, zurückkehren, und daß Sie Ihre Freunde nicht besser katechisiert haben. Wenn wir den Menschen vom Tier durch das Vermögen des vernünftigen Denkens unterscheiden, so gibt es kein Mittleres; das lebende Wesen, um das es sich handelt, muß dies Vermögen haben oder nicht, aber da das Vermögen mitunter nicht in die Erscheinung tritt, so urteilt man darüber nach Anzeichen, die freilich nicht beweiskräftig sind, bis die Vernunft sich zeigt; denn man weiß durch die Erfahrung an denen, die sie verloren oder die endlich den Gebrauch derselben erlangt haben, daß ihre Ausübung zeitweise aufgehoben werden kann. Die Abkunft und die Leibesgestalt lassen Vermutungen über das Verborgene zu. Doch wird die Vermutung, die sich auf die Abstammung stützt, durch eine von der menschlichen sehr verschiedene Gestalt verwischt ( eliditur): wie dies z. B. der Fall jenes Geschöpfes war, das (nach Levinus Lemnius I. 1, Kap. 8) von einer Frau in Seeland geboren war und das einen krummen Schnabel, einen langen runden Hals, funkelnde Augen, einen spitzen Schwanz hatte und sogleich eine große Fertigkeit besaß, durch das Zimmer zu laufen Levinus Lemnius, de miraculis occultis naturae, L. I, cap. 8 (Sch.).. Aber – so wird man sagen – es gibt Monstra oder sogenannte lombardische Brüder (wie die Ärzte sie früher nannten, auf Grund der Sage, daß die Frauen in der Lombardei Geburten von solcher Art unterworfen wären), die sich der menschlichen Figur mehr annähern. Gut, es sei. Wie also, werdet Ihr sagen, kann man die richtigen Grenzen der Gestalt, die für eine menschliche zu gelten hat, bestimmen? Ich antworte, daß es bei einem Gegenstande, der nur Vermutungen zuläßt, keine bestimmte Entscheidung gibt. Und damit ist die Sache zu Ende. Man wirft ein, der Blödsinnige zeige keine Vernunft und gelte dennoch für einen Menschen, hätte er aber eine monströse Gestalt, so wäre er keiner, so daß man also hierbei mehr Rücksicht auf die Gestalt als auf die Vernunft nehme. Aber zeigt denn jenes Monstrum Vernunft? Freilich nicht. Ihr seht also, daß ihm mehr fehlt, als dem Blödsinnigen. Der Mangel in der Anwendung der Vernunft ist oft nur zeitweilig, hört aber bei denen, die zudem einen Hundekopf besitzen, nicht auf. Wenn übrigens dies Wesen von menschlicher Gestalt kein Mensch ist, so schadet es doch nicht viel, wenn man es, solange man über sein Los im Ungewissen ist, am Leben erhält. Denn mag es eine vernünftige Seele haben oder eine, die das nicht ist, so wird Gott es doch nicht umsonst gemacht haben, und man wird von den Seelen der Menschen, die beständig in einem dem ersten Kindesalter ähnlichen Zustande verharren, sagen, daß ihr Schicksal dasselbe sein möge, als das der Seelen der Kinder, welche in der Wiege sterben.