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Erstes Buch.
Erkenntniskritik der Geschichte.

›Großer Dünkel und allgemeine Begriffe sind immer auf dem Wege, das größte Unheil in der Welt anzurichten.«

Goethe.

§ 3. Was ist Geschichte?

Was ist Geschichte? Das deutsche Wort Geschichte, von Geschehen kommend, und das lateinische historia, von dem griechischen ἱστάνομαι = erfragen abgeleitet, scheinen darauf hinzuweisen, daß die ›Feststellung aller Vorkommnisse in der Zeit‹ die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei. Indes wird niemand bezweifeln, daß es nicht Geschichte ist, wenn ich z. B. feststelle, daß heute in der Morgenfrühe eine Spinne über meine Hand lief, daß Punkt sieben Uhr der erste Regentropfen fiel und daß soeben eine große blaue Wolke über den Himmel zog. Und zwar wird jedermann sagen, daß solche Feststellungen darum nicht Geschichte seien, weil sie keinerlei Belang (Interesse) böten, daß sie andrerseits aber wohl Geschichte werden könnten, wenn sie im Zusammenhang von ›Schicksalen‹ eine Stelle hätten und in diesem Zusammenhange ›bestimmte Rollen‹ spielen. In dieser Einsicht aber liegt schon der Hinweis auf die Schiefheit jener bekannten Unterscheidung von Geschichte und Naturwissenschaft, welche behauptet, Naturwissenschaft mache Feststellungen in Form genereller Regeln; Geschichte hingegen habe individuelle und qualitativ bestimmte Tatsachen zum Gegenstande, wie das ein neuerer Geschichtsphilosoph mit den folgenden Worten behauptet.

›Wenn ich sage, Natrium und Chlor bilden Kochsalz, so ist das eine naturwissenschaftliche Feststellung, insofern ich nicht von einem bestimmten Ereignis in der Zeit berichte, sondern eine generelle Erfahrung formuliere; dagegen würde die Aussage, daß in einem bestimmten Zeitpunkte ein bestimmtes Stück Natrium mit einem bestimmten Teilchen Chlor zu Kochsalz sich verbunden habe, eine historische Angabe genannt werden müssen.‹

Wer sähe nicht, daß in diesen Sätzen der Schnitt zwischen ›naturwissenschaftlich‹ und ›historisch‹ schief geführt wird? Es ist nicht richtig, daß jede Geschehnisfeststellung von individueller Art Geschichte ist. Nur dann, wenn ich das ›Schicksal‹ jenes bestimmten Stückchens Natrium und Teilchens Chlor oder das ›Schicksal‹ einer Person, welche die beiden zusammenbringt, aufzuzeichnen habe, gewinnt das individuelle Faktum historische und das heißt eben überindividuelle, mehr als bloß zeitlich-pragmatische Bedeutung.

Diesen Unterschied von geschichtlichem Ereignis und mechanischem Geschehnis möchte ich mit einer wesentlichen Unterscheidung Kants vergleichen, nämlich der von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen. K.d.r.V. I 21 Abt. 1. 2. Kant sagt darüber, daß eine bloße Feststellung von Wahrnehmungen niemals Wissenschaft und überhaupt bedeutungslos sei. Vielmehr begönne Wissenschaft gerade dort, wo aus bloßen Wahrnehmungen ›Erfahrung‹ erblühe. Dafür gibt Kant das folgende Beispiel. Wenn ich feststelle, daß ein Stein warm ist, während die Sonne am Himmel steht, so erhebe ich mich nicht über bloße Wahrnehmung. Sage ich aber: ›Die Sonne erwärmt den Stein‹, so gehe ich über die Wahrnehmung hinaus, denn ich will sagen, daß die Sonne Ursache der Erwärmung des Steines sei, und damit hat meine Behauptung mehr als nur subjektive und psychologische, hat wissenschaftliche Gültigkeit erlangt. Aus dem bloßen Wahrnehmungsurteil ist das Erfahrungsurteil geworden.

Ich behaupte für Geschichte den selben Unterschied. Die bloße Feststellung individueller Geschehnisse in der Zeit ist niemals Geschichte; sonst würde jedes Tier Geschichte besitzen, indem es Erinnerungen besitzt. Geschichte wird erst dann, wenn in einer nach einem Wertgesichtspunkt geordneten Zeitreihe das Geschehnis den Charakter des Ereignisses erhält. Man kann daher die Muse der Geschichte nicht unter der Gestalt der Parze denken, welche einen Faden von beliebiger Länge endlos von der Spindel rollt und zuletzt irgendwo abschneidet; sondern die Geschichte ist eine Teppichweberin und besitzt vorgezeichnete Kategorienmuster, in welche sie alle Fäden der Wirklichkeit, alle Fäden zu Wirklichkeit hineinverweben muß.

›Sie läßt den Sturm zu Leidenschaften wüten,
Das Abendrot in hohem Sinne glühn!‹

§ 4. Die Verschiebung des Begriffes Geschichte.

1. Geschichte ist Geschichteschreibung,

2. Geschichte ist der Inhalt von Geschichteschreibung,

3. Geschichte ist der Gegenstand von Geschichteschreibung.

Indem man im Begriff Geschichte diese drei Bedeutungen zusammenwirft, bereitet man dem Wort das selbe Schicksal, wie den unseligen deutschen Wörtern auf -ung, im Englischen und Französischen auf -ion.

Wenn z. B. Kant die Welt Erfahrung, Schopenhauer Vorstellung, Mach Empfindung nennt, so kann der Leser unmöglich wissen, ob mit dem Substantivum die psychischen Akte (Erfahren, Vorstellen, Empfinden) oder aber die in den psychischen Akten gegebenen Bewußtseinsinhalte oder endlich ihre der Außenwelt zugehörigen Gegenstände gemeint seien (welch letztere doch von seelischen Akten getragen und durch Bewußtseinsinhalte hindurch gedacht sein müssen).

Am verhängnisvollsten wirkt, daß Geschichte als Geschichteschreibung ohne weiters zusammengeworfen wird mit Geschichte im Sinne von gegenständlicher historischer Wirklichkeit. Bei allen Geschichteschreibern oder Geschichtephilosophen begegnet man z. B. Begriffen wie: Einheit, welthistorischer Zusammenhang, Entwicklung, Stufenfolge, historisches Endziel, Periode, gesetzmäßiger Ablauf – Begriffe, bei denen teils erkenntniskritische, teils psychologische Voruntersuchungen notwendig wären, ehe man sie aus geschichtlichen Inhalten herausholen oder ihnen anhaften kann. Aber nicht zufrieden damit, daß man Kategorien wie: Einheit, Kontinuität, Wert usw., statt sie wie Vorformen der Geschichtestiftung zu behandeln, ohne weiters als inhaltliche Eigenschaften einer dem Historiker sich darbietenden Bewußtseinswirklichkeit betrachtet, läßt man obenein die historische Wirklichkeit das Ding an sich, d. h. eine letztinstanzliche, ja absolute Wesenheit sein.

Stillschweigende Übereinkunft erklärt Begriffe der exakten Wissenschaft für ›bloße Arbeitsökonomie‹. Dennoch aber fordern dieselben skeptischen Geister, wofern es sich nicht um den sachlichen, sondern um den religionistischen Teil der europäischen Wissenschaft handelt, einen Aberglauben, der viel weniger harmlos ist, als ein Glaube an die Evidenz der Mechanik.

Ein Wortführer solcher skeptischen Dogmatik sagt von der Geschichtewissenschaft:

›Jene Skeptik, welche angesichts der Methoden und Begriffsbildungen der Naturwissenschaften am Platze ist, hat keinen Sinn, wo es sich nicht um bloße Definitionen, sondern um die Wirklichkeit selber handelt, und nicht mehr, wie in den Naturwissenschaften, bloße Regeln, sondern sichere historische Tatsachen in Rede stehn.‹

(Rickert.)

Ich aber gedenke darzutun, daß ›Wirklichkeit‹ (die einzige, die wir besitzen) nur von Naturwissenschaften übermittelt wird, während Geschichte, aus Wunsch und Wille, Bedürfnis und Absicht entsteigend, Traumdichtungen des Menschengeschlechtes verwirklicht.

Ich gedenke die Beziehungen des Bewußtseinsinhaltes oder Gegenstandes Geschichte zu den Präokkupationen, d. h. zu den Vorurteilen und Vorwertungen der Geschichteschreiber unwiderleglich klarzustellen.

Dabei wird sich denn zeigen, daß Einheit der Geschichte nirgendwo besteht, wenn nicht in dem Akte der Vereinheitlichung; – Wert der Geschichte nirgendwo, wenn nicht in dem Akte der Werthaltung. Sinn von Geschichte ist allein jener Sinn, den ich mir selber gebe, und geschichtliche Entwicklung ist die Entwicklung von Mir aus und zu Mir hin.

§ 5. Das Verhältnis der Geschichte zur ›Wahrheit‹.

Der Gedankengang der folgenden Untersuchungen wäre somit klar vorgezeichnet. Weder bloße Empirie noch Mystik, d. h. weder der ›Wirklichkeit‹ genannte Inhalt von Geschichtebüchern, noch auch jenes Urelement der Geschichte, welches durch das Medium menschlichen Bewußtseins sich zu ›Wirklichkeit‹ niederschlägt und als vorbewußt nur gelebt werden kann, steht in Frage; unsere Aufgabe ist vielmehr: die Wandlung von Erlebnis in Geschichte zu belauschen und für das kleine Gebiet der Geschichtsforschung das zu leisten, was Kant für die Gegenstandswelt fordert: ›Nicht die menschlichen Angelegenheiten aus Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit aus Bewußtsein zu begreifen.‹

Ein solcher Vorsatz stellt uns zum Teil vor erkenntniskritische, zum größeren Teil vor psychologische Aufgaben. Läßt sich die prinzipielle Verschiedenheit dieser beiden in diesem Buche weder klar darlegen noch praktisch zum Ausdruck bringen, so darf man daraus nicht folgern, daß der Verfasser sie nicht sieht. Es empfiehlt sich, das Studium der vorliegenden Geschichtsphilosophie durch das der ›Wertaxiomatik‹ des Verfassers zu ergänzen. (2. Aufl. 1913, Verlag Felix Meiner, Leipzig.) ...

Unserer Geschichtskritik kommt nicht in den Sinn, zu bestreiten, daß es gültige Normen des Urteils bezüglich Geschichte gibt. Aber die der Vernunft zugehörige Sphäre der Wahrheit, an Hand deren wir Geschichte beurteilen, ist nicht selber historisch und enthält kein Prinzip, mit dem wir Geschichte stiften können. Urteilen über ... nimmt Bezug auf eine logomathische Welt. In dieser gibt es keine Geschichte! Vielmehr sind ihre Wahrheiten zeitlos, entstehen nicht, sondern werden aufgefunden. Geschichte aber ist immer werdende, immer entstehende zeitliche Wirklichkeit; und diese wurzelt nicht in Logik, sondern entquillt aus Wünschen und Bedürfnissen, die sich nicht um Mathematik kümmern, sondern alles Nationale als bloßes Werkzeug für Willenszwecke zu verbrauchen pflegen. Umgekehrt freilich kann und muß Vernunft in ihrem eigensten Bereiche von Wünschen und Wunscherfüllung unabhängig bleiben, und die Wahrheit ist nicht dem Bedürfnis untertan, wenn sie von nach hinein beurteilend an fertiger Geschichte der Völker darlegt, was wahr und falsch, schön und häßlich, gut und schlecht gewesen ist.

§ 6. Geschichte als Zeitmechanik.

Jede Wissenschaft ist entweder beschreibend (deskriptiv, phänomenologisch) oder erklärend (genetisch, kausal).

Beschreibend ist Wissenschaft, wofern sie sich allein an die vorliegenden Phänomene hält und diese wiederzugeben, zu formulieren oder zu ordnen versucht, wobei sie nicht nach Zustandekommen und Gewordensein zu fragen hat. Erklärend dagegen ist Wissenschaft, wofern sie, den Zusammenhang der Phänomene in der Zeit feststellend, des Leitfadens Ursache und Wirkung nicht entraten kann.

Es dürfte nun wohl feststehen, daß es niemals eine rein beschreibende Geschichtswissenschaft gegeben hat in dem Sinne, in welchem es eine reinbeschreibende Physik, Botanik, Zoologie, Psychologie gibt. Auch die ursprüngliche, nicht pragmatische Geschichte (Annalistik, Chronistik) versuchte in der Zeit verlaufendes Geschehen zusammenhängend darzustellen und konnte auf Kausalität, als auf die unvermeidliche Verknüpfungsform von Erfahrung nicht verzichten.

Da nun aber Geschichte Geschehen in der Zeit zum Gegenstande hat, so ist gewiß, daß sie aus dem Erleben selber heraustreten, es vergegenständlichen, vom Träger des Erlebens abstellen und ihm gegenüberstellen muß. Dieses aber ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Lebens selbst, sondern ist Mechanisierung des Erlebens.

Man hat in Europa die Übereinkunft erlangt, die Welt der ›äußeren Erfahrung‹ als ein Instrument (μηχανὴ) zu betrachten, womit wir Leben abtötend gewältigen, d. h. man sieht in der Raumwelt nicht das Element des Lebens, sondern nur ›Bewußtseinswirklichkeit‹. Diese klare und reinliche Unterscheidung des Lebenselements vom Bewußtseinswirklichen wird aber sofort verleugnet, wenn von sogenannter ›innerer Erfahrung‹ die Rede ist. In dieser nämlich behauptet der moderne Europäer sozusagen das Leben selber am Rockzipfel erfassen, ›unmittelbare Evidenz‹, ›intuitive Sicherheit‹, ›adäquate Gewißheit‹ erlangen zu können. Daher wird das Psychische mit dem Psychologischen vertauscht.

Nehmen wir einmal an, wir wären Geschichte, purus actus, unmittelbares Geschehen selbst, so besäßen wir weder Geschichte noch Zeit. Vielmehr besteht ja die Zeitreihe grade darum, weil wir die Möglichkeit haben, als bewußte Wesen aus vorbewußtem Erleben heraus- und ihm sachlich gegenüberzutreten. Es ist keineswegs so, daß erst die ›Zeit‹ (als fluxus metaphysicus) da ist und dann die Uhr erfunden wird, um Zeit zu messen und in geschichtliche Perioden, Rhythmen, Abschnitte abzustellen; sondern die historische Zeit entsteht mit der Uhr und dem zeitmessenden Gesetz. Lebendig ist nur Leben jenseit von Raum und Zeit, so daß man wohl sagen kann, daß eine maschinelle Welt, eben die sogenannte historische Wirklichkeit sich allmählich zwischen das Leben und das Bewußtsein vom Leben eingedrängt und beide so voneinander abgedrängt hat, daß zuletzt die Wirklichkeit, d. h. das maschinelle Instrument zur Lebensübermächtigung sich an die Stelle des Lebens selber setzte und nun der Mensch (als Triumph lediglich mechanistischer Intelligenz) Geschichte mit Leben verwechselt. Daß die historische Denkart, welche niemals unmittelbare Gegenwart, Vision und Augenblick hat, das Vorurteil abendländischer Menschheit ist, während Altertum und Morgenland Geschichte in unserm Sinn nicht besaßen, habe ich ausführlich in meinem Buch ›Europa und Asien‹ (Berlin 1917) dargelegt; besonders verweise ich auf Kap. XIV, überschrieben ›Das Weltbild. Wirklichkeit oder Leben‹. – Daß aber die innere Erfahrung genau die selbe Mechanik und nie ›unmittelbar‹ ist, habe ich klar begründet in dem im ›Archiv für System. Philos.‹ 1918 veröffentlichten Entwurf der universalen Charakterologie‹.


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