Heinrich Lersch
Hammerschläge
Heinrich Lersch

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Mit dem letzten Gulden

fuhr ich nach Antwerpen hinein, stand den Tag über am Bahnhof und wartete.

»Hier gehst du kaput!« sagte eine Stimme in meinem Innern laut und deutlich. Diese Stimme trieb mich an, durch die Stadt zu laufen, ich hörte sie durch den Lärm der Wagen, durch den Betrieb des Verkehrs. Aber immer wieder kam ich am Bahnhof an, suchte immer wieder nach dem Geld in der Tasche, ich glaubte, es fände sich noch ein Zehncentsstück.

Es wurde Nacht. Wenn ich stehenblieb, dauerte es nicht lange, da kam ein Schutzmann. Das schlechte Gewissen trieb mich voran. Ich hätte gern im Stehen geschlafen. Ich mußte umherwandern, trotzdem mir die Beine vor Müdigkeit schmerzten; endlich wurde es Tag. Ich ging in eine alte Kirche hinein und kniete in einer Bank nieder. Langsam sank mein Kopf, bis er auf den gefalteten Händen lag. Als ich zusammenknickte und mit Gepolter niederschlug, kam der Küster und hob mich auf. Er führte mich an die frische Luft und ermahnte mich, fleißig voran zu marschieren. Ich tat es aus dem müden Gehorsam heraus, der keine Widerrede aufkommen läßt. Ich kam wieder in die Dreistraßenrunde zum Bahnhof hin und wagte keinen andern Weg. Am dritten Tag mittags stand ich in einer Nische am Hauptpostamt, in die der Wind nicht wehte. Als die Sonne schien, ließ ich mich erwärmen, bis die Augen endlich unter den schimmernden Strahlen zufielen. Plötzlich machte ich einen Schritt voran in die Menschenmenge hinein. Ein betresster Warenhausdiener gab mir einen Schubs, daß ich wieder in die Nische hineinflog und wie angeklebt stehenblieb. Als ich wieder vornüber auf die Straße fiel, trat ich einem Herrn auf die Füße. Der winkte einem Schutzmann. Ich wurde beim Rockärmel gepackt und mitgenommen.

Auf einmal stand ich allein in einer einsamen Straße, der Schutzmann war weitergegangen. Ich lief dem Strom der Menschen nach und kam an eine andere große Kirche. Da sah ich Fremde: Frauen in bunten Röcken und Kopftüchern, Männer in langen Stiefeln und Fellmützen, es war ein Trupp Auswanderer. Mit ihnen ließ ich mich in die hohe Kirche hineinschieben.

Da, gleich hinterm Eingang, sanken die Frauen in die Knie, sie bogen die Stirn bis auf den Steinboden. Lange Zeit lagen sie da, die Hände vorm Gesicht. Ich sank ebenfalls, wie in tiefster Anbetung, nieder, fiel ganz zusammen und schlief auf den Steinen ein. Zwei der polnischen Männer trugen mich an die Luft. Ich erwachte, trottete voran und stieg mit den Fremden eine Treppe hinauf. Ich sah von einer Dachpromenade in die Schiffe hinein, die vom Kai aus beladen wurden. Bald lag ich mit den Armen auf dem Geländer gestützt und schlief ein. Im Zusammenfallen griffen meine Hände um das Geländer, ein alter Mann mit langem, schwarzem Mantel nahm mich beim Arm und brachte mich zuerst auf eine Bank. Dann zog er mich hoch, führte mich von der Terrasse herunter, quer durch eine belebte Straße, über einen kleinen Platz mit schlechtem Pflaster, durch schmale Gassen und setzte mich auf die Steintreppe einer Kneipe. Er klopfte an eine Tür. Da fühlte ich eine weiche Hand in meinem Gesicht, ein starkes Parfüm stank, eine Frauenstimme sagte auf deutsch: »Trink!«

Es war klares Wasser. Das machte mich wach. Ich sah Frauen, sommerlich bunt angezogen; eine keifende Stimme schrie. Ich wurde die Treppe hinauf in eine Tür gezogen und auf einen Stuhl gesetzt. Da bespritzte mich jemand mit wohlriechendem Wasser, eine Hand rieb derb über meine Stirn. Ich öffnete die Augen und sah vor mir auf dem Tisch ein Stück Kuchen; mit zwei Händen griff ich danach und biß mit einem Hieb die Hälfte ab. Dann hörte ich großes Gelächter, gleich kam ein Mädchen mit einem Teller voll Brötchen. Kissen wurden mir in den Rücken gestopft, Hände tätschelten mein Gesicht und meine Schultern; ich wurde munter, bekam ein gekochtes Ei zwischen die Zähne geschoben, ein anderes Mädchen ließ mich warme Milch trinken, ich aß wie ein Automat. Dann wurde Kaffee und Kuchen gebracht.

In verschiedenen Sprachen hörte ich lustige Ausrufe, eine dicke, immer lachende Frau brachte mich in eine kleine Kammer, ich bekam die Schuhe ausgezogen und wurde auf ein Bett gelegt. Auf meiner Stirn lag eine fremde Hand, meine Hand versank in einer unendlich weichen, rundlichen Wärme. Als ich einen Kuß auf meinem Mund fühlte, machte ich die Augen auf. Neben mir saß die dicke, buntgekleidete Frau, sie hielt meine Hand an ihre Brust gepreßt und sagte auf Kölsch: »Schlof Jung, du has et sicher hell gehatt!«

Von Lärm und Lachen erwachte ich, die Frau saß, fast nackt, neben mir auf dem Bett und hielt mir ein Paar Strümpfe vor die Nase. »Anzieh'n, rausgehn, das Geschäft blüht!« kommandierte sie. Ich zog die langen grünen Strümpfe, die Schuhe wieder an und sah mich um. Die Frau warf mir meinen Mantel und den Rucksack nach. Ein sonntagsangezogener Arbeiter schob mich aus dem Zimmer. Der Kellner brachte mich aus der Kneipe. Auf dem kleinen Platz krakeelten Männer, eine Frau winkte mich in eine Tür hinein, Betrunkene fielen mir um den Hals; ich machte mich los und rannte die Straße hinab. In meiner Hosentasche hopste etwas Schweres: ich fuhr hinein und zog ein Fünffrankstück hervor.

Die Hand um das Geld geklammert, bestieg ich eine Trambahn, fuhr bis zur Bahnstation und erfragte den Weg nach Gent. Ich marschierte in die Nacht hinaus, zuerst schien sie mir dunkel, doch bald konnte ich die Sterne durch die ziehenden Nebelstreifen erkennen. Eine wunderbare Ruhe überkam mich, als hätte ich meine Seele vorausgeschickt, die nun, wie ein geliebtes Mädchen, an einer Straßenkreuzung stehen und auf mich warten müßte. Einen Tag bettelte ich mich durch, verschmerzte die wenigen und hartherzigen Worte, mit denen verbitterte Frauen oder alte Männer mich wegjagten. Mit einem leeren Kahn fuhr ich hinauf bis Dondern, dann verfuhr ich die fünf Franken und kam bei Charleroi ins Kohlenrevier. Es sah aus, wie im Ruhrgebiet, nur war alles noch viel ärmer und kleiner. Die Leute schienen die Armut nur zu ertragen, weil sie nicht wußten, wie tief sie drin saßen. Sie waren nicht so selbstbewußt, wie meine Landsleute. Das gab es doch bei uns nicht, daß junge Mädchen in zerlumpten Kleidern vor den Fenstern der Weißwaren- und Putzgeschäfte standen, sich von Herzen Über die schönen Dinge freuten, ohne über ihre eigne Armut die Wut zu kriegen.

Mir war es wunderbar, daß mir keine Frau die Tür vor der Nase zuwarf und schrie: »Ich bin nicht da!« Das gab es nur auf dem Land und in den reichen Stadtvierteln. Es war ja auch nur trocken Brot, aber sie gaben es mit jener geschäftigen Hilfsfreude, die die Butter ersetzen kann und muß. Als der Herbst mit Strömen von Regen kam, rettete ich mich auf einen kleinen Kahn, der durch Flüsse und Kanäle bis ins Elsaß gesteuert, geschleppt, geschleust wurde. In Straßburg traf ich zuerst wieder mit deutschen Vagabunden zusammen, die aus Paris kamen. Einer heulte vor Sehnsucht, er hatte Heimweh nach dem Ruhrgebiet. Heimweh! Einmal hatte ich es als Kind, als ich in Essen bei Onkel Louis war. Nach drei Tagen mußte ich nach Haus gebracht werden. Auch jetzt würde ich nach Haus laufen, wenn ich Heimweh bekam. Aber ich bekam keins. Ich hatte auch keine Sehnsucht mehr. Wenn ich mit Landsleuten zusammenkam, merkte ich erst, daß ich der Lustigste von ihnen allen war. Ich war witzig, schlagfertig, überlegen. Ich konnte Schnaps saufen, süßen und sauren Wein hinunterschütten, ohne aus der Rolle zu fallen. Ich wunderte mich, daß ich noch so viele kölsche Krätzchen in der Erinnerung hatte; wie lustig wurden die Burschen, wenn ich sie erzählte. Es gab aber auch Jammeriche, die im Katzenjammer und Dalles das heulende Elend kriegten; ich konnte ihnen Trost zusprechen und sie aufrichten. Sie dankten mir, beneideten mich und sprachen von meiner Energie, die mich vor dem Verlumpen bewahre. Ich war, genau wie die anderen, hochherrschaftlich! Die Kluft war abgerissen, das Haar wuchs wild. Aber ich hatte eine außerordentliche Hochachtung vor mir bekommen. Ich war Kunde, Vagabund, Bettler. War das nichts? Hunderte und tausende meiner Sorte waren unter die Gannoven gekommen, hockten als Gelegenheitsarbeiter in großen Städten, schämten sich ihrer Armut und fühlten sich ohne Geld nicht gesund.

Ich war nun Vagabund von Beruf. Wenn ich nächtlicherweise tippelte, große Landstraßen entlang, so spürte ich das Ziehen und Locken eines unsichtbaren Stromes, der mich wie ein Magnet anzog. Meist ging ich allein, mied die Herbergen, pennte bei den Bauern und versetzte die üblen Burschen, die immer schwatzen müssen. Ich ging mit den alten Speckjägern, lernte von ihnen Sprüche und Kniffe. Alle sechs Wochen arbeitete ich bei einem Krauter, fälschte auch wohl ein letztes Arbeitszeugnis nach Tag und Datum, damit ich nicht wegen Landstreicherei verschütt gehn konnte.

Als Bettler lernte ich die Menschen kennen: sie brauchten vor mir kein Theater zu machen, vor mir konnten sie sich geben, wie sie waren: schamlos, brutal, frech, katzig, hinterlistig, gemein: denn sie wähnten, ich könne ihnen nicht schaden.

Ich zog durch Saarabien, ein anderes Ruhrgebiet; verließ es bald, um durch die einsamen Täler über Trier ins Moseltal zu kommen. Im Eisregen und Schneesturm zog ich am schönen Rhein vorbei; lernte, daß die Leute das Leben erträglich finden, wenn sie es sich mit Weintrinken, Marienliedersingen und durch weibliche Mithilfe verschönern. Ich bog über den Westerwald in das Bergische ein, machte einen großen Umweg um das heilige Köln und meine Vaterstadt. Es war nicht leicht, den bergischen Kraftnaturen von ihrem schwererarbeitetem Besitztum ein weniges abzuzwacken. Behäbig und überheblich murmelten sie Bibelsprüche, die eigens für Leute unserer Sorte gemacht schienen. Überall droht Arbeit, Arbeit, nichtsnutzige unsinnige Arbeit; die Schwerindustrie leuchtete am Horizont auf. »Mak de Döör to, et kütt ene Handwerksbursch!« sagten die Frauen. Die Kinder riefen aus Abneigung gegen den unnützen Mitesser: »Mien Mamm is nit te Huus, wir geben nix.« In den Herbergen traf ich wenig Handwerker, meist unorganisierte Arbeiter. Von Hagen über Essen nach Dortmund flammten nachts die hohen Öfen zum Himmel, auf der Erde kroch das schmutzige Elend neben dem maßlosen Reichtum. Bisher war ich über Bauernland gezogen, da war wenigstens Licht und Luft; wenn auch Frost und Regen in die schlechtbekleideten Beine biß. Vor Hamm winkte mich ein alter Hüttenarbeiter, der vor dem Fenster seiner niedrigen Wohnung saß und hinaus auf die Hochöfen sah, zu sich hinein. Er gab mir eine Tasse heißen Kaffee und sagte: »Junge, glaube nicht, daß einer von denen, die am Arbeiter Geld verdienen, sein Wort hält! Was haben sie uns alles versprochen: ›Wenn die deutsche Industrie sich den Platz in der Welt erkämpft hat, wenn unsere Hütten und Zechen ausgebaut sind, dann sollt auch ihr Arbeiter den gerechten Anteil haben an dem Werk, das ihr miterschaffen habt!‹ Selbst Kaiser Wilhelm hat einmal versprochen, die Berg- und Hüttenherren zu zwingen, gerechten Lohn zu zahlen und unsere Forderungen zu bewilligen. Aber als es beim großen Streik darauf ankam, hat er die Soldaten ins Revier geschickt: ›Ihr müßt, wenn ich es euch befehle, selbst auf Vater und Mutter schießen!‹ hat er gesagt. Wir alten Esel haben geglaubt. Junger Kerl, glaub du ihnen nichts mehr. Glaub du deinen Kollegen und Kameraden.«

Eine ganze Woche lang trug ich den glühenden Haß dieser enttäuschten Seele mit durch das reiche Münsterland. Der Alte hatte mich beschworen, wie mich meine Mutter beschworen hatte. Wie aber sollte ich glauben, daß der Arbeiter diese Welt überwältigen könne? Woher sollte ich den Glauben nehmen, der den Sozialisten mehr galt als Gottes Wort?

Im März kam ich in die Lüneburger Heide; einmal saß ich bei einem alten Schreiner auf der Hobelbank, die Biesen fegten über die leere Weite. Der ehrwürdige Meister hob die Faust gegen Süden, wo das Ruhrgebiet lag und sagte: »Über diese Frechheit der Herren kommt des Volkes Zorn.« Mir war, als sei die Erbitterung der Arbeiter im Munde dieses alten Wetterkundigen Weisheit geworden. In Hamburg schlief ich in einer Gasse des Gängeviertels; sah in den prachtvollen Anlagen an der Alster die stillen Häuser und hatte keine Ahnung von dem Reichtum der Großen, bis ich auf einer wilden Penne einen abgedankten herrschaftlichen Diener kennenlernte. Als er von dem Leben seines ehemaligen Herrn erzählte, zweifelte ich an seinem Verstand. Wegen Untreue war er entlassen worden, er konnte nie wieder eine Stelle bekommen. Nun, verlumpt und verbittert, träumte er von der vergangenen Herrlichkeit, um sich ins Elend zu reden.

Der Frühling überraschte mich mit Blühen und Sprießen im Lande Pommern. In der Herberge zu Stargard traf ich einen Pennbruder, der zehn Jahr älter als ich war und emsig schrieb. Ich guckte ihm über die Schulter und sah, daß er Verse machte. Ich nahm ihn mit in die Wirtschaft, gab ein Abendessen aus und indes er aß, las ich seine Gedichte. Sie hatten das Leben Jesu zum Inhalt. Er war ein überaus frommer Mensch, ich verstand nicht, daß er sich auf der Landstraße herumtreiben mußte. »Wer ernst mit der Nachfolge Christi macht, der geht zu den letzten, denn sie werden die ersten sein!« sagte er, als er gegessen hatte. Spät in der Nacht bekannten wir uns zueinander und versprachen, zusammen zu reisen. Ehe wir uns schlafen legten, erzählte er, wie er am Tag vor der Priesterweihe aus dem Konvikt weggelaufen sei. Wir marschierten durch den reifen Sommer auf Danzig zu, schliefen meistens in den Feldern. In den langen Nächten vergaßen wir Gott und die Großstädte, sahen nach den Sternen und schwiegen. Mein Wandergenosse, Karl Hölzle, ein Schwab vom Bodensee suchte gleich mir, den Anschluß an die Arbeiter, aber er wollte von seinem Gottesglauben nichts opfern, Katholik bleiben und Sozialist werden. Er kannte ja die Arbeiter nicht und wußte nicht, daß die neue Religion der Sozialismus war, der die alte Religion vernichten mußte. Soviel hatte ich schon erlebt, daß ich das sah: Kirchtürme und Schornsteine wurden Feinde. Die neue Zeit und der neue Mensch konnten die Kirchtürme wohl entbehren. Beide aber waren wir uns einig darin, daß das Reich Gottes auf Erden durch das Christentum nicht kommen konnte, weil die christliche Lehre sich vor dem Mammon gebeugt hatte und das Eigentum der Reichen heilig hielt, aber das Eigentum der Armen, ihrer Hände Arbeit, schutzlos ließ.

Je näher wir der Stadt Danzig kamen, um so heftiger setzten wir einander zu.

In einer wilden Penne der alten Stadt, zwischen Hafenarbeitern und Schiffern stritten wir uns. Ich sagte, daß ich sowohl mein Kesselschmiedshandwerk wie auch die Gottesreligion vergessen müsse, vergessen, daß ich eine Mutter habe, eine Familie; mich allem entäußern müßte, was mir Rückhalt und Stütze sein könnte. Bis ich, arm wie Jesus Christus, nichts mehr hätte, wohin ich mein Haupt legen könnte. Jetzt sei ich nur ausgetreten aus der Welt des Mammons, an der ich keinen Teil haben wollte. Ich müsse eben arm wie die Arbeiter sein, die auch keinen Gott hätten! Da rückte ein kleiner, magerer Arbeiter zu uns heran und fragte, ob er etwas sagen dürfe. Es sei falsch, zu sagen, der Arbeiter sei arm. Sozialismus sei mehr als Überwindung der Armut. Der Arbeiter habe und sei die Kraft, die stürzenden Formen von Staat und Kirche, von Familie und Eigentum, von Produktion und Konsum in sich aufzunehmen und umzubilden. Der Arbeiter allein könne dem Unsinn von Staat und Wirtschaft, Werk und Lehre einen neuen Sinn geben. An der Sinnlosigkeit der heutigen Gesellschaftsform ginge die Kultur zugrunde. Denn der Sinn sei nicht mehr der Mensch, sondern der Profit, der Zins, die Dividende. »Das ist es ja gerade«, rief der Schwab in die Schenke hinein, »wir wollen aus dem Göttlichen, das die Christenheit in sich spürt, in Jesu Sinn die Welt erneuern!«

Noch mehr Arbeiter kamen herzu, der kleine Hagre sprach langsam und hart: »Kein Christ kann es verstehn: Für die Gottgläubigen muß es eben Profit geben, Geldmacht und Dividende. Ohne Ausbeutung, Krieg und Armut gibt es keinen Zins, kein arbeitsloses Einkommen und keine Herrschaft. Wo dies nicht ist, Ausgebeutete und Ausbeuter, Armut und arbeitsloses Einkommen, kann es auch keinen Gott geben, denn da hat ein Gott keine Funktionen mehr. Solange es einen Gott gibt, wird es darum dies alles geben müssen, weil auch der Papst und die Priester herrschen wollen – oder hungern und arbeiten müßten. Solange es gottgläubige Arbeiter gibt, werden wir erst gegen diese kämpfen müssen, gegen unsere Brüder, die unsere wahren Feinde sind. Die Welt der Mächtigen bricht in dem Augenblick zusammen, wo kein »Gott« mehr die Arbeiter uneins macht. Die Großen sind eben keine Menschen, aber ein Arbeiter müßte eigentlich Mensch sein. Ich sehe hier Arbeiter, die diese Schmach empfinden und doch nicht dagegen aufstehen, sondern sie geduldig tragen, ohne sich zu wehren!«

»Und warum wehren sie sich nicht?« fragte ich.

»Weil auch diese Armen und Arbeiter keine Menschen sind! Es ist ihnen noch nicht zum Bewußtsein gelangt, daß sie Menschen sind und gleiches Recht auf die Erde und ihre Schätze, auf die Früchte der Arbeit aller haben. Ihnen fehlt es am Selbstbewußtsein, sie sind eben nur Christen und haben ihren Gott!«

»Ich kenne Arbeiter, die das sehr wohl wissen, die ohne Gott leben und stolz auf sich sind. Aber es sind doch keine Sozialisten!« sagte ich.

»Ihnen fehlt es am Klassenbewußtsein«, erwiderte der Hagre. »Wenn sie erst einmal erfahren haben, wie wenig sie auf sich selber stolz sein können, dann sehen sie, daß ihre stolze Höhe ein Dreck ist. Ein Unfall, eine Krankheit – schon sind sie Invaliden und sehen, daß es das Los einer ganzen Klasse ist, arm zu sein. Drum sag ich, dem Arbeiter geht es manchmal noch zu gut, drum versteht er seine kämpfenden Klassengenossen nicht und glaubt, es genügt, wenn er allein zu essen hat.«

»Mir geht es aber nicht gut!« sagte ich plötzlich.

»Du bildest dir ein, es ginge dir schlecht. Dir kann es gar nicht schlecht gehn, du fühlst dich im größten Dreck mit deinem Gott sauwohl. Sonst liefst du nicht jahrelang auf der Landstraße herum; mit dir selber hast du kein Mitleid und kein Empfinden, mit den andern auch nicht. Du bist eben ...« Er brach ab.

»Nun, was wolltest du sagen?« fragte der Schwab.

»Er ist eben der geborene Lumpenproletarier, die gemeine Knechtsseele, eine Hundenatur, die sich feig duckt, anstatt zu beißen! Während wir einen Kampf vorbereiten, der vielleicht hundert Jahre dauern kann, der die ganze Welt zum Kampfplatz macht, zieht er es vor, sich mit Fasten und Hungern Gotteslohn zu verdienen. Christ nennt sich das: Jesus würde ihn anspucken, denn Jesus war ein Rebell!«

Mir brachen die Tränen aus den Augen, ich konnte nichts mehr sagen. Ich ging in den Schlafsaal und kroch ins Bett. Erst spät kam der Schwab.

Die ganze Nacht schlief ich nicht.

Am Morgen fuhr ich mit der Bahn einige Stationen hinaus aus der Stadt und ging der Landstraße zwischen den grünen Feldern nach. Immer hörte ich die Worte des Kollegen zwischen dem Lerchengesang und dem Rauschen der Bäume: »Hundenatur, feige Knechtsseele, Lumpenproletarier, Unmensch ohne Liebe zu den Armen, zu den Brüdern!«

In der nächsten Herberge betrank ich mich. Die Kunden tranken mit, alte Handwerksburschenlieder wurden gesungen und beklatscht, zünftige Spaße wurden gerissen, Anekdötchen erzählt. Ich wurde wieder nüchtern und vergaß mein Elend. Am Morgen hatte ich meine bedrückte Seele hinter mir gelassen, ich schritt frohgemut aus, wie ein böser Traum lag Danzig hinter mir. In den wunderbaren Wäldern an den stillen Seen fand ich die Ruhe wieder. Ich sah die Bauernknechte und Mägde hart arbeiten und nach Feierabend lustig sein, sah in den kleinen Katen der Knechtsfamilien viel Enge und Kargheit, sah auch Herren hoch zu Roß, vor denen die alten Frauen den Kopf neigten wie vor dem Allerheiligsten – zog durch die kleinen Städtchen, die noch wie vor hundert Jahren waren; der Sommer vergoldete diese einsame Erde, die Fruchtbarkeit schwoll um meine Füße, Tag um Tag wurde ich mir mehr und mehr bewußt, daß ich unschuldig an meiner Herkunft und Religion sei. Ich bewunderte die klassenbewußten Arbeiter um ihres Glaubens willen. Unser Glaube war arm geworden, ging um Gebote und Vorschriften, verzieh die Sünden und versprach Gnade.

Vier Wochen wanderte ich bis nach Bromberg und sah mit Staunen, wie fremd uns dieses Deutschland war. Die Arbeiter auf dem Lande sprachen polnisch, verstanden wohl deutsch, waren mißtrauisch und gaben mir nur wie aus Angst zu essen. Die Schmiedemeister lebten in großer Abhängigkeit vom Gut, ihr drittes Wort hieß »Der Herr!« Die Verwalter schnauzten ekelhaft. In Posen wurde ich von einem Gendarmen verhaftet. Acht Tage sah ich aus der Zelle in einen großen Gefängnishof, bis die Schreiber festgestellt hatten, daß ich kein französischer Spion war. Ich bekam meine Papiere und zwei Mark vierzig Pfennig Reisegeld, und fuhr, soweit ich dafür Fahrt bekam, mit der Eisenbahn auf Schlesien zu.

Die Herbstwälder ließen mich die Öde der posenschen Landschaft vergessen. Ich arbeitete auch wieder einmal bei einem Dorfschmied, bei dem ich zwar sehr gut zu essen, aber wenig Lohn bekam. Eine ganz andere Rasse war das, fast wie die Leute am Niederrhein, still und ruhig, weder mißtrauisch noch hochmütig. Sie fragten nach meinen Eltern, sie nahmen mich mit in die Kirche, schämten sich nicht meiner schlechten Kleider, kauften mir aber auch keine neuen. Holzfäller kamen in die Schmiede, bestellten Keile und Äxte. Später zog ich mit einem Trupp in die Holzschläge, schlief in den Hütten aus Stämmen und Grassoden. Mit Köhlern wachte ich an den Meilern, geriet in den Tälern an wandernde Pferdehändler und Schirmflicker; in jedem Rastort sah ich sie wieder, sie luden mich zum Essen ein, ich bewunderte die harte Einheit der Familien. Es dauerte lange, ehe ich unterscheiden lernte, wie sie mit einander verwandt waren. Solange sie unterwegs waren, zum Handeln und Fechten die Dörfer abklopften, unterschieden sie sich wenig von andern Hausierern und Bettlern. Wenn sie aber in der Runde zwischen den Wagen um ein Feuer lagen, sattgegessen, mit einem Trunk in der Flasche, dann verschwand der etwas jammernde, sorgende Ton aus ihren Stimmen; dann reckten sich auch die Frauen aus der Gedrücktheit, wurden ausgelassen und lachten mit unbändiger Herzlichkeit, als hätten sie gestern das große Los gewonnen und würden nie mehr Sorgen haben. Sie sangen in ihrer Stammessprache, spielten Geige und Bandonium; mir war, als käme die Musik aus der Erde, urmächtig ergriff sie mich, so daß ich in Angst und Heimweh, in rasendem Schmerz, der körperlich brannte, wie verzaubert dalag. Der Geiger konnte spielen, daß es dem Zuhörer schien, als käme die Musik von weitester Ferne, aus der Höhe wie Lerchensang. Wenn er einmal begonnen hatte, dauerte es über eine Stunde, ehe er aufhörte. Mir war dabei, als wurde ich fortgetragen über die Welt, ich sah Landschaften und Menschen, Gestalten und Gesichter, Feuersbrünste und tobende Wasser. Als ich einmal die Augen zu dem Geiger hob – meist starrte ich vor mich auf die Erde – sah ich, wie er die Geige in die Luft warf, den Bogen hinterher und beides so auffing, daß er im gleichen Strich weiterfiedeln konnte.

Bei Trebnitz sahen wir ins Odertal, ich glaubte den Rhein zu sehen, war glücklich, wieder eine freien Blick zu haben. Nun fühlte ich erst nachträglich den Druck der Berge und was wie erlöst. In Breslau ging ich zuerst wieder in das Gesellenhaus. Ich konnte mich nicht gut in die Gesellschaft fügen, bekam aber von einem sehr freundlichen Präses noch zwei Tage freies Essen und Wohnen, indessen ich mich in der Stadt umsah.

Am Sonntag hörte ich eine heilige Messe. Da mußte ich an meine Mutter denken. Ich schrieb ihr, wie ich es öfter tat, eine Postkarte, auf der ich mitteilte, daß es mir noch immer gut ging. Ich hatte ihr oft eine Karte ohne Absender geschrieben, darum bekam ich keine Post zurück. Als ich nach Ratibor, dem letzten deutschen Städtchen kam, holte ich mir mit andern Kameraden zusammen ein Stadtgeschenk, es bestand aus 30 Pfennigen und einer freien Übernachtung auf Stadtkosten. Es war Herbstmarkt, die Gasthöfe und sogar die Herberge war überfüllt, erst im Gesellenhaus bekamen wir Quartier. Als ich dem Hausmeister meinen Zettel gab, sah ich im Postkästchen einen Brief mit meiner Adresse. Er war vom Breslauer Gesellenhaus hierher geschickt worden. Die Mutter schrieb ganz überglücklich, sie könne mir sagen, daß zu Haus alles gut ginge, sie sende ans Postamt postlagernd 50 Mark.

Das Geld kam nach 2 Tagen und ein zweiter Brief dazu: ich sollte doch gleich nach Hause reisen. Im nächsten Jahr müßte ich doch Soldat werden und da käme ich wieder fort. So könnte ich mir wenigstens etwas Geld sparen.

Mit dem Soldatwerden – das war noch nicht sicher. Das Maß hatte ich jetzt, ich war einen tüchtigen Schuß gewachsen und spürte nichts mehr von der Kurzatmigkeit; sollte ich jetzt wieder in Staub und Ruß? In die Stickluft dieses Familienlebens?

Die Mutter! Ihretwegen wollte ich heim! Ich ging zum Bahnhof und löste eine Karte bis Frankfurt am Main. Dort schlief ich in einem kleinen Gasthaus in der Altstadt, ging an dem Main spazieren und fuhr in der nächsten Nacht heim.


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