Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vorwort

Dieses Buch des weltbekannten evangelischen Theologen und Wohltäters, Dr. Johannes Lepsius, wurde im Juni 1916 als letzter, verzweifelter Hilferuf an jeden deutschen Reichstags-Abgeordneten geschickt, um den Rest der noch Überlebenden des Genozids von 1915 an den Armeniern zu retten.

Die Exemplare wurden jedoch von der Militärzensur beschlagnahmt und die Reichstagsabgeordneten konnten in ihrer Unwissenheit keinen Protest erheben.

Somit war das Schicksal der Opfer, die hauptsächlich in Konzentrationslagern die sich in der syrischen Wüste befanden, verbracht worden waren, endgültig besiegelt.

Daher ist dieses Dokument in erster Linie an die Deutschen Bundestagsabgeordneten, als legale Nachfolger der Reichstagsabgeordneten, gerichtet.

Es bleibt jedem Abgeordneten überlassen, die Verantwortung seiner Regierung in dieser Angelegenheit zu bestimmen, die nicht nur eine politische, sondern vor allem eine Gewissensfrage darstellt.


Einleitung

Johannes Lepsius wurde 1858 in Berlin geboren und starb 1925 in Meran. Sein Name ist untrennbar mit dem armenischen Schicksal verbunden. Er war der Sohn des großen Ägyptologen Karl Richard Lepsius.

Johannes Lepsius studierte Mathematik, Philosophie und evangelische Theologie und verbrachte zwei Jahre im syrischen Waisenhaus des osmanischen Jerusalems, das in Folge der Massaker an der christlichen Bevölkerung von 1860 entstanden war. Dort sammelte er seine ersten Erfahrungen die sein späteres Leben bestimmen sollten.


Schon 1886 ritt er durch Ostanatolien, um sich über das Ausmaß der Massaker an den christlichen Armeniern durch den »roten« Sultan Abdul Hamid in den Jahren 1885-1886 ein persönliches Urteil zu verschaffen. Er verfaßte 1886 darüber »Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland«. Darin beanstandete er die allgemeine Unkenntnis der deutschen Presse, und den Mangel an Literatur über die armenische Frage, im Gegensatz zu England und Frankreich. »Es ist notwendig, daß die Wahrheit über Armenien endlich an den Tag kommt. Seit dreiviertel Jahren wird die deutsche Presse mit Nachrichten überschwemmt aus einer Quelle, die nicht nur durch Einseitigkeit des Urteils getrübt ist, sondern wie wir nachweisen werden, durch unerhörte Fälschungen den Zweck verfolgt hat, Europa zu täuschen. Es ist daher kein Wunder, daß bisher in Deutschland Tatsachen über den Ursprung, den Verlauf und die Folgen der Massenabschlachtung, Ausplünderung und Zwangskonvertierung eines großen christlichen Volkes so gut wie gar nicht bekannt geworden sind, während dafür gesorgt wurde, daß in der deutschen Presse, mit vereinzelten Ausnahmen, die Schuld der ›rebellischen‹ Armenier, als Anstifter alles Unheils, in bengalische Beleuchtung gesetzt wurde ...« »Armenien und Europa, Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland« von Johannes Lepsius, Verlag W. Farber & Co. Berlin 1897

Es folgen die ergreifenden Berichte der Blutbäder von 1895-1896 in den Wilajets (Provinzen) von Trapezunt, Erzerum, Bitlis, Van, Mamuret ul Aziz, Diyarbekir, Sivas, Aleppo, Adana und Angora (Ankara) denen weit über 100 000 Christen zum Opfer fielen. Weitere 100 000 Christen wurden zwangsislamisiert.

Ein Jahr später, 1887, unternahm Kaiser Wilhelm II. seinen eindrucksvollen Freundschaftsbesuch bei Sultan Abdul Hamid um sein Projekt der Bagdad Bahn in die Wege zu leiten, wobei die kürzlichen Massaker an den Christen nicht mehr erwähnt wurden.


Johannes Lepsius ließ es nicht nur bei Worten bestehen, sondern sammelte Spenden und gründete das Armenische Hilfswerk mit Waisenhäusern und Hilfsstationen in der Türkei, Persien, Bulgarien und später in Syrien und dem Libanon, wohin sich viele Überlebende geflüchtet hatten, und er wurde der Mitbegründer der Deutsch-Armenischen Gesellschaft.


1914 trat die Türkei auf Seiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein. Die türkische Regierung der Jung-Türken, die den Sultan Abdul Hamid gestürzt hatte, verfolgte die gleiche Politik der Ausrottung der christlichen Bevölkerung der Türkei und sah die einmalige Gelegenheit, im Schatten der Kriegsereignisse ihr Verbrechen durchzuführen.

Sie organisierte heimlich 1915 den Genozid durch ihre »Organisation Speciale 2«, um mit Hilfe der Kurden, Tscherkessen, Tschetschenen und dazu freigelassenen Mörderbanden von Schwerverbrechern, die gesamte christliche Urbevölkerung der Osttürkei, Armenier, Syrer und Assyro-Chaldäer, insgesamt 1,5-2 Millionen Menschen zu beseitigen. (Die Griechen sollten anschließend durch Mustafa Kemal ausgeschaltet werden.)

Im Juni 1915 erhielt Johannes Lepsius vom Auswärtigen Amt in Berlin folgende telegraphische Mitteilung des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Konstantinopel:

»Zur Eindämmung der armenischen Spionage und um neuen armenischen Massenerhebungen vorzubeugen, beabsichtigt Enver Pasha (als General und Kriegsminister einer der einflußreichsten Politiker der Jungtürken) unter Benutzung des Kriegs-Ausnahmezustandes eine große Anzahl armenischer Schulen zu schließen, armenische Postkorrespondenz zu untersagen, armenische Zeitungen zu unterdrücken und aus den jetzt insurgierten armenischen Zentren alle nicht ganz einwandfreien Familien in Mesopotamien anzusiedeln ...

Bitte Dr. Lepsius und deutsche armenische Komitees entsprechend verständigen, daß erwähnte Maßnahmen bei der politischen und militärischen Lage der Türkei leider nicht zu vermeiden« »Der Todesgang des Armenischen Volkes« von Johannes Lepsius, Tempelverlag in Potsdam 1919.

Johannes Lepsius verstand sofort, daß Massendeportationen Massenmassaker bedeuten, und reiste umgehend nach Konstantinopel um sich an Ort und Stelle über die Wahrheit zu informieren und seinen Einfluß geltend zu machen, was jedoch mißlang.

Er verfaßte nach seiner Rückkehr nach Berlin diesen streng vertraulichen » Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei.« In dessen Vorwort Seite V. lesen Sie u.a.: » Von allen christlichen Völkern sind wir Deutschen die nächsten dazu, den Unglücklichen Samariterdienste zu leisten. Wir haben die Vernichtung der halben Nation nicht hindern können. Die Rettung der anderen Hälfte liegt auf unserm Gewissen. Bisher konnte für die Notleidenden nichts geschehen. Jetzt muß etwas geschehen

Um die Überlebenden der Massaker (eine halbe Million bis 800 000 Personen, die zum Großteil in die syrische Wüste getrieben worden waren um dort zu verenden), schickte Johannes Lepsius seinen Bericht (dieses Buch) an alle Abgeordneten des Reichstags. Er rechnete mit ihrer Hilfe in letzter Instanz. Aber diese Aktion scheiterte ebenfalls, denn alle Exemplare wurden von der Militärzensur beschlagnahmt.

Somit war das Schicksal hunderttausender Frauen, Kinder und Greise besiegelt. » Ihr Ende lastet auf unserem Gewissen«.

Die Geschichte ist häufig eine Verkettung fataler Umstände, die auf eine Lösung warten, wobei der erste Schritt die Anerkennung der dunklen Seiten seiner Geschichte betrifft. Deutschland war vorbildlich gegenüber dem Genozid an den Juden. Es zahlt noch heute die Entschädigungen an die Nachkommen der Opfer.

Wie steht es aber mit dem Genozid an den Armeniern?

Kann man einer Nation vertrauen, die aus seinen Opfern Schuldige macht, die Nachforschungen bestraft, die Zeugen des Verrates anklagt, die ihre Jugend in einem falschem Geschichtsbild erzieht?

Fridtjof Nansen, Polarforscher und erster Generalsekretär des Völkerbundes für Flüchtlinge, dessen Ruf unantastbar war, konnte sich erlauben den gewissenlosen Verrat » aller Großmächte an dem armenischen Volk« zu stigmatisieren ...« Handelte es sich doch nur um ein kleines, begabtes Volk, ohne Erdöl oder Goldminen« »Betrogenes Volk« von Fridtjof Nansen, Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbunds, Verlag F.A. Brockhaus 1928.)

Erinnern wir daran, daß die Armenier und Assyro-Chaldäer 1923 im Vertrag von Lausanne nicht mehr erwähnt wurden, obwohl sie 1920 im Vertrag von Sèvres das Gebiet ihrer Vorfahren in der Osttürkei erhalten hatten.

Sagte nicht Hitler vor Beginn des methodisch durchgeführten Genozids an den Juden – »... Wer spricht heute noch von den Armeniern?«

Johannes Lepsius hat mit Worten, Schriften und Taten seinen von christlichem Glauben unterstützten Mut bewiesen. Möge sein Vorbild – fast ein Jahrhundert später – die Nachfolger derer inspirieren, an die er seinen Bericht 1916 geschickt hatte.

Erinnern wir uns daran, daß 2005 der Deutsche Bundestag einstimmig und energisch den Völkermord an den Armeniern verurteilt hat.

Als Schlußfolgerung kann man nur wünschen, daß eine Wiedergutmachung des armenischen Genozids eine positive Wirkung auf die heutige (weitgehend von der internationalen Presse verschwiegene) Christenverfolgung im Irak hätte, denn die christlichen Kirchen im Irak warnen im Hinblick auf die schrecklichen Attentate:

» ... das Verschwinden der christlichen Minderheiten im Irak würde gewissermaßen einen Bruch zwischen Orient und Okzident bedeuten, und wäre gleichzeitig die Vollendung der Genozide an den Assyro-Chaldäern, Syrern, Armeniern und Griechen des osmanischen Reiches zwischen 1915 und 1923.« »Irak: va-t-on laisser les chrétiens être »des cibles légitimes«? Communiqué de Presse de Sémiramis Ide du 4. Nov. 2010 (Institut Assyro-Chaldéen-Syriaque IACS)

Otto R. Hoffmann


Liebe Missionsfreunde!

Der folgende Bericht, den ich Ihnen streng vertraulich zugehen lasse, ist »als Manuskript gedruckt«. Er darf weder im Ganzen noch in Teilen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht oder benutzt werden. Die Zensur kann während des Krieges Veröffentlichungen über die Vorgänge in der Türkei nicht gestatten. Unser politisches und militärisches Interesse zwingt uns gebieterische Rücksichten auf. Die Türkei ist unser Bundesgenosse. Sie hat nächst der Verteidigung ihres eigenen Landes auch uns durch die tapfere Behauptung der Dardanellen Dienste geleistet. Die beherrschende Stellung, die der Vierbund gegenwärtig auf dem Balkan einnimmt, ist nächst den deutsch-österreichischen und bulgarischen Waffentaten auch den territorialen Zugeständnissen der Türkei an Bulgarien zu danken.

Legt uns so die Waffenbrüderschaft mit der Türkei Verpflichtungen auf, so darf sie uns doch nicht hindern, die Gebote der Menschlichkeit zu erfüllen. Müssen wir auch in der Öffentlichkeit schweigen, so hört doch unser Gewissen nicht auf zu reden.

Das älteste Volk der Christenheit ist, soweit es unter türkischer Herrschaft steht, in Gefahr vernichtet zu werden. Sechs Siebentel des armenischen Volkes wurden ihrer Habe beraubt, von Haus und Hof vertrieben und, soweit sie nicht zum Islam übertraten, entweder getötet oder in die Wüste geschickt. Nur ein Siebentel des Volkes blieb von der Deportation verschont. Wie die Armenier, so sind auch die syrischen Nestorianer und zum Teil auch die griechischen Christen heimgesucht worden. Die deutsche Reichsregierung, der die Tatsachen bekannt sind, hat getan, was sie konnte, um das Verderben aufzuhalten.

Eine Eingabe von etwa fünfzig angesehen Vertretern der evangelischen Kirche, der theologischen Wissenschaft und der Mission und eine entsprechende Eingabe von katholischer Seite an den Reichskanzler haben den Sorgen und Wünschen der deutschen Christen Ausdruck gegeben. Der Reichskanzler hat darauf folgende Antwort erteilt:

Die Kaiserliche Regierung wird wie bisher, so auch in Zukunft, es stets als eine ihrer vornehmen Pflichten ansehen, ihren Einfluß dahin geltend zu machen, daß christliche Völker nicht ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Die deutschen Christen können darauf vertrauen, daß ich alles, was in meiner Macht steht, tun werde, um den mir von Ihnen vorgetragenen Sorgen und Wünschen Rechnung zu tragen.«

Dazu ist von amtlicher Seite ausdrücklich versichert worden, daß die Bestrebungen zur Linderung der Not von Seiten der Reichsregierung nachdrückliche Unterstützung finden werden.

Mein Bericht soll ausschließlich dazu dienen, die Überzeugung wachzurufen, daß uns deutschen Christen die Pflicht einer umfassenden Hilfeleistung obliegt, damit wenigstens die noch überlebende Masse von Frauen und Kindern in den mesopotamischen Wüsten am Leben erhalten wird.

Von allen christlichen Völkern sind wir Deutschen die nächsten dazu, den Unglücklichen Samariterdienste zu leisten. Wir haben die Vernichtung der halben Nation nicht hindern können. Die Rettung der anderen Hälfte liegt auf unserm Gewissen. Bisher konnte für die Notleidenden nichts geschehen. Jetzt muß etwas geschehen.

Wir bitten um Brot für hungernde Frauen und Kinder, um Hilfe für Kranke und Sterbende. Ein Volk von Witwen und Waisen streckt seine Arme aus nach dem deutschen Volk als dem einzigen, das in der Lage ist ihm zu helfen. Anderen christlichen Nationen, die hilfsbereit wären, ist der Weg zu den Unglücklichen versperrt.

Wir bitten nicht nur um einmalige, sondern um dauernde Hilfe. Soll auch nur ein Teil von den Zehntausenden verwaister Kinder, die niemand mehr haben, der für sie sorgen kann, am Leben erhalten werden, so kann dies nur in der Weise geschehen, daß einzelne Wohltäter, Gemeinden oder Vereine die Bürgschaft für dauernde Zahlung von Pflegegeldern übernehmen. Ich bitte, sich dazu der folgenden Formulare zu bedienen.

Wir wissen, in welchem Maße die Kräfte aller Daheimgebliebenen angespannt sind, um die nächstliegenden Anforderungen, die der Kampf für das Vaterland stellt, zu erfüllen. Aber auch hier handelt es sich um eine Ehrenpflicht unseres Volkes und um den Beweis, daß wir über dem Willen zur Selbsterhaltung und zum Siege die Pflichten der Menschlichkeit und des christlichen Gewissens nicht verleugnen können.

Aus den dargelegten Gründen verpflichte ich die Empfänger, den ihnen hiermit übersandten Bericht streng vertraulich zu behandeln und nur soweit davon Gebrauch zu machen, als es erforderlich ist, die Überzeugung von der Notwendigkeit der Hilfe zu erwecken und das Recht der Unglücklichen auf Teilnahme zu begründen. In keinem Fall darf unser politisches Interesse durch eine Diskreditierung der Türkei geschädigt werden.

Möge der allmächtige Gott das furchtbare Ringen der Völker zu dem Ende führen, das er vorgesehen hat. Möchten auch unter den Schrecken des Krieges unsere Herzen nicht erkalten und wir nicht aufhören, uns an jedem, der unsrer Hilfe bedarf, als Menschen und Christen zu beweisen.

Im April 1916

Dr. Johannes Lepsius.

Potsdam
Gr. Weinmeisterstr. 45


 << zurück weiter >>