Leo Leipziger
Der Rettungsball
Leo Leipziger

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XIV.

Eine mittelst Röntgenstrahlen aufgenommene Photographie des Bruches bestätigte die erste Diagnose. Die Heilung versprach anscheinend einen normalen Verlauf.

Aber die Patientin war übler Laune, trotzdem Lenchen und Fränze ihr Möglichstes taten, das alte Fräulein zu erheitern. Der Gedanke, sechs Wochen an das Bett gefesselt bleiben zu müssen und zur Untätigkeit verurteilt zu sein, war für Tante Idas regen Geist unerträglich. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht krank gewesen, und darum empfand sie den Unglücksfall als eine persönliche Beleidigung, die ihr das Schicksal zugefügt hatte.

Am Sonntag war das Malheur passiert. Am Donnerstag hatte sie mit dem Berg-Hirsch eine Unterredung unter vier Augen, und am Freitag ließ sie ihren Notar kommen und erteilte Moritz Generalvollmacht. Er war über den 179 Geschäftsgang informiert; mithin der Einzige, der sie vertreten konnte. Denn der alte Buchhalter war zwar eine zuverlässige Rechenmaschine und eine treue Seele, aber es fehlte ihm jede Initiative, um selbständig disponieren zu können, und zu Max hatte Tante Ida aus begreiflichen Gründen nicht das rechte Vertrauen . . .

Als Sieghard am Freitag Abend zur gewohnten Stunde bei seinem Lehrer erschien, rief ihm Moritz schon beim Eintreten entgegen:

»Heute setzen wir aus, verehrter Freund! . . . Ich habe die Stellvertretung von Fräulein Susemaus übernommen und gedenke mich zunächst würdig auf den Gurkenhandel vorzubereiten . . . Außerdem,« fügte er pfiffig hinzu, »ist nunmehr der Zeitpunkt eingetreten, an dem ich gewisse heimliche Absichten verwirklichen will . . . Ich bin« er deutete auf seine spärlichen, schon recht silbern erglänzenden Haare, »im Nebenberufe 'ne Art Sanatorium »Zum weißen Hirsch« geworden.« . . .

»Zum weisen Hirsch,« unterbrach ihn Sieghard liebenswürdig.

»Keine Komplimente, Herr Baron,« wehrte Moritz ab. »Mein Sanatorium birgt augenblicklich zwei Patienten – den edlen Herrn von Treuenstein und Fräulein Meta Pietschke, 180 in Firma »Salon Andrée«, und Sie beide will ich heute miteinander bekanntmachen – also – auf zu Meta!« . . .

Im Wiegeschritt kam Irma den Besuchern entgegen. Sie war doppelt liebenswürdig, weil ihr der schmucke junge Mann sofort in die Augen stach. Moritz, dem ihre etwas zudringliche Freundlichkeit nicht entging, bemerkte jedoch etwas sarkastisch:

»Pardon, falls Sie mein Wort verletzt,
Der Herr Baron sind schon besetzt.« . . .

Irma errötete – eine ziemlich seltene Erscheinung in ihrem Leben – sandte dem Sprecher einen vernichtenden Blick zu und benachrichtigte schleunigst ihre Prinzipalin . . .

Nachdem Moritz Metas Erkundigung nach Tante Idas Befinden mit einem »Gott sei Dank, recht gut« beantwortet hatte, fügte er feierlich hinzu:

»Erlauben Sie, liebe Meta, daß ich Ihnen Herrn Baron von Treuenstein vorstelle . . . Reicht Euch die Hände, meine Sorgenkinder, und verbrüdert Euch im Zeichen der weltlichen Liebe mit ihren unangenehmen Begleiterscheinungen, als da sind: Langen und Bangen, schwebende Pein, zu Tode betrübt und so weiter.« . . .

181 Meta und Sieghard taten, wie ihnen geheißen.

»Sintemal es aber Freitagabend ist, und der erste Stern schon am Himmel steht,« fuhr Moritz schmunzelnd fort, »so lade ich Euch zum Abendessen bei Berg ein.

Dort sprechen wir von der Familie
Bei grünem Hecht mit Petersilie.« . . .

Eine halbe Stunde darauf saßen sie in dem Restaurant in der Charlottenstraße, und zwar in dem kleinen Zimmer zu ebener Erde, dessen einziges Fenster auf den winzigen Hof hinausführt.

Dort waren sie allein und ungestört.

Moritz stellte das Menü zusammen. Erst grünen Hecht mit Mazzeklößchen, dann eine geschmorte Milz und endlich gefüllten Gänsehals.

Es schmeckte allen dreien ausgezeichnet, und Moritz freute sich über den gesegneten Appetit des Barons.

»Das alte Testament,« wandte er sich an den jungen Aristokraten, »besitzt einen ungeschriebenen, gastronomischen Teil, der die Jahrhunderte siegreich überdauert hat . . . Selbst bei den höchsten und erhabensten Dingen bleiben ja die Aeußerlichkeiten immer die Hauptsache. Tausende und Abertausende von Israeliten mögen 182 sich alljährlich taufen lassen . . . Das wird dem auserwählten Volke nichts schaden . . . Erst wenn das letzte Mazzeklößchen in der Petersiliensauce des letzten grünen Hechtes schwimmt, und wenn die Schalentkugel die letzte Fettträne weint – dann ist das Judentum zu Ende« . . .

Drei Gläschen Sliwowitz bildeten den sachgemäßen Abschluß des Soupers, und goldgelbes Pilsener schäumte in den Gläsern.

»Jetzt,« begann Moritz feierlich, indem er sich eine Zigarre ansteckte, »ist der Moment gekommen, um unsere Angelegenheit in Ruhe zu besprechen . . . Zuerst kommen Sie dran, Herr Baron.«

»Ich?« fragte Herr von Treuenstein sehr gespannt.

»Es ist mir gelungen,« sagte Moritz, »eine ausgezeichnete Stellung für Sie zu finden . . . Und zwar können Sie schon morgen Ihr neues Engagement antreten . . . Infolge der plötzlichen Erkrankung der Inhaberin der weltberühmten Firma A. Susemaus, Gurkenhandel en gros, wird ein strebsamer und fleißiger junger Mann gesucht, der imstande ist, den Geschäftsbetrieb auf seiner bisherigen Höhe zu erhalten . . . Da ich Generalbevollmächtigter der Inhaberin bin, so 183 habe ich ihr geraten, einem gewissen ›Sally Freudenstein aus Brieg‹, dessen Eltern mit mir befreundet waren, diesen verantwortungsvollen Posten zu übertragen, womit sie sich einverstanden erklärte.« . . .

Er sah seine beiden Patienten triumphierend an.

»Das ist ja eine vortreffliche Idee von Ihnen, Herr Hirsch, und ich bin Ihnen von Herzen dankbar,« bemerkte Sieghard. »Aber Fräulein Susemaus kennt mich doch persönlich sehr genau. Wir haben uns wiederholt im Hause des Professor Malthus getroffen, und sie wird bald dahinterkommen, daß Herr Sally Freudenstein aus Brieg kein anderer ist als ich.«

»Sein Sie darüber ganz beruhigt,« erwiderte Moritz gelassen, »Fräulein Susemaus ist für sechs Wochen ans Bett gefesselt und wird Sie daher zunächst schwerlich zu Gesicht bekommen. Den alten Buchhalter habe ich ins Vertrauen gezogen und er hat Schweigen gelobt . . . Aber ein anderer Punkt bedarf noch der Erörterung . . . Ich hege die Befürchtung, daß Sie vielleicht nicht die nötige Energie besitzen werden, um mit genügender Festigkeit fremden Einflüssen entgegenzutreten, die Sie von Ihrer Arbeit abziehen könnten.«

184 »Wie soll ich das verstehen?« fragte der Baron verdutzt.

»Ja, Herr Baron,« entgegnete Moritz, »Sie sind nun mal ein sehr eleganter junger Mann, der entschieden auf die Frauen einen gewissen Reiz ausübt . . . nicht wahr, Meta?«

Meta nickte lächelnd.

»Nun,« fuhr Moritz fort, »hat Fräulein Susemaus eine Krankenschwester, ein gewisses Fräulein Lene Malthus, und es ist anzunehmen, daß die Patientin diese Krankenschwester sehr häufig damit beauftragen wird, allerlei Mitteilungen in das Bureau gelangen zu lassen . . . Ich möchte Sie daher entschieden warnen, Herr Baron, sich da in irgendwelche Abenteuer mit diesem jungen Mädchen einzulassen, da sie mit meinem besten Freunde, Herrn Max Susemaus, verlobt ist.«

Statt aller Antwort ergriff der Baron die Hand des Gastgebers und drückte sie so herzlich, daß Moritz laut aufschrie.

»Sie sind doch wirklich der beste Mensch auf der Welt, ich werde Ihnen nie vergessen, was Sie für mich tun!« . . .

»Damit,« sprach Moritz feierlich, »ist der erste Punkt der Tagesordnung erledigt, wir kommen nunmehr zum zweiten: dem Fall 185 Pietschke. . . . Nun seien Sie mal vernünftig, kleine Meta. . . . Wie würden Sie sich dazu verhalten, wenn Max Ihnen wieder reumütig zu Füßen sänke? . . . Würde es Ihnen möglich sein, die schönen Worte über Ihre Rosenlippen zu bringen: Max, kehre zurück, es ist alles verziehn! . . .«

Aber Meta entgegnete heftig:

»O nein, mein Lieber! Ich denke ja gar nicht daran! . . . Max hat so herzlos und schlecht an mir gehandelt, daß es keine Rückkehr mehr gibt. Und jetzt, wo ich nicht nur die mir angetane Schmach, sondern auch die ehemalige Neigung völlig überwunden habe, jetzt wird es mir täglich klarer, wie entwürdigend für mich sein ganzes Verhalten gewesen ist!« . . .

»Aber, liebes Kind,« begütigte Moritz die Aufgeregte, »Sie müssen sich doch auch in seine Lage versetzen. . . . Er konnte doch damals gar nicht anders, denn es handelte sich um seine Existenz und um seine kaufmännische Ehre . . . Ernstlich hat er ja im Grunde seines Herzens niemals an eine Trennung gedacht . . . Er mußte eben Komödie spielen, aber jetzt ist die Komödie zu Ende.«

»Für mich nicht!« unterbrach ihn Meta schroff. »Wenn er imstande war, diese Komödie 186 zu spielen, so bin ich mir zu gut, um eine solche Komödie mit mir aufführen zu lassen. . . . Er war es angeblich seiner kaufmännischen Ehre schuldig, mich wie eine quantité négligeable zu behandeln . . . ich bin es meiner weiblichen Ehre schuldig, Ihren gütigen Versöhnungsvorschlag abzulehnen, Herr Hirsch!«

»Und wie würden Sie sich dazu stellen,« sagte Moritz, »wenn Max sein Unrecht dadurch wieder gut machen will, daß er Ihnen als Ersatz für das zerrissene Heiratsversprechen einen standesamtlichen Trauschein anbietet?« . . .

Meta sah ihren Freund scharf an.

»Glauben Sie nur nicht, Verehrtester, daß Sie mir damit etwas besonders Ueberraschendes und Unerwartetes sagen. . . . Wie Sie sehen, falle ich Ihnen auch nicht gerührt an Ihre Freundesbrust, und es dürfte Ihnen auch schwer fallen, eine Freudenträne in meinen Augen zu erblicken. . . . Denn diese Genugtuung wäre ja nur ganz selbstverständlich.« . . .

»Stolz will ich den Spanier,« zitierte Moritz.

»Das Zitat erscheint mir nicht ganz passend,« versetzte Meta trocken, »denn Pietschke ist kein spanischer Name . . . und im übrigen habe 187 ich persönlich mit der ganzen Angelegenheit nichts mehr zu tun . . . Wenn Herr Max Susemaus derartige Absichten hegt, so mag er sich an die Instanz wenden, die dafür allein maßgebend ist – an meinen Vater. . . . Und an dem Tage, an dem mein Vater mich bitten wird: »Liebe Tochter, tu' mir die Liebe und heirate den Max,« dann werde ich mir die Sache auch erst noch zehnmal überlegen.« . . .

»Eigentlich hat das gnädige Fräulein vollkommen recht,« pflichtete der Baron Fräulein Meta bei. »So handelt ein Ehrenmann nicht an einer Frau, die zehn Jahre treu zu ihm gehalten hat.« . . .

»Zahlen!« rief Moritz, »Kellner zahlen! . . . Jetzt habe ich genug von meinem Sanatorium und von meinen Patienten . . . . Das hat mir noch gefehlt, daß Ihr beide Euch gegen mich verbündet und mir mein bißchen Leben sauer macht! . . . Ich habe genug von Eurer Liebe und von Fräulein Susemaus und von dem ganzen Gurkenhandel. . . . Ich gehe wieder zu meinem Stammtisch, lege morgen die Generalvollmacht nieder, und dann könnt Ihr sehen, wie Ihr weiter kommt!« . . .

Meta kannte den Berg-Hirsch zu gut, um nicht zu wissen, daß es die höchste Zeit sei, 188 einzulenken. . . . So sagte Sie nach einer kleinen Pause schüchtern:

»Ich habe einmal einen gewissen Jemand gekannt, Herr Hirsch, der zu sagen pflegte:

Durch des Lebens Nebelflor
Leuchtet siegreich der Humor!

Und ich hätte nicht gedacht, daß derselbe gewisse Jemand seinen Humor verlieren könnte . . .«

Der Kellner war am Tisch erschienen und machte die Rechnung.

»Was wollen Sie denn?« . . . brüllte ihn Moritz grob an.

»Herr Hirsch hatten doch »Zahlen« gerufen.« . . .

»Quatsch,« brummte der Berg-Hirsch, »wenn ich »Zahlen« sage, dann meine ich: Bringen Sie noch drei Glas Pilsener

Das Gewitter hatte sich somit schnell genug wieder verzogen, und Meta wandte sich an Herrn von Treuenstein.

»Sie müssen nämlich wissen, Herr Baron, daß unser Herr Hirsch, was man ihm im Aeußeren gar nicht ansieht, eine ganz richtige urgermanische Siegfriednatur ist. Wie Siegfried für König Gunther und Brunhilde gekämpft hat, so hat auch er einst für seinen Freund 189 Gunther Susemaus gewirkt, allerdings – statt mit dem Schwerte, mit der Feder. Er hat die schriftlichen Liebesergüsse des Herrn Susemaus, durch die er mich zu betören verstand, in anmutige Reime gebracht, und darauf bin ich damals hereingefallen . . . Aber, mein lieber Herr Hirsch, auch das ist vorbei. . . . Sollte Herr Susemaus noch einmal das dringende Bedürfnis haben, mich anzudichten, so muß er seine Verse selber machen.«

Moritz lachte hell auf, griff in seine Brusttasche und holte einen Brief hervor.

»Dieser Brief, den mir Max vor wenigen Tagen an der Börse übergeben hat, um Ihnen, liebe Meta, bei irgendeiner Gelegenheit die Epistel in die Hände zu spielen, enthält das, was Sie wünschen. . . . Tag und Nacht hat er, wie er mir sagt, an diesen Reimen gearbeitet, um Ihnen zu zeigen, daß er sich in Zukunft auch nach dieser Richtung hin selbständig machen will . . . und hiermit übergebe ich Ihnen dieses historische Dokument.« . . .

Meta nahm zögernd den Brief, aber dann siegte die Neugier doch über ihre Zurückhaltung. Sie öffnete den Umschlag und las den Inhalt laut vor: 190

»Geliebte Meta! Nur mit Beben
Bitt' ich Dich flehend: Hör' mir zu!
Es ist das erste Mal im Leben,
Daß ich persönlich dichten tu'.

Dein Mund ist rot wie eine Kirsche,
Dein Händchen weiß wie das Papier . . .
Und, wie gesagt, nicht von Herrn Hirsche
Stammt dieser Vers – er stammt von mir.

Nach Dir nur dürstet meine Seele,
Drum bleibe es nicht unerwähnt,
Daß ich jetzt gleiche dem Kamele,
Das sich nach der Oase sehnt.

Vergiß des Schicksals böse Ränke,
Sei zart wie Tüll und weich wie Wachs,
Und führe mich zur alten Tränke,
Dein
            nunmehr ewig treuer Max!«

Hätte der Verfasser geahnt, welche stürmische, unfreiwillige Heiterkeit sein Erstlingswerk in dem Restaurant von Berg erregen würde, er würde auf ewig dem Opus 2 entsagt haben . . . Aber die drei amüsierten sich göttlich und traten in fröhlichster Stimmung den Heimweg an.

Moritz ging in der Mitte, in seinen rechten Arm hatte sich Meta eingehakt, in seinen linken 191 der Baron. So zogen sie die Leipziger Straße entlang dem »Salon Andrée« zu.

An der Haustür verabschiedeten sie sich.

»Ihr hab's gut,« meinte Moritz seufzend. »Wenn Ihr Euch jetzt schlafen legt, dann träumt Ihr von der Liebe . . . Das ist leider für mich auf ewig vorbei . . .«

»Nur nicht traurig, lieber Herr Hirsch,« sprach ihm Meta freundlich zu. »Erinnerung ist ja auch etwas sehr Schönes und Sie haben so was gewiß oft genug in Ihrem Leben durchgemacht.«

»Nicht zu knapp!« . . . schmunzelte Moritz vergnügt, »und von Traurigkeit ist bei mir auch keine Rede. Auch darin stehe ich auf dem einzig vernünftigen Standpunkt.«

»Dem Standpunkt des Bedauerns oder des Entsagens?« fragte der Baron.

»Auf keinem von beiden,« erwiderte Moritz heiter. »Aber Sie werden mich gleich besser verstehen:

Zum Alter sprach voll Mitleid die Natur:
Schmerzt dich des Lenzes längst verwehtes Prangen? . . .
Da klang's zurück: »Nein ich bereue nur
Die Jugendtorheit, die ich nicht begangen!« . . . 192

 


 


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