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Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß strategische Gründe, die für die Deportation geltend gemacht wurden, in kaum nennenswertem Maße anerkannt werden können. Abgesehen vom Wangebiet, das ja gerade von einer Deportation verschont blieb, weil es von den Russen besetzt wurde, liegen die zwei oder drei Plätze, wo die Armenier Widerstand leisteten, wie in Zeitun und Schabin-Karahissar so sehr abseits von den Kriegsgebieten, daß die Deportation einer Bevölkerung von anderthalb Millionen, die sich über alle Teile des Reiches, auch die dem Kriegsschauplatz entlegensten, erstreckte, nun und nimmermehr durch militärische Interessen gerechtfertigt werden kann.
Die einzige Erklärung, welche die Maßregel der Behörden nicht als eine sinnlose Handlung erscheinen läßt, bietet die Annahme, daß es sich um die Durchführung eines innerpolitischen Programms handelte, das sich mit kalter Überlegung und Berechnung die Vernichtung des armenischen Volkselementes zur Aufgabe machte. Sehen wir zu, ob sich hierfür in den vom jungtürkischen Komitee und ihren Führern aufgestellten politischen Richtlinien ausreichende Grundlagen finden und ob insbesondere für die Maßregeln gegen die Armenier Anhaltspunkte, die in dieselbe Richtung weisen, vorhanden sind.
Als im Juli 1908 in Saloniki die Verfassung ausgerufen war, glaubte alle Welt, daß nun auch der Türkei endlich eine Regierung beschieden sei, die die Grundsätze bürgerlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetze der aus tausend Wunden blutenden Bevölkerung des türkischen Reiches zugute kommen lassen würde. Es ist nicht zu bezweifeln, daß das Komitee für Einheit und Fortschritt, das damals die politische Macht in Händen hatte, die Absicht gehabt hat, sich von den Grundsätzen europäischer Zivilisation und staatlicher Gerechtigkeit in der Reorganisation des Reiches leiten zu lassen. Ein Freiheitsrausch ergriff alle Teile der Bevölkerung, als die Jungtürken die Verfassung proklamierten. Aber schon die Reaktion vom April 1909, die mit einem Schlage die führenden Männer aus den leitenden Stellungen verdrängte und der ganzen Konstitution den Garaus zu machen schien, führte den Beweis, daß einflußreiche Elemente noch zum alten Regime hielten oder mindestens der Einführung europäischer Grundsätze in das türkische Verfassungsleben widerstrebten. Außer den Kreaturen des Hamidischen Regiments waren es vor allem die geistlichen Führer des Volkes, die Ulemas, Chodschas und Softas, welche das unwissende Volk gegen die europäischen Neuerungen aufzureizen versuchten.
Als durch den Marsch der mazedonischen Truppen gegen Konstantinopel die Jungtürken sich wieder der Herrschaft bemächtigt und Sultan Abdul Hamid abgesetzt hatten, lenkte das Komitee für Einheit und Fortschritt mehr und mehr wieder in die Bahnen der Politik Abdul Hamids ein. Zunächst wurde eine rigorose Parteiherrschaft durchgesetzt. Eine Nebenregierung bekam den offiziellen Verwaltungsapparat in die Hand, und die Wahlen büßten den Charakter der Freiwilligkeit ein. Die Berufung der höchsten Beamten des Reiches und aller wichtigsten Verwaltungsstellen wurde durch Beschlüsse des Komitees geregelt. Alle Gesetzesanträge wurden vom Komitee durchberaten und genehmigt, ehe sie vor die Kammer kamen. Das Regierungsprogramm wurde durch zwei leitende Gesichtspunkte bestimmt. 1. Der zentralistische Gedanke, der der türkischen Rasse nicht nur die Vorherrschaft, sondern die Alleinherrschaft im Reiche zuerkannte, sollte mit allen Konsequenzen durchgeführt werden. 2. Das Reich sollte auf rein islamischer Grundlage aufgebaut werden. Der türkische Nationalismus und die panislamische Idee schlossen von vornherein jede Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten und Religionen des Reiches aus und jede Bewegung, die das Heil des Reiches in der Dezentralisation oder Selbstverwaltung der verschiedenen Reichsteile erblickte, wurde als Landesverrat gebrandmarkt. Die nationalistische und zentralistische Tendenz richtete sich nicht nur gegen die verschiedenen nicht-muhammedanischen Nationalitäten, Griechen, Armenier, Syrer und Juden (ehe der Balkan abgetrennt war, auch Bulgaren, Serben und Kutzowalachen), sondern auch gegen die nicht-türkischen Nationen, Araber, muhammedanische Syrer, Kurden und die schiitischen Volkselemente (vor dem Balkankriege auch gegen die Albanesen). Ein Pan-Turkismus wurde als Idol aufgerichtet, und gegen alle nicht-türkischen Volkselemente wurden die schroffsten Maßnahmen ergriffen. Das durch diese Politik vorgezeichnete rigorose Vorgehen gegen die Albanesen, die ja zum größten Teil Muhammedaner und bis dahin durchaus reichstreu waren, hat den Verlust fast der ganzen europäischen Türkei zur Folge gehabt. Ebenso hat es Aufstandsbewegungen in der arabischen Reichshälfte hervorgerufen, die durch verschiedene Feldzüge nicht unterdrückt worden sind. Der Konflikt mit dem arabischen Element besteht heute noch, trotzdem er durch den »heiligen Krieg« bis zu einem gewissen Grade zurückgedrängt wurde. Die halbunabhängigen Kurdenstämme führten ihre Sonderpolitik und konspirierten teilweise mit Rußland. Das Reich kam aus den inneren Kriegen nicht heraus, und die Folge der kurzsichtigen Politik war der Verlust der afrikanischen und der europäischen Besitzungen bis auf den Rest von Thrazien, der während des zweiten Balkankrieges mit Adrianopel noch zuguterletzt zurückgewonnen wurde.
Es scheint nicht, daß die führenden Männer des Komitees für Einheit und Fortschritt aus den üblen Erfahrungen, die sie mit ihrer nationalistischen und panislamischen Politik gemacht hatten, gelernt haben. Im Gegenteil, man versteifte sich mehr und mehr auf die chauvinistischen und intoleranten Prinzipien, die man sich zur Richtschnur gemacht hatte.
Noch im Herbst 1911, als bereits Tripolis verloren war und die Aufstände im Yemen jeder Waffengewalt siegreichen Widerstand geleistet hatten, bekannte sich der Parteitag des Komitees für Einheit und Fortschritt, der Anfang Oktober in Saloniki tagte, zu den gleichen radikal zentralistischen und panislamischen Grundsätzen.
Das Komitee für Einheit und Fortschritt, das das Reich regiert, bestand statutengemäß nur aus Türken. Die Wahl auch nur eines einzigen Arabers in das Komitee wurde abgelehnt. Die Grundsätze, die damals in bezug auf die Behandlung der christlichen Nationalitäten des Balkans, der ja noch unter türkischer Herrschaft stand, aufgestellt wurden, sind zwar heute nach dem Verlust der europäischen Reichsteile gegenstandslos geworden, aber es verlohnt der Mühe, sich dieselben noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, weil sie für die christlichen Nationen der asiatischen Türkei in Geltung geblieben und genau so, wie es für den Balkan beabsichtigt war, während des jetzigen Krieges durchgeführt worden sind.
Im Oktober 1911 war auf dem jungtürkischen Kongreß in Saloniki das Folgende beschlossen worden:
Die Entwaffnung der Christen in Mazedonien solle durchgeführt werden. Die Muhammedaner sollten im allgemeinen ihre Waffen behalten; wo sie in der Minorität seien, sollten Waffen unter sie von den Behörden verteilt werden. Verdächtige Personen müßten verschickt und der Gendarmerie und den Truppen freie Hand gegeben werden. Die Militärgerichtshöfe müßten in beständiger Verbindung mit dem Komitee bleiben und in der Bestrafung der Schuldigen müsse rigoroser vorgegangen werden, damit die Deliquenten nicht entwischten. An den griechischen und bulgarischen Grenzen müsse die Ansiedlung von 20 000 Muhammedanern durchgeführt werden, wofür 220 000 türkische Pfund ausgeworfen wurden. Die Einwanderung aus dem Kaukasus und Turkestan solle befördert, Land für die Einwanderer vorgesehen und die Christen verhindert werden, Eigentum zu erwerben. Da der bulgarische Boykott fehlgeschlagen sei, müsse man an seiner Stelle mit der Austreibung von Lehrern, Priestern und Agenten vorgehen. Der griechische Boykott müsse, da ein Krieg mit Griechenland nicht riskiert werden könne, bis die Flotte verstärkt sei, weiter geführt und vom Komitee kontrolliert werden. Die Bildung neuer Parteien in der Kammer und im Lande müsse unterdrückt und das Aufkommen neuer »liberaler Ideen« verhindert werden. Die Türkei müsse ein wesentlich muhammedanisches Land sein, und moslimische Ideen und moslimischer Einfluß müßten das Übergewicht haben. Jede andere religiöse Propaganda müsse unterdrückt werden. Die Existenz des Reiches hänge von der Stärke der jungtürkischen Partei und von der Unterdrückung aller antagonistischen Ideen ab.
In dem Bericht über die Arbeit des Komitees wurde mit Genugtuung festgestellt, daß es dem Komitee gelungen sei, nahezu alle wichtigen Stellen im Reich mit seinen Anhängern zu besetzen. Alle noch verbleibenden Ausnahmen müßten geregelt, alle wichtigen Stellen ausschließlich von Muhammedanern besetzt werden und nur die unbedeutendsten Funktionen dürften von Personen anderen Glaubens ausgeübt werden.
Früher oder später müßte die vollkommene Ottomanisierung aller türkischen Untertanen durchgeführt werden, aber es sei klar, daß dies niemals durch Überredung erreicht werden könne, sondern man müsse zur Waffengewalt Zuflucht nehmen. Der Charakter des Reiches habe muhammedanisch zu sein und muhammedanischen Einrichtungen und Überlieferungen müsse Respekt verschafft werden. Anderen Nationalitäten müsse das Recht der Organisation vorenthalten werden, denn Dezentralisation und Selbstverwaltung seien Verrat am Türkischen Reich. Die Nationalitäten seien eine quantité négligeable. Sie könnten ihre Religion behalten, aber nicht ihre Sprache. Die Ausbreitung der türkischen Sprache sei eins der Hauptmittel, um die muhammedanische Vorherrschaft zu sichern und die übrigen Elemente zu assimilieren.
So sah das Programm des Komitees für Einheit und Fortschritt schon im Herbst 1911 aus. Man wird finden, daß die darin ausgesprochenen Grundsätze in jeder Beziehung dem Vorgehen gegen die Armenier zugrunde liegen. Bekanntlich wurde die Herrschaft des Komitees im Juli 1912 gestürzt. Vier Jahre lang hatten sich die aufeinanderfolgenden Kabinette von Kiamil-Pascha, Hilmi-Pascha, Hakki-Pascha und Said-Pascha auf die unbestrittene Majorität der jungtürkischen Partei in der Kammer gestützt. Aber bereits im April 1911 war eine Spaltung im Komitee eingetreten und eine allmählich erstarkte konservative Gruppe hatte die Majorität erlangt. Die Krisis war dadurch gelöst worden, daß Talaat Bey und Dschavid Bey aus dem Ministerium ausschieden.
Aber nach den Wahlen kehrten die jungtürkischen Führer in das Kabinett zurück und schienen fester denn je im Sattel zu sitzen. Erst infolge der unglücklichen Operationen gegen die Albanier, die man durch militärische Strafexpeditionen zum Abfall gereizt hatte, bildete sich in dem mazedonischen Offizierskorps eine Opposition gegen die jungtürkische Herrschaft, die durch den Geheimbund der Militärliga die politische Macht an sich riß. Am 16. Juli demissionierte das jungtürkische Kabinett des greisen Said-Pascha und am 5. August wurde die jungtürkische Kammer von dem neuen Ministerium der »großen Männer«, mit Gahzi Achmed Muktar Pascha als Großwezir, nach Hause geschickt. Der unglückliche Balkankrieg führte kurz vor seinem Ausgange die Jungtürken, die inzwischen die konservativen Elemente aus dem Komitee ausgeschieden hatten, zur Herrschaft zurück. Die Wiedergewinnung von Adrianopel gab ihnen ein gewisses Prestige und das Komplott der liberalen Opposition, dem am 11. Juni 1913 der Großwezir Machmud Schewket Pascha zum Opfer fiel, wurde mit der rücksichtslosen Verfolgung aller Elemente, die sich der Parteiherrschaft des Komitees widersetzten, beantwortet.
Die Folge der Kämpfe innerhalb des Komitees war eine Verschärfung der zentralistischen und panislamischen Grundsätze.
Der europäische Krieg brach aus, und die Frage der Teilnahme der Türkei am Kriege rief neue Gegensätze innerhalb des Komitees hervor. Die Jungtürken waren von Hause aus ententefreundlich. Das konstitutionelle Programm war in Paris geboren und in London getauft worden. Die Grundsätze der französischen Revolution und das Vorbild des englischen Parlamentarismus beherrschten die Köpfe der jungtürkischen Revolutionäre. In den ersten Wochen der Verfassung wurde kein Buch in den Buchläden von Konstantinopel so häufig begehrt, als Thiers' Geschichte der französischen Revolution. Es dauerte geraume Zeit, bis der deutsche Einfluß sich in Konstantinopel wieder gegen den englischen und französischen behaupten konnte. Erst das Interesse an der Reorganisation des türkischen Militärs und der Wunsch, sich nach allen Seiten die Unabhängigkeit zu wahren, ließ den deutschen Einfluß wieder erstarken. Aber noch im Herbst 1911 wurde vom jungtürkischen Kongreß in Saloniki die Stellung zu den Mächten folgendermaßen präzisiert:
Mit Bezug auf die Großmächte muß sich die Türkei reserviert halten und darf, bis sie militärisch erstarkt ist, kein Bündnis abschließen, weil sonst die Unabhängigkeit gefährdet würde. Die Türkei sei dazu bestimmt, auf beiden Kontinenten eine große Rolle zu spielen, wenn es den Muhammedanern gelänge, das fremde Joch abzuschütteln. Ebendies werde von Großbritannien, Rußland und Frankreich befürchtet. Zu großes Vertrauen dürfe man auch auf die Mächte des Dreibundes nicht setzen, doch sollte die Türkei freundliche Beziehungen mit ihnen unterhalten, jedenfalls aber ihre Neutralität wahren und von einem förmlichen Bündnis absehen. Zugleich müsse man den Versuch machen, die Sympathien der Ententemächte wiederzugewinnen.
Die auswärtige Politik war also genau wie die Abdul Hamids auf die Balanzierung der Mächte eingestellt. Gleichwohl gelang es Enver Pascha, den inzwischen allmächtig gewordenen Minister des Innern Talaat Bey und den Kammerpräsidenten Halil Bey für den Eintritt in den Weltkrieg an der Seite Deutschlands zu gewinnen, trotzdem einflußreiche Mitglieder des Komitees wie Djemal Bey, Djavid Bey und der Scheich ül Islam dagegen waren. Die türkische Gesellschaft von Konstantinopel, deren Sympathien Frankreich gehörten, war ebenso, wie die Masse des Volkes, mit dem Eintritt in den Krieg unzufrieden, aber die panislamische Propaganda und die Militärdiktatur sorgten dafür, daß der Widerspruch verstummte. Die Proklamation des »heiligen Krieges« brachte eine allgemeine Aufstachelung der muhammedanischen gegen die christlichen Elemente des Reiches mit sich, und die christlichen Nationalitäten hatten bald zu der Befürchtung Grund, daß sich der türkische Chauvinismus auch des muhammedanischen Fanatismus bedienen würde, um den Krieg bei der Masse des muhammedanischen Volkes beliebt zu machen.
Die Verschärfung des jungtürkischen Programms kam besonders darin zum Ausdruck, daß der Nachdruck weniger auf die Reorganisation des Reiches als auf die restlose Durchsetzung der Souveränität der Türkei in allen Fragen der inneren Politik gelegt wurde. Die Abschaffung der Kapitulationen, die zu Beginn des Krieges beschlossen wurde, ohne daß man zuvor die Zustimmung der Mächte einholte, eine Maßregel, die u. a. auch die Aufhebung der fremden Posten mit sich führte, wurde das sichtbare Symbol für die politischen Aspirationen der Türkei. Schon im Herbst 1911 wurde auf dem jungtürkischen Kongreß betont, » die Abschaffung der Kapitulationen sei wichtiger als die Reorganisation des Justizwesens«.
In dem zentralistischen und nationalistischen Programm des jungtürkischen Komitees waren alle auf Dezentralisation und Selbstverwaltung gerichteten Bestrebungen, wie sie auch von der türkischen liberalen Opposition vertreten wurden, mit dem Stempel des »Landesverrats« versehen worden. Gleichwohl hatte noch im Jahre 1913 die jungtürkische Regierung gute Miene dazu gemacht, als von den Mächten die Frage der armenischen Reformen wieder aufs Tapet gebracht worden war. Die weitgehenden russischen Vorschläge, die die Souveränität der Türkei anzutasten schienen, wurden durch die Mitarbeit der deutschen Politik dahin ermäßigt, daß der endgültige Reformplan, der durch eine Note der Pforte vom 26. Januar (8. Februar) 1914 von der Pforte angenommen wurde, sich durchaus in den Grenzen hielt, die der Achtung vor der Souveränität der Türkei und ihrem eignen vitalen Interesse entsprach. Gleichwohl berührte selbst die maßvolle Mitwirkung der Botschafter der Großmächte an dem armenischen Reformplan – eine Mitwirkung, deren berechtigte internationale Grundlage im § 61 des Berliner Vertrages nicht bestritten werden konnte – die Empfindlichkeit der türkischen Machthaber. Wiederholt wurden die Armenier bedroht, daß sie es zu büßen haben würden, wenn sie irgend die Mitwirkung der Mächte für die Durchsetzung des Reformplanes anzurufen wagten. Schon damals verlautete, daß einflußreiche jungtürkische Führer sich öffentlich dahin geäußert hätten, wenn die Armenier nicht von der Reformfrage die Finger ließen, so hätten sie ein Massaker zu besehen, gegen das die Massakers von Abdul Hamid ein Kinderspiel wären. Was die Armenier wünschten, war ja nichts anderes, als die Grundrechte der Sicherheit von Leben und Eigentum und der Gleichheit vor dem Gesetze, die sich für jeden europäischen Staatsbürger von selbst verstehen, die man ihnen aber, trotz der internationalen Verträge der Großmächte mit der Türkei seit Jahrzehnten vorenthalten hatte. War es ein Wunder, daß sie aufatmeten, als ihnen endlich, dank der Mitwirkung der deutschen Politik, von der Pforte die Zugeständnisse gemacht waren, die für eine friedliche Entwicklung ihres Lebens unerläßlich waren und für eine Abwehr der russischen Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten der Türkei im eignen Lebensinteresse der Türkei lagen. Und sollten sie auf die Anteilnahme der Mächte an ihrem Schicksal, obwohl sie offiziell weder mitzureden hatten noch gefragt wurden, verzichten, wenn ihnen bekannt war, welche Grundsätze die Jungtürken in ihrem Programm für die Behandlung der christlichen Nationalitäten aufgestellt hatten? Gleichwohl wurde den Armeniern noch nachträglich aus ihrer freudigen Aufnahme des Reformplanes ein Verbrechen gemacht. Die Maßregel der Deportation, mit den dazu gehörigen Massakers ist von jungtürkischen Führern ganz offen damit begründet worden, daß man den Armeniern ein- für allemal den Gedanken an Reformen austreiben wolle.
Einen charakteristischen Beleg bietet ein Steckbrief, der gegen den Chef einer vom Katholikos der Armenier eingesetzten Deputation, Boghos Nubar Pascha, nach der Durchführung der Deportation erlassen und am 11. August 1915 im »Hilal« veröffentlicht worden ist.
Zum Verständnis desselben muß zuvor gesagt werden, daß Boghos Nubar Pascha, ein Sohn des hervorragenden Ministers Nubar Pascha, der unter dem Khedive Ismael die ägyptische Politik leitete, keineswegs türkischer, sondern ägyptischer Untertan ist und in Ägypten als Großgrundbesitzer lebt. Der Katholikos aller Armenier hat seinen Sitz in Etschmiadzin bei Eriwan auf russischem Boden. Natürlich stand es dem Katholikos frei, in einer Frage, die die ganze armenische Nation nicht nur in bürgerlicher, sondern auch in kirchlicher und kultureller Beziehung berührt, eine Delegation zu berufen, an deren Spitze Boghos Nubar Pascha trat, um mit den Kabinetten der Großmächte in bezug auf eine wünschenswerte Lösung der armenischen Reformfrage in Beziehung zu treten. Boghos Nubar Pascha reiste also nach Paris, London, Berlin und Petersburg, um sich über die schwebenden Fragen mit den Kabinetten zu unterhalten. Das Ergebnis der Reformverhandlungen, dessen Zustandekommen wesentlich dem Auswärtigen Amt in Berlin und dem Botschafter Baron von Wangenheim zu danken war, fand den vollen Beifall von Nubar Pascha. So wenig hatte die Pforte damals gegen die Tätigkeit von Nubar Pascha etwas einzuwenden, daß sie ihn sondierte, ob er nicht selbst das Amt eines Generalinspektors für die ostanatolischen Provinzen übernehmen wollte, ja daß ihm der Großvezier Said Halim Pascha einen Ministerposten anbot.
Jetzt nachträglich wurde Exzellenz Boghos Nubar Pascha aus seiner Tätigkeit ein Verbrechen gemacht, und er wurde beschuldigt, »die frühere Lage der Türkei, die sich aus dem Balkankrieg ergeben und die Kaiserliche Regierung in einen Schwächezustand versetzt habe, benutzt zu haben, um sich an die Spitze von armenischen Komitees zu setzen und in der Eigenschaft eines Delegierten der ganzen armenischen Nation in den Hauptstädten der Länder der Tripleentente Schritte unternommen zu haben, die sich gegen die ottomanische Regierung richteten, um ein autonomes Armenien unter fremder Kontrolle zu schaffen«.
Die Beschuldigung ist in doppelter Hinsicht falsch. Nubar Pascha hat sich nicht für einen Delegierten der armenischen Nation, sondern, wie es seiner Berufung entsprach, für den Chef einer vom armenischen Katholikos berufenen Delegation ausgegeben. Auch hat er keineswegs ein autonomes Armenien unter fremder Kontrolle erstrebt – er hat oft genug in öffentlichen Kundgebungen und in der Presse den Gedanken einer Autonomie zurückgewiesen – sondern er hat das Ergebnis der Verhandlungen in der Form, wie es durch die deutsche Diplomatie erzielt wurde, als eine dankenswerte Erfüllung seiner Wünsche begrüßt.
Es ist nun seltsam, daß trotz alledem Boghos Nubar Pascha als ein »flüchtiger Hochverräter« steckbrieflich verfolgt, vor ein für ihn gar nicht zuständiges Kriegsgericht geladen und im Falle des Nichterscheinens mit der Konfiskation seines ( in Ägypten (!) befindlichen) beweglichen und unbeweglichen Vermögens und der Entziehung seiner ( ägyptischen) Bürgerrechte, Titel und Dekorationen bedroht wird.
Dies Dokument ist insofern charakteristisch, als es beweist, daß genau wie zur Zeit Abdul Hamids jede Beschäftigung mit der armenischen Reformfrage, die ja auch in ihrer letzten Phase von den Kabinetten und Botschaftern der Großmächte, einschließlich Deutschlands, bei der Pforte in Anregung gebracht worden war, als ein Verbrechen gegen die Souveränität des türkischen Staates aufgefaßt wird und strafbar sein soll. Da nun die ganze armenische Nation an dieser Reformfrage Anteil genommen hat, die ja nichts mehr als Sicherheit des Lebens und Eigentums verbürgen sollte, so kann sie freilich unter solcher Auslegung internationaler Verträge für eine Nation von »Hochverrätern« ausgegeben werden. Es bedarf nicht erst der Beschuldigung oder Überführung revolutionärer Absichten oder Handlungen. Der Anspruch eines Christen auf Sicherheit des Lebens und Eigentums, auf bürgerliche Gleichberechtigung und die Achtung seiner nationalen Kultur und Sprache, ist schon Hochverrat und muß, wenn die Gelegenheit dazu günstig ist, durch entsprechende Strafen geahndet werden.