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III. Die geschichtliche Ursächlichkeit.
§§ 16-26.

›Siehe doch!‹ so sagte ein Bücherwurm, als er sich durch das Papier fraß, ›wie logisch zusammenhängend ist die Natur. Wohin auch ich forschend komme, überall ist ein Weg‹ ... ›Törichter Bücherwurm‹, erwiderte ein Denker, ›das müßte ja aller Wunder Wunder sein, wenn uns, die wir nur dort Wege bohren, wo wir bohrend atmen können, jemals Erfahrungen begegnen würden, die in die Fabeln unsrer Übereinkunft nicht hineinpaßten.‹

§ 16. Vorbemerkungen über Kausalität.

Sobald wir Wissenschaft – handle es sich nun um Wissenschaften der äußeren oder der inneren Erfahrung – nicht mehr als bloß beschreibend, sondern als erklärend zu betrachten bemüht sind, sind wir unweigerlich auf Verknüpfung der in Erfahrung gegebenen, oder besser gesagt durch Erfahrung festgestellten Phänomene mit dem Leitseile von Ursache und Wirkung angewiesen.

Die Geschichte aber wird niemals zum Range einer beschreibenden Wissenschaft sich erheben ( § 6). Schon im Begriffe des Geschehens liegt der Hinweis auf Kausalität. Man hat daher jedes Denken an Hand von Kausalität historisches Denken genannt.

Hierbei getröstet man sich gern mit dem alten Satze vere scire est per causas scire. Aber man könnte diesem Leitsatze des historischen Denkens auch das Umgekehrte entgegenhalten, daß von wahrem Wissen nur auf solchen Gebieten die Rede sein könne, auf denen der Erkennende nicht auf Erklärung im Sinn kausaler Begründung angewiesen ist, das heißt, wo er nicht die Erscheinungen beherrschen und übermächtigen will, sondern nichts ist als ein ruhig schauendes Auge, welches sagt, was es schaut. Das gilt insbesondere für die logisch-mathematische Sphäre, in der keine Realursachen ausgewiesen werden, das Denken zeitlos erkennt, und die Erklärung in der Tat nichts anderes als Beschreibung ist. Wie aber sollte Geschichte zum Range mathematischer Gewißheit kommen?

Die Geschichte ist also darum, weil sie niemals anschauend, beschreibend und phänomenologisch arbeiten kann, sondern Wirklichkeit für andere Wirklichkeiten unterstellen muß, dem strengen, eigentlichen Wissen entgegengesetzt, und eine große Selbsttäuschung ist es, wenn z. B. Erich Marcks und Friedrich Meinecke gelegentlich die aktenmäßige Sicherheit mit der mathematischen Sicherheit vergleichen.

Im selben Maße, als Geschichte auf Anschauung und Beschreibung des Angeschauten sich beschränken und der kausalen Unterstellung entraten kann, verdient sie höheres Vertrauen, ja sogar in höherem Maße den Namen Wissenschaft als die pragmatische Geschichte der Völker und Staaten, welche erklären will, wie ein Zustand aus dem andern hervorgegangen ist und wie wir uns den Zusammenhang der Ereignisse zu denken haben.


Es ist nun die großartige Erdichtung des Menschen, so zu verfahren, als sei Kausalität das Normale, dagegen Durchbrechung des Kausalzusammenhangs (z. B. Wunder, Chaos, Verbrechen, Zufall) recht eigentlich abnorm, während doch umgekehrt Kausalität der Faden der Ariadne ist, an welchem wir durch ein Labyrinth irrationalen Lebens uns hindurchtasten.

Dank dieser einen großen Vernunftforderung aber ist der Mensch eben Mensch, d. h.: beurteilender Geist. Kausalität, so heißt das Gehäuse, darinnen er lebt und einzig leben kann, so wie der Krebs in seinem Panzer, die Seemuschel in ihrer Schale, die Schnecke in ihrem Schneckenhaus. Welche Gewalt diesen Damm gegen Leben aufwerfen ließ, ob Angst, Not, Selbsterhaltung, lebensnotwendige Beschränkung, das bleibe unerörtert. Genug der Damm besteht! Er versperrt jede Aussicht und läßt uns niemals aus dem Gefängnis: Wirklichkeitswelt, herauskommen.

Zurückweisen aber wollen wir den Aberglauben, daß dies Schneckenhaus unserer Lebensnot eben das Leben und daß die Wirklichkeit, mit welcher wir uns umzirken, eben schlechthin das Elementarisch-Seiende, Ursprüngliche, Letzte sei. Das hieße, daß die menschliche Sinngebung des Lebens eben auch schon im Elemente des Lebens liege.

Wir gleichen vielmehr Bewohnern einer Pfahlbauernstadt, die auf Pfählen in einem Meere leben, das sie nicht kennen. Von dem sie darum nichts wissen, weil sie ihre noterbaute Stadt für das schlechthin Gegebene, für den ›Boden der Wirklichkeit‹ halten.

Selbst der Trost, daß unserm logischen Bedürfnis nach Sinn das An-sich-Lebendige geheimnisvoll entgegenklinge (indem es wenigstens die Möglichkeit kausalen Erfassens berge), ist völlig leer, weil ja eine Welt, die nicht kausal verknüpfbar wäre, eben nicht unsere Welt sein könnte. ...

§ 17. Kausalität als Aufgabe.

Die wohlbekannte Unvermeidbarkeit der historischen Fakta ist somit nichts anderes als Forderung der Vernunft. Nachdem das Unerwartete, Widersinnige, Absurde, Abrupte plötzlich eingebrochen und Ereignis geworden ist, wird der Mensch immer Gründe suchen und immer Gründe finden, warum alles so habe kommen müssen, wie es eben kam.

Die historische Darstellung, wie Kriege, Revolutionen, Staatsbankerotte, Reichsuntergänge, Massenrevolten ›entstehen‹ und wie sie notwendig so und nicht anders haben kommen müssen, überhaupt die Übertragung einer vermeintlichen Naturkausalität auf Menschengeschichte steht wissenschaftlich auf gleicher Stufe mit jenen verrufenen Krisentheorien mancher Nationalökonomen, welche z. B. die Periodizität von Börsenkrisen in Verbindung mit dem Erscheinen von Nebelflecken oder von Sonnenprotuberanzen gebracht haben.

Die Art, wie das Kausalbedürfnis sich befriedigt (indem es jedem von Menschen unabhängigen (und daher freiem) Geschehen eine möglichst nahe Kausalreihe unterschiebt), gleicht durchaus dem Verfahren des Naturmenschen, der, weil ihn Zahnschmerzen plagen, den nächsten besten Vorübergehenden überfällt und durchprügelt.

Auch während des gegenwärtigen Krieges (1914) haben Physiker, Astronomen und Philosophen jeden beliebigen Kausalaberglauben erneuert. Ein Professor der Physik (Zenger) erklärt in einem Werk ›Die Meteorologie der Sonne und ihres Systems‹ (1916) das Eintreten des europäischen Krieges aus den Sternen; ein anderer (Mewes) macht in einem Buch ›Die Kriegs- und Geistesperioden im Leben der Völker‹ (1916) den niedrigen Grundwasserstand für den europäischen Krieg verantwortlich; ein dritter (Löwenfeld), der ein dickes Buch ›Über die menschliche Dummheit‹ geschrieben hat, erteilt in einer Schrift ›Der Weltkrieg im Lichte des Kausalitätsgesetzes‹ (1916) die beruhigende Auskunft, daß ›der Weltkrieg seine Notwendigkeit zweifellos der absoluten Gültigkeit des Kausalitätsgesetzes verdankt‹. Und wie der eine den Krieg aus Wind und Wetter erklärt, so kann ein anderer auch Wind und Wetter aus dem Kriege erklären. Als der Sommer 1916 besonders regenreich geriet, veröffentlichte ein Astronom (Stentzel) in einer Fachzeitschrift eine Abhandlung, welche darlegte, daß Geschoßexplosionen. Waldbrände, Rauchentwicklungen, Artilleriebeschießungen notwendig sogenannte barometrische Tiefs erzeugen. Das Wetter des Jahres 1916 sei also nur eine Folge des Kriegs. Darin aber zeige sich ein welthistorischer Sinn. Denn das nasse Wetter sei in Deutschland, während seine Feinde es aushungern wollten, der Ernte günstig, und somit habe der Krieg, welcher das Vaterland bedrohe, grade dadurch eine Fürsorge göttlicher Zweckmäßigkeit offenbart. Mit ähnlicher Logik haben Geologen aus Erdveränderungen, Chemiker aus Vorgängen des Stoffwechsels, Physiologen aus Nervenprozessen, Psychologen aus seelischen Gesetzen den Krieg ›erklärt‹; und die eine Kausalreihe ist ebenso gültig und ebenso beruhigend wie die andere.

Statt in neuen Periodizitäts-, Ablaufs- und Rhythmengesetzen der Geschichte (Domäne jeder Pfuscherei!) zu schweigen, sollte man die kritische Frage stellen: wie denn eigentlich Gesetze aufgestellt werden sollten ohne Zahlenmäßigkeit und Rhythmenabläufe, wie denn der Mensch es anfangen sollte, seinen Turnus von Entstehen, Blühen und Vergehen nicht in alles und jedes einzuahmen?

Zunächst ist alles, was für uns und von uns aus Periodizität, Stufenfolge und Wiederkehr des Identischen offenbart, in Milliarden Spielarten immer gleichzeitig vorhanden. In jedem Augenblicke blüht irgendwo Sommer und lastet gleichzeitig irgendwo Winter. Irgendwo beginnt Kultur und irgendwo endet sie. Irgendwo lebt schon das Höchste, was der Mensch je erreichen wird und irgendwo zugleich das Niedrigste, was jemals war. Erst von mir aus und zu mir hin gewinnt das bunte Beisammen aller nur möglichen Formen genetische Folge. Und von mir aus kann ich dann von Notwendigkeit reden als von Wende meiner Not.

§ 18. Die geschichtliche Motivation.

Vollkommen konstruktiv aber wird geschichtliches Denken erst dann, wenn es sich nicht um die äußere Ursachenkette der Staatengeschichte, sondern um jene innere Ursächlichkeit handelt, die man Motivation nennt. Daß diese auf eine Mechanik hinauskommt, welche die in der Sprache gegebenen orientierenden Begriffe an Stelle des nur durch Ahmung nacherlebbaren persönlichen Lebens setzt, kann man deutlich an der folgenden hölzernen Fiktion Kants bemerken: ›Wenn es möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart ... so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, ingleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, so könnte man eines Menschen Verhalten auf alle Zukunft mit Gewißheit, wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis ausrechnen.‹ – Das ist denn doch die ungeheuerlichste Mißkennung des Lebens, die sich denken läßt: menschliche Orientierung über ..., d. h. Begriffe der Psychologie werden naiv an Stelle des Lebendigen selbst gesetzt. Der Historiker aber begnügt sich nicht einmal mit solch personaler Mechanik. Er läßt kühnerhand sogar zwischen Völkern und Gruppen Motive walten, von denen die einzelnen Bestandteile dieser Völker und Gruppen, nämlich die Individuen, entweder gar nicht oder doch erst viele Jahre später erfahren können; so wie jedermann erst nachträglich aus Büchern erfährt, wie der Zeitgeist oder der Volksgeist, überhaupt der Stil und Charakter seiner Zeit gewesen sei, obwohl er ein Stück dieser Zeit eben selber war.

So liegt es z. B. immer, wenn den Völkern mitgeteilt wird, ob sie sich lieben oder hassen. Im gegenwärtigen Augenblick, Januar 1916, erfahre ich aus Millionen Zeitungen, daß die Bulgaren glühende Liebe und Freundschaft für die Türken hegen, während vor Jahresfrist ein Krieg zwischen Bulgaren und Türken beständig auszubrechen drohte, weil sich die einen als Befreier vom Joche der anderen aufspielten. Ebenso blüht gegenwärtig (1916) eine sehr große Freundschaft zwischen Japanern und Russen, welche einige Jahre zuvor sich grausam abschlachteten. 1750 bestand ein scheinbar ewig unüberbrückbarer Gegensatz von Frankreich und Osterreich, dagegen eine nahe Verbindung Osterreichs mit England; zwei Jahre darauf aber hatte das Bild sich verändert: Osterreich und Frankreich gingen Hand in Hand und kämpften gegen das mit England verbündete Preußen. – Im Mai 1866 überlegten die beiden Regierungen von Osterreich und Preußen in freundschaftlichem Verkehr, ob ihre Völkerschaften Deutschland untereinander aufteilen und dann gemeinsam Frankreich überfallen sollten. Zehn Tage nachher erklären dieselben Regierungen, daß ›der unüberbrückbare Gegensatz Osterreichs und Preußens nur durch den Völkerkrieg ausgetragen werden könne‹, und die Völker, welche noch die Woche zuvor Bundesbrüder und Blutsfreunde genannt worden waren, sind nun entschlossen, Erbfeinde zu sein. – Es erweist sich in allen Fällen, daß größere Volksmassen mit jeder Regierung von heute auf morgen sich abfinden lassen, wofern nur die privaten Egoismen nicht berührt werden. Völker als solche haben einander weder je geliebt noch gehaßt, obwohl der Historiker beständig von Freundschaft oder Feindschaft der Völkergruppen zu fabeln hat. – In der englischen Monatsschrift ›Arbitrator‹ veröffentlicht (Januar 1916) ein Achtzigjähriger, Edward Owen Greening, ein Verzeichnis der verschiedenen Völkerbeurteilungen und Sympathien, die er (vom Standpunkt englischer Geschichte) in einem langen Leben erlebt hat; sehr ergötzlich ist zu lesen, wie z. B. jeder Franzose in den Straßen Londons 1852 geprügelt, dagegen 1853 geküßt wurde; die Russen um 1890 heldenhafte Retter Europas, um 1900 Verschwörer gegen Kultur, um 1915 wieder Helden geworden sind; die Türken 1890 verfolgte Gentlemen, 1900 feile Mörder, 1910 erleuchtete Reformer, 1918 elende Werkzeuge Preußens für den englischen Historiker gewesen sind. Oft wird die Welt innerhalb von 24 Stunden durch die Nachricht überrascht, daß zwei Völker einander grimmig hassen, während am Tage vorher von den Politikern darüber verhandelt wurde, ob sie sich lieben oder hassen sollen.

§ 19. Die Vereinfachung in der geschichtlichen Motivation.

Wenn ferner die Historiker große Krisen, Kriege, Revolutionen, Staatsumwälzungen, Religionskämpfe pragmatisch zustande kommen lassen, wobei nach Vorgang des Thukydides Gründe (causae, αἰτίαι) von Bedingungen (conditiones, ἀρχαί) unterschieden zu werden pflegen, so geht das niemals ohne lapidare Vereinfachungen ab.

Der Historiker kann nämlich nicht einmal von der schlichtesten Handlung des eigenen Ich mit Gewißheit sagen, aus welchem ›Motive‹ sie geschah oder daß sie überhaupt aus einem Motive geschah, sondern der handelnde Mensch enttaucht einem Chaos von Möglichkeiten und logifiziert von nachhinein sein Handeln, indem er es auf ein einzelnes, bewußtes, seinem Wunsche oder Urteil über die Handlung entsprechendes ›Motiv‹ abschiebt. Die Motivation betrifft also nicht die Handlung als solche, sondern das Bild, welches die Handlung ins Bewußtsein wirft.

In der Geschichteschreibung wird nun aber eine hanebüchene Psychologie von lauter gradlinigen Motiven nicht etwa nur Personen, sondern ganzen Weltteilen zugeschoben. Und das geschieht selbst dann, wenn der Historiker wohl weiß, daß diese vermeintlichen Motive in keiner Seele je in der angenommenen Art lebendig waren noch lebendig sein konnten. Man unterschiebt z. B. kriegerische Aktionen oder sonstwie entscheidende Volksbeschlüsse der Habsucht Preußens, dem Neide Englands, der Ruhmsucht Frankreichs, dem Ehrgeiz Japans usw.; aber kein Historiker würde darum wähnen, daß diese allzu gradlinigen Motive in dem einzelnen Preußen, Engländer, Franzosen, Japaner usw. nun wirklich lebendig gewesen sind. Denn selbst wenn diese Motivreihen in den Einzelseelen der wirklichen Menschen unter anderen Triebkräften entscheidend mitwirkten, so würden sie doch beständig durch andere und oft entgegengesetzte Antriebe durchkreuzt, umgefärbt, gelähmt.

Es ist gewiß nicht zu bezweifeln, daß Habsucht, Neid, Ruhmsucht usw. in den Völkern mehr oder minder stets lebendig sind, aber alle diese Willensimpulse kehren sich ebenso gegen die Mitglieder der eigenen wie gegen die unbekannten Personen eines fremden Volkskörpers. Wenn also ein Staat oder Volk wirklich aus Machtwille, Gerechtigkeit oder sonst einem ›Motiv‹ in einen Krieg eintreten könnte, so könnte doch kein einzelner innerhalb des Staates oder Volkes jemals aus solchen Motiven Kriege beginnen. Nehmen wir etwa Machtwillen als geschichtliches Völkermotiv, so würde jeder einzelne, indem er einen Krieg will, ebenso viel Macht dabei entäußern wie gewinnen müssen; er kann Freunde, Verwandte, Interessen, Werte auch in dem feindlichen Volkskörper besitzen; ja wird in der Regel als Privatmann ganz andere Begriffe von Macht und Recht haben, als das Abstraktum Staat hat.

Wo denn eigentlich liegen nun die Motive der Geschichte? Wer hat sie? Wer trägt sie empor? Ich meine jene Motive, von denen der Historiker faselt, indem er etwa schreibt: ›Der Handelsneid Englands verschuldete den Krieg von 1914.‹ ›In edlem Zorne erhob sich das gesamte Deutschland.‹ ›Der Ruf nach Rache durchzitterte ganz Frankreich.‹ ›Ganz Italien war von Begeisterung durchglüht‹ usw. Alles dieses sind Abbreviaturen analog symbolischen Abbreviaturen, mit denen die Naturwissenschaft die unübersehbare Verwickeltheit und Buntheit lebendigen Lebens auf möglichst vereinfachende, kraftsparende Formeln zurückzwingt. Mit den realen Lebensvorgängen haben diese Unterstellungen der Geschichte nur sehr indirekt zu tun. Denn weder die Psychologie noch Physiologie von heute wäre entfernt imstande, auch nur annähernd exakt die lebendigen Vorgänge am Menschen nachzeichnen zu können, die von Fall zu Fall immer neu und anders verlaufen.

Wer ermißt z. B., aus welchen Motivzuflüssen eine allgemeine Volksbewegung, wie der heroische Enthusiasmus des August 1914, den künftige deutsche Historiker nie ohne Begeisterung schildern werden, im einzelnen eigentlich gespeist wurde. Wie viel Herdentrieb, psychische Überrumpelung, ungesunde Angstneurose, Massensuggestionen, Machtwilligkeit, Urteilslosigkeit, Abenteuerlust, Dummheit, Wahn usw. in eine solche scheinbar einheitlich zu charakterisierende Massenerregung eigentlich eingeht, edelste Herzenshoheit und Einfalt nicht minder als jeglicher Verbrecherinstinkt und jegliche Selbsttäuschung.

Genau aber wie die ›Wirklichkeit‹ der Naturwissenschaft, z. B. die Strukturformel des Chemikers, nur eine Unterstellung ist zu knappester Erläuterung und Beherrschung der an sich immer nur erlebbaren Prozesse, genau wie in der Naturwissenschaft die ›Konstatierung‹ eines Prozesses schon die Vereinfachung, Übermächtigung, ja Vergewaltigung des Unmittelbaren in sich schließt, indem ein menschliches Interesseprinzip verfügt, daß just dieser Prozeß aus einem an sich selbst irrationalem Zusammenhang herausgehoben werde, genau so ist geschichtliche Überlieferung eine Unterstellung, nach der Regel des kleinsten Kraftmaßes und angeregt durch Vorurteil, d. h. Interesse.

So nenne ich’s denn Gespensterglaube, daß geschichtlicher ›Wirklichkeit‹ eine andere Würde als der aufsammelnden Formel des Naturforschers zuteil wird. Aberglaube ist es zu wähnen, daß Geschichte das Leben selber spiegeln könne oder lebensnäher und lebenswärmer sei, als es irgendeine Mechanik ist. Wer glaubt denn in der Tiefe des Herzens an Völker, Staaten, Gruppen, Genera? Wer glaubt an historische Motive? Jeder praktische Mensch fühlt und weiß genau, daß er es immer nur mit anderen Seinesgleichen in Liebe oder in Haß zu tun haben wird. Erst der theoretische Mensch, d. h. der Historiker, welcher doch den ›Wirklichkeitssinn‹ in Pacht zu haben wähnt, führt von nachhinein das lebendige Leben auf die Gespensterfabel einander liebender und hassender Abstrakta zurück, womit er das irrationale Chaos logifizieren zu können und die sogenannte Wahrheit besitzen zu können wähnt, eine Wahrheit, welche um so wahrer wird, je weiter das ursprüngliche lebendige Geschehnis in den Schoß der Vergessenheit zurücksinkt und seine Formulierung sich weiter und weiter vereinfacht.

§ 20. Über Unzulänglichkeit der Motivation.

Sehr merkwürdig, ja tragikomisch enthüllt sich diese Unzulänglichkeit der historischen Motivation, wenn die historische Persönlichkeit als Träger und Repräsentant eines historischen Ereignisses völlig andere Motivketten tragen muß als der ursprüngliche lebendige Mensch rechtfertigen konnte. Über dieses Verhältnis sind die Historiker noch im unklaren! Daß alle Motive geschichtlicher Handlungen nach kaum tausend Jahren völlig unbegreiflich sind, schon darum, weil das Seelenleben inzwischen sich veränderte, hat Karl Lamprecht, während er gleichwohl der deutschen Geschichte eine höchst plumpe Psychologie unterstellte, überzeugend dargelegt (Einführung in das hist. Denken, 1913, S. 60ff.). – Oft läßt der Historiker Könige und Staatsmänner Kriege verlieren und gewinnen aus Motiven, die eigentlich genau das Gegenteil zum ursprünglichen Erlebnis des lebendigen Menschen sind. Was denn eigentlich ist wahr von alle den Charakteristiken der Historiker, die oft, wie z. B. die meisten Charakteristiken Macaulays nicht im mindesten von einem historischen Roman sich unterscheiden? –

Der Historiker führt die Zerstörung Magdeburgs am 20. Mai 1631 auf die Grausamkeit des Grafen Tilly zurück; aber die Legende, daß Tilly diese Zerstörung gewollt hat, wurde aus politischen Gründen von seinem Feinde Gustav Adolf verbreitet; in Wahrheit wurde er durch die unfreiwillige Einäscherung Magdeburgs ähnlich geschädigt wie Napoleon durch den Brand von Moskau. – Die vielumstrittene Konvention von Tauroggen am 30. Dezember 1812, mit welcher die Wiedergeburt des preußischen Staates beginnt, entsprang wahrscheinlich viel mehr einer unfreiwilligen Verlegenheit als einem heroischen Entschlusse des Grafen York von Wartenberg. Nachträglich aber sind dann die Motive des historischen Aktes so durchaus verstellt worden, daß heute eine ganze Bibliothek von Schriften da ist, deren jede das Vorkommnis anders motiviert und ausmalt. – Nach der Regel ›Ich bin ihr Führer, also muß ich ihnen folgen‹ stehen grade die führenden Persönlichkeiten den historischen Ereignissen, deren bloße Exponenten sie sind, meistens ohnmächtig, fremd, ja ahnungslos gegenüber. Die Eroberungskriege, die der Person Ludwig XIV das Omen der Raubgier und Ländersucht eintragen, hätte dieser Regent sicher gerne vermieden, wenn er sie nur hätte vermeiden können, ohne Revolutionen heraufzubeschwören. – Politische Handlungen und Entschlüsse können also vom einzelnen her aus ganz anderen Motiven unternommen werden, als im Spiegel der Weltgeschichte, nachträglich, nach Erfolg oder Mißerfolg ausdeutend, der Historiker anzunehmen für Recht befindet. Der in einer Lage geopferte und duldenmüssende Teil wird, indem er das historische Urteil gestaltet, schwerlich für die Erwägung zugänglich sein, daß der leidenmachende Teil vielleicht keinen anderen Ausweg besaß oder erkannte, als den, der leiden machte und wird die Gefühle, die die Lage in ihm auslöst, naturgemäß immer auf den Urheber oder vermeintlichen Urheber der historischen Lage übertragen.

Die Geschichte kennt viele Fälle, in denen ein Wagnis, das dem Wagenden den Ruf des Heldentums einträgt, aus Angst, Feigheit, Ehrgeiz usw., kurz aus jedem, nur nicht aus heroischem Motiv unternommen wurde. Auch liegt eine notwendige Ungerechtigkeit darin, daß der Historiker seinen Helden alles aus heldischen, seinen Stiefkindern alles aus niedrigen Motiven deutet. Zudem wird das Charakterbild mancher Personen, z. B. das eines Herostrat und Ephialtes von einer einzelnen Handlung aus gezeichnet, während in vielen anderen Fällen die einzelne Handlung im Sinne eines Gesamtbildes retouchiert wird.

Besonders tragisch erweist sich die Doppelheit von Geschichte und Leben in dem gar nicht seltenen Falle, daß die als Sündenbock dienende geschichtliche Persönlichkeit für Notausgänge verantwortlich gemacht werden muß, die ihren eigenen Absichten sehr unwillkommen waren. Von den am gegenwärtigen Kriege (1914) beteiligten Regenten dürfte für keinen der Krieg so qualvoll sein, wie für den Zaren Nikolaus II, welcher zur Einwilligung in den Kriegsausbruch durch eine Reihe peinlicher Gewaltakte, die ihn vor den Verlust der Regentschaft oder des Lebens stellten, schließlich gezwungen wurde; das wird aber den Historiker nicht hindern, diesen Zaren für die unter seiner Regentschaft geführten Kriege und ihre Mißerfolge verantwortlich zu machen. So hat nach des Thukydides Bericht der besonnene Staatsmann Nikias seinen ganzen Einfluß aufgeboten, um die Heerfahrt der Athener nach Sizilien im Jahre 415 zu hintertreiben, nachdem sie aber dennoch beschlossen war, ward er gezwungen, ihren Oberbefehl zu übernehmen und als sie endlich mißglückte, mit seinem Leben für die verkehrte Unternehmung zu büßen.

§ 21. Zusätze über Motivation.

Alle diese Erwägungen stellen klar, daß die Motivationsketten der Historiker vereinfachende Fiktionen sind. Die Gründe, aus denen der Geschichteschreiber Völkerschicksal werden läßt, sind nirgendwo anders ›wirklich‹ als im Kopfe derer, welche Geschichte stiften. Wo denn auch sollten sie sonst lebendig sein?, da ja die Wesen, um deren Motivation es sich handelt, die Abstrakta Volk, Staat, Nation, Partei usw. (wie wir in §§ 4 und 5 ausführten) eben gedacht sind. Nachdem aber einmal der Motivationszusammenhang als brauchbar angenommen worden ist, gilt er (gleich einer naturwissenschaftlichen Hypothese), solange nicht neue und unabweisbare Forschungen zu seinem Umsturz und zur Konstruktion eines anderen Zusammenhanges zwingen, als geschichtliche Wirklichkeit. Im Falle von Zwistigkeiten zwischen Erleben und Wirklichkeit (wobei übrigens jede Wirklichkeit schon Konstatierung von Erlebnis, d. h. Geschichte ist) wird das Erlebnis allemal nach der geschichtlichen Überlieferung gestreckt. Man glaubt in jedem Einzelfall der Geschichte mehr als der eigensten persönlichen Wahrnehmung. Daher die so häufige Redewendung: ›Dies kann nicht stimmen, denn es widerspricht den historischen Tatsachen.‹ Auf diese Weise ist alle einmal entstandene Tradition, mag sie so wahr oder falsch sein, wie sie will, schon die Vorform zur Gestaltung alles späterhin Geschehenden. Glied um Glied der Geschehnisse scheint durch die Jahrhunderte hin sich logisch aneinander zu schließen und die Wahrheit einer einzigen tragenden Einheit zu verbürgen. Aber diese Einheit und dieser Zusammenhang ist Gedanke.

Schließlich geraten alle konkreten Erlebnisse wirklicher lebendiger Menschen (wofern diese überhaupt bekannt und den konkreten Menschen selber je erfaßbar sein sollten) vollkommen in Vergessenheit. An ihre Stelle tritt die historische Wirklichkeit und ihre Motivations-kette und -einheit, d. h. eine Welt der bloßen Analogie; genau wie an Stelle der lebendigen Naturerlebnisse die gedachte und mechanische Welt der Naturforschung tritt. Darum scheue ich nicht zu behaupten, daß das Ziel der Geschichte, dieser vermeintlichen Wirklichkeit, auf Mechanik hinausläuft.

§ 22. Die Beruhigung bei Tatsachen.

In vielen Fällen tritt das Grob-Konstruktive und Mechanische aller Geschichte, die sogenannte Geschichtsklitterung, selbst den Historikern allzu derb ins Bewußtsein. Dann zwingt ein merkwürdiger Instinkt dennoch an den bloß analogischen und mechanischen Fiktionen der sogenannten historischen Wirklichkeit festzuhalten.

Es handelt sich bei diesem Vorgang um den selben Instinkt, der uns z. B. bei Duellen, Zweikämpfen, Rechtsprozeduren, deren Ausgang zufällig, jedenfalls aber für das ethische Recht unverbindlich ist, gleichwohl dazu führt, an eine höhere Stimme, eine immanente Vernunft, eine sittliche Weltordnung oder an eine logische Welteinheit, ›die auch das Unvernünftige mitumfaßt‹ als an ein Ordal oder Gottesurteil uns vertrauend zu wenden. Da nämlich der beurteilende Verstand dem alogischen Leben ohnmächtig und dürftig gegenübersteht, so pflegt das Kausalitätsbedürfnis selber in vielen Fällen beim Erfolge sich zu beruhigen und diesen als letzte Vernunft anzuerkennen. Wir geben es dann auf, irgendetwas uns dabei zu denken. Wir nehmen vielmehr eine historische Schicksalswendung einfach hin in der bekannten ergebenen Stimmung: › Sint ut sunt, aut non sint.‹ Aus diesem Hinnehmen des jeweils Gegebenen mit dem ironischen Achselzucken, welches sagt: ›Ja, so ist das Leben, und weil es so ist, darum wird es wohl so sein müssen,‹ macht der ›historische Kopf‹ eine Tugend, indem er solchen, die sich beikommen lassen, gegen ›historische Wirklichkeit‹ (z. B. gegen Vorhandensein von Hunger und Not, Krieg und Knechtsstaaterei, Raub und Politik) zu frondieren, den ›historischen Sinn‹ abspricht, womit dann die Sache freilich erledigt ist. Somit kümmert sich die Geschichte, politische wie sogenannte Geistesgeschichte, schließlich immer nur um die endgültigen Erfolgs- und Machttatbestände. Nachträglich aber begegnet uns der höchst naive Schluß, daß nun diese endgültigen Erfolgs- und Machttatbestände ein Spiegelbild der Werte oder Bedeutungen von Menschen seien. z. B. macht Francis Galton in seinem Buch ›Hereditary Genius‹ die Berühmtheit zum Gradmesser der Genialität. ›High reputation is a pretty accurate test of high ability‹ (p. 2). ›The men who achieve eminence and those who are naturally capable are, to a large extent, identical‹ (p. 34).

Man hat sogar das Recht auf dem Flugsande der Geschichte auszubauen unternommen und die Erzwingbarkeit von Rechtssatzungen mit dem historischen Dasein der Satzung begründet. Die historische Rechtsschule, welche das Faktum Recht mit der Sanktion des Rechtes vermengt, dreht sich in dem Kreise: ›Das Recht besteht, weil es recht ist, und es ist recht, weil es besteht.‹ Würde morgen die heilige Inquisition, die Guillotine oder der Islam zur historischen Tatsache, so würde übermorgen der Beweis da sein, daß sie notwendig seien; würde Not dazu zwingen, Menschenfleisch zu essen, so würde die Wissenschaft beweisen, daß das gesund sei. Darum sagt Friedrich der Große: ›Die Geschichte beurteilt uns nie nach unseren Gründen, sondern nach unseren Erfolgen. Was bleibt uns also zu tun übrig? Wir müssen Erfolg haben.‹

§ 23. Das Verhältnis des historischen Erfolgs zur Werthaltung.

Die Beruhigung beim Erfolge und die Ableitung eines Rechtes oder Wertes aus einem Erfolg- oder Machtverhältnis ist eine sacrificatio post eventum ( logificatio post festum), durch welche der Mensch seine Freiheit von nachhinein zu erretten versucht.

Die Sache ist diese: In jedermann besteht die Tendenz, das, was er ohnehin annehmen müßte, weil er es doch nicht ändern kann, nun auch scheinbar freiwillig anzunehmen, von nachhinein zu billigen und somit aus einer bitteren Notwendigkeit in Freiheit umzuwandeln. Das aber heißt eben: kausal begründen.

Wir gleichen allesamt einem Zuge von Schlachttieren, die, während der Metzger sie zur Schlachtbank treibt, einander heldenhaft versichern, daß sie dem Imperativ der Pflicht nachzuleben gedächten und zum Wohle des Vaterlandes, ja des Menschengeschlechtes sich dem Tode weihn.

Hierzu kommt, daß die bloße Einsicht in die Ursache und den Zusammenhang eines Ereignisses auch schon eine Art Erlösung vom Naturjoch und einen Akt geistiger Befreiung in sich schließt. Deshalb würde man, selbst wenn Ursache und Zusammenhang fiktiv wären, lieber an einer solchen Einbildung festhalten, als in vollkommener Wehrlosigkeit bloß passiv sein Leben erdulden; ja mir schien zuweilen, als ob der Mensch dadurch, daß er Ursachen postuliert, eine ungeheure Vermenschlichung am Leben vornähme und gleichsam alles, was er hinnehmen muß, mit kühnem Entschlusse so umdenkt, als habe er Macht darüber.

Daher pflegt man z. B. auch bei den verwegensten und offenkundigsten Rechtsbrüchen, z. B. im sogenannten Kriegsrecht oder im sogenannten Völkerrecht, wo das Urteil eigentlich schon vor der Rechtsfindung fertig ist, dennoch den Schein eines Rechtsverfahrens aufrechtzuerhalten, vor anderen und sogar vor sich selbst nicht eingestehend, daß es Fälle gibt, in denen der Mensch im Bann der Naturnotwendigkeit die Zufälle eben nimmt wie sie sind und jedes freien Urteils sich begibt.


Daß der historische Erfolg immer das Erste, der Werthaltungsakt aber das Zweite ist, d. h., daß Erfolge das Wirksamwerden von Werten, nicht aber auch umgekehrt Werte den Erfolg verbürgen, das zeigt sich in tragischer Art, wenn historische Personen, die auf Grund ihrer Erfolge vergöttlicht wurden, sofort erniedert werden, wenn sie etwa nachträglich Mißerfolge erleiden.

So scheiterte der Ruhm des Miltiades, nachdem er soeben der Retter Griechenlands geworden war, an einer einzigen verkehrten Berechnung. Ebenso scheiterten Themistokles, Aristides und Kimon an ihren ersten Mißerfolgen Der Ruf des Alkibiades schwebte, je nach Erfolg und Mißerfolg, beständig zwischen Vergötterung und Verwünschung. Ähnliches sehn wir beim Perikles. – Pausanias, der im Falle des Erfolges König über ganz Griechenland und der entscheidende Mann der alten Geschichte geworden wäre, starb elend an seinem Mißerfolg. – Nehmen wir an, dem Albrecht von Wallenstein sei um 1631 sein Plan geglückt, mit Hilfe schwedischer und sächsischer Truppen den Kaiser Ferdinand II abzusetzen, und sodann die Schweden selbst aus Deutschland herauszudrängen, so wäre er eine der segensreichsten Figuren der deutschen Geschichte geworden. Was wurde er nun? Ein erfolgloser, also wirklicher Verbrecher. – Karl Stuart handelte gewissenlos, verkehrt und verbrecherisch, als er entgegen seinen beschworenen Königspflichten, auf die Vernichtung der Verfassung und Gesetze Englands ausging, aber falls er der Mann gewesen wäre, sein Vorhaben durchzuführen, falls er Erfolg gehabt und über die Verfassungspartei den Sieg erlangt hätte, er würde ein Held, ein großer Mann, ein Gesellschaftsretter heißen. – Wenn dem Marschall Bazaine, als er 1871 in Metz eingeschlossen lag, seine Absicht geglückt wäre, sich und seine Armee über den Krieg hinaus intakt zu halten, so wäre er nach Friedensschluß wahrscheinlich der entscheidende Mann in Frankreich geworden; weil aber der Mangel an Lebensmitteln, seinen Plan vereitelnd, ihn zwang, sich mit 170 000 Mann den Preußen zu übergeben, so wurde er als Verräter zum Tode verurteilt. – Napoleon III wäre im Falle des Fehlgangs seiner Kaiserträume nichts als ein Narr, ja vielleicht sogar nur eine komische Figur: ein Abenteurer, der, ohne einen Tropfen Napoleonischen Blutes in den Adern, von dem Wahne besessen war, sich zum neuen Bonaparte emporzuschwindeln. Aber der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 gelang und ganz Europa, Fürsten wie Völker, Geistlichkeit und Literaten katzbuckelten und speichelleckten vor dem Erfolge, natürlich nur grade solange, als der Erfolg vorhielt. – Wie würde wohl das Urteil der Geschichte über Cavour lauten, wenn sein teuflisches Ränkespiel von 1860 ihm mißglückt wäre? Man würde ihn Schuften nennen, aber so nennt man ihn einen großen Staatsmann. – Ein denkwürdiges Beispiel für die Unberechenbarkeit der Volksgunst und ihre Beugung durch den Erfolg entnehme ich der Geschichte Englands. Georg IV wollte, als er 1821 die Thronfolge antrat, seine Gemahlin Karoline loswerden; daher ließ er ein unerhörtes Parlamentsverfahren gegen sie einleiten, das sie des Ehebruchs mit dem Stallmeister Bergami bezichtigte. Der Prozeß endigte zugunsten der Königin, der das Volk großartige Huldigungen bereitete. Acht Tage lang wurde London illuminiert und Personen, welche kein Licht in ihre Fenster stellten, wurden mißhandelt. Auf den Straßen schrie man: ›Die Königin für immer!‹ ›Nieder mit dem König!‹ Dieser aber, das Volk wohl kennend, ließ ruhig den Jubel vertoben, dann rüstete er zum 19. Juli 1821 seine Königskrönung mit großen Volksbelustigungen und unerhörtem Prachtaufwand und gab den Befehl, die Königin, wenn sie zur Krönung vorfahre, einfach zurückzuweisen. Als das Volk, fressend und saufend, in Festjubel schwelgt, kommt die Königin vor Westminster vorgefahren, um sich mit dem Könige krönen zu lassen, aber wird am Portal mit dem Bescheide zurückgewiesen, daß sie – keine Eintrittskarte vorzeigen könne. Empört wendet sie sich an die johlende Menge, aber keiner rührt für sie eine Hand. Der König wird allein gekrönt. Zwei Wochen später stirbt die Verstoßene gramgebrochen, und nun benutzt das Volk die Leichenfeierlichkeit zu einer ganz gegenstandlosen Demonstration zugunsten der Königin. –

Auch der größte Wert wäre so gut wie nicht vorhanden, wenn er nicht zufällig faktische Macht erlangte. So wie der Elendeste die Macht hat, das Dasein des größten Kunstwerks zu vernichten, indem er nur die Augen schließt, so ist überall der Sachwert abhängig von der Frage, ob er irgendwo wirksam wird. Was vermag das reinste Herz, was der lichtvollste Gedanke da, wo er nie gesehn, oft nicht einmal geahnt werden kann? Umgekehrt sehen wir an sich mittelmäßige Figuren, Kanzler und Minister, Staatsmänner und Generale, deren Namen in beruhigten und toteren Zeiten kaum sich erhalten hätten, zu führenden Gestalten der Geschichte werden; nicht selten auch Männer, die ohne den historischen Zufall spurlos dahingeschwunden wären, zu einer plötzlichen und ungeahnten Bedeutung kommen. So wurde Daun der Führer im siebenjährigen Kriege nur dadurch, daß der fähigste General, Graf Lippe, mit einer Schauspielerin nach London durchgegangen war; Blücher war aus preußischem Dienste weggejagt, Hindenburg in preußischem Dienste kaltgestellt, als ein unerwarteter Augenblick der Geschichte diese beiden in die Lage brachte, über Völkerschicksale zu entscheiden.

§ 24. Über den Zufall in der Geschichte.

Shakespeare hat das kühne Wort gesagt: ›Wenn die Nase der Kleopatra um einen Zoll kürzer oder länger gewesen wäre, dann stünde Rom noch, wo es stand.‹ Er wollte sagen, daß im geschichtlichen Zusammenhang die am wenigsten sichtbaren und unbewußten Tatbestände die eigentlich weltumwandelnden Momente sind. So hing Roms Untergang an der Leidenschaft des Antonius wie an der Unbewegtheit Octavians gegen Kleopatra, und diese Affekte wieder hingen an einer jener Unsagbarkeiten, von denen Alfred de Musset singt:

›Welche Tragödien der Geschichte
Hast du vollendet, kleines Zucken der Lippe.‹

Das will besagen: die sogenannte Kausalität, mit der wir das Chaos zufälliger Begebenheiten zu Geschichte zusammenbinden, ist durchaus Oberflächenkausalität, unterströmt von anderen Zusammenhängen, welche ihrerseits psychologische, physikalische, vielleicht mathematische Reihen geben. Diese kausalen Reihen unterhalb von Geschichte sind aber keineswegs selbst Geschichte, sondern diese ist zunächst, wie ihr Name besagt, nichts anderes als Feststellung der äußeren Geschehnisse in Menschenwort. Überall, wo wahrhafte Historiker befunden werden, da werden sie zuerst gute Erzähler sein. Nichts anders! Der pragmatische Wahn, alle nur möglichen Wissenschaften, wie Psychologie, Geologie, Soziologie, Nationalökonomie, Staatskunde usw. in Geschichte hineinzumengen, hat die eigentlichen Fragen der Geschichte lediglich vertrübt. Hüten wir uns, historische Kausalität mit sozusagen subhistorischen Kausalitäten zu verwechseln.

§ 25. Beispiele für historischen Zufall.

Man hat mit Recht behauptet, daß die Geschichte Frankreichs eine andere wäre, wenn Napoleon I drei Jahre früher gestorben wäre. Wäre Cromwell, wie er beabsichtigte, erfolglos und unbekannt, nach Jamaika ausgewandert, so wäre Karl I von England am Leben geblieben; nur eine zufällige Verordnung Karls I verhinderte diese Auswanderung, womit dieser selber sich das Todesurteil schrieb. Hätte der Vater Mirabeaus seinen hoffnungslos vorbeigeratenen Sohn nach den holländischen Besitzungen Frankreichs verschickt, woran wiederum nur ein zufälliger Erlaß Ludwigs XVI ihn im letzten Augenblick hinderte, so wäre die französische Revolution in ganz andere Bahnen gekommen, so wie im vorigen Beispiel die englische. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 wurde durch eine Laune Emile Olliviers nicht verhindert, und wie meine Hemdenknöpfe das Königreich Hannover gestürzt haben, habe ich ›Philosophie als Tat‹ S. 457 f, aufgezeichnet. – Lord Bute zu Richmond mußte mit dem Prinzen von Wales Whist spielen, da es am vierten Mann fehlte; er sah ihn hier zum ersten Mal, fand so viel Behagen an ihm, daß er ihn einlud, nach Kew zu kommen, und so veranlaßte ein Whist den Pariser Frieden, Amerikas Freiheit und mittelbar die Revolution Frankreichs. – Die Reformation war in England das Werk der Liebe, in Frankreich das Werk eines Gassenhauers und in Deutschland das Werk des Eigennutzes. – Brandenburg reformierte wegen einer Ohrfeige und die Traktate zwischen Heinrich VIII und dem Papst scheiterten, weil der Hund des englischen Gesandten beim Pantoffelkuß ihn in die große Zehe biß. – Als Maria Stuart am 6. Februar 1587 in Fotheringay enthauptet wurde, da erschien sie den tiefergriffenen Augenzeugen als edle Märtyrerin ihres Glaubens, aber ein Zufall verwandelte die furchtbarste Tragik des Augenblicks zur Posse. Die Unglückliche hatte, um zu verbergen, daß in siebzehnjähriger Kerkerhaft ihr das graue Haar ausgefallen war, mit letzter weiblicher Eitelkeit eine Perücke aufgesetzt und als der Henker den abgeschlagenen Kopf bei den Haaren ergreifen wollte, blieben ihm diese in der Hand, während das glatzköpfige Haupt über den Boden rollte. –

Ein italienischer Historiker veröffentlicht soeben (Mai1916) in der italienischen Zeitschrift Minerva folgende Sätze über die Schlacht bei Waterloo:

›Napoleon war es unvorstellbar, seine Truppen anders als vom Pferde aus befehligen zu können. Der Gedanke, vom Wagen aus den Oberbefehl zu führen, kam ihm gar nicht, und grade das wurde sein Verhängnis. Bekanntlich war es ein großer Fehler, daß Napoleon die Schlacht bei Waterloo zu spät am Tage begann. Dieser Verzug entstand aber durch ein langes Bad, welches Napoleon seines Darmleidens wegen verordnet war, bevor er wieder in den Sattel stieg. Um einen Wagen zu besteigen, hätte er das Bad nicht gebraucht, und so wäre durch die Zeitersparnis alles anders gekommen.‹

Endlich möge noch das folgende Beispiel hier Platz finden, weil es lehrreich ist für die Art, wie historische Überlieferung zustande kommt. In den Berichten der Pariser academie des sciences von 1916 veröffentlicht ein französischer Historiker eine Geschichte der Zykladen auf Grund der von ihm für einen Zeitraum von 150 Jahren durchforschten Rechnungen der Verwaltung des delphischen Apollotempels. In diesen Rechnungen spielt besonders der Posten für Erdpech eine Rolle, welches bei den delphischen Festen der Griechen zum Bohnen der Fußböden und Altäre gebraucht wurde. Dieses Erdpech wurde aus Mazedonien bezogen, von wo seine Ausfuhr preisgegeben, Zollabgaben unterworfen oder völlig verboten wurde, je nachdem Mazedonien mit dem Auslande freundschaftliche oder feindliche Beziehungen unterhielt. Der französische Gelehrte konnte daher aus den Preislisten der Tempelverwaltung eine Kriegsgeschichte Mazedoniens konstruieren.

§ 26. Geschichte als Schicksalslotterie.

Schon im Sinnsystem des Einzel-Ich bestimmt Zufall, wen du während des Lebenslaufes kennen lernst, wer dich liebt, wer dir zu Freundschaft, Kameradschaft, Ehe entgegenkommt, welches Land, welche Eltern, welche Gaben und Bedingungen dir zufallen. Gleichwohl greift das menschlich-logische Bedürfnis in jedem Falle, wo ein Kern oder Wert der Seele berührt wird, nach fatalistischen Notwendigkeiten. Die Sympathie der Liebe z. B. wird aus einem früheren Leben, Leidenschaften aus einem unwiderstehlich naturgewaltigen Zwange, unerwartetes Schicksal aus Vorgeburt oder Karma erklärt. Das ist die einzig mögliche Art über das scheinbar Zusammenhanglose, Unsagbare, Elementarische aller ursprünglichen Erlebnisse ruhig werden zu können. Wir unterschieben damit dem Lebenselement Kausalreihen sogenannter Wirklichkeit. Die Weltgeschichte aber ist in noch viel höherem Maße als die Geschichte des einzelnen ein undurchdringliches Dickicht von lauter Überrumpelungen! Nichts läßt sich vorhersehen, da Wind und Wetter eines zufälligen Tages alle menschlichen Berechnungen zuschanden machen. Alle diese Überrumpelungen können freilich ihrerseits wieder in kausale Reihen strengerer Art eingestellt und umgedacht werden, aber sie bringen darum doch nicht eine besondere Kausalität wurzelhaft mit sich, die man geschichtliche Kausalität nennen dürfte. – Daher scheint mir nichts so anfechtbar als die gegenwärtig tausendfach wiederholte ganz trügerische Behauptung, daß Kriege und Katastrophen tatsächliche Kraft- und Machtrelationen oder am Ende gar Wertverhältnisse zum Ausdruck brächten. Dies kann man nicht einmal von einem Wettlauf zwischen Automobilen, von einem Pferderennen, einem Wettschwimmen, einem Examen sagen, wobei doch Chancen und Werte leidlich berechenbar sind, geschweige denn von Völkerkriegen, die für alle Zeit den Charakter des eisernen Würfelspiels oder der Schicksalslotterie beibehalten werden. Es hieße Selbstverständliches breittreten, wollte ich hier des längeren ausführen, daß das Regenwetter einer Entscheidungsstunde, die Laune oder das Temperament eines einzelnen, ein Lächeln, ein Erröten, ein Todesfall, eine Heirat, ja ein Calembourg und eine Eitelkeit über Völkerschicksale entschieden hat. Insbesondere können weltgeschichtliche Entscheide, die von hinterher sinnvoll und wertoffenbarend scheinen, von ganz banalen Zufällen der Nerven abhängen. Es ist sehr fraglich, ob die europäische Politik so verlaufen wäre, wie sie verlief, wenn Friedrich der Große zwischen 1759 und 1763 so schlecht verdaut hätte, wie er später verdaute, oder wenn Napoleon seine unbegrenzte Fähigkeit, nach freiem Willen schlafen zu können, die er seit 1815 einbüßte, schon 1797 verloren hätte.

In zahllosen Fällen geschieht es auch, daß belanglose Ereignisse die Phantasie zu beschäftigen beginnen und alsbald die gewaltigsten Tatsachen überwuchern. So konnten die überschwenglichsten Mythen und Legenden an die höchst einfache Geschichte eines jüdischen Demagogen anknüpfen; auch haben neuere Forschungen gezeigt, daß das Historische, welches den Sagen von König Arthur, dem Nibelungenlied, sowie der Ilias und Odyssee zugrunde liegt, höchst unbedeutend und gleichgültig gewesen ist.

Daß der Ruhm, die sogenannte Entwicklungslehre begründet zu haben, an den Namen Darwin und nicht an den Namen Wallace anknüpfte, der der Erfindung des Buchdrucks an den Namen Gutenberg und nicht an den Namen König, der der Entdeckung der induktiven Elektrizität an dem Namen Galvani und nicht an den Namen Volta, der der Erfindung des lenkbaren Luftschiffs an den Namen Zeppelin und nicht an den Namen Schwarz, das alles ist Zufall; Zufall, den man freilich von nachhinein psychologisch begründen kann, wie sich eben alles von nachhinein begründen läßt.

Will man jedoch die Zufälligkeit des Unmittelbar-Geschichtlichen, der gegenüber Kausalität nur als Forderung der Geschichtsstiftung besteht, nicht anerkennen, so bleibt nichts übrig, als Kausalität für Naturtatsache und somit alles Leben, auch unabhängig von der Zurechtbiegung im Schrifttum, für logischer Natur zu halten.

Dies ist denn auch der geheime Aberglaube aller Kriegs- und Staatstheoretiker. Ein deftiger metaphysischer Realismus, der zuletzt auf den Fatalismus der Orientalen, das große Kismet der Gleichgültigkeit, hinausläuft, das ist die notwendige Grundlage des Wissenschaftsaberglaubens an Geschichte. Damit verzichtet der Mensch, der Notwendigkeit sich beugend, auf persönliche Selbstverantwortlichkeit ( selfreliance) und auf freie Weltgestaltung, indem er, ohnehin in Gott ruhend, als Glied einer logischen Weltordnung diese Weltordnung eben nur nachzuzeichnen und anzuerkennen hätte.

IV. Über logificatio post festum.
§§ 27-29.

(Da ich diesen Kernbegriff schon viele Male früher dargelegt habe, so führe ich, um nicht immer wieder mich selber abschreiben zu müssen, zunächst einige Stellen an, an denen Inhalt und Umfang des Begriffs ausführlicher dargelegt worden ist: Wertaxiomatik 2. Aufl. S. 56, 57, 71, 81, 89-95, 97. Bruch in der Ethik Kant.s Wert- und willenstheoret. Prolegomena, 1908, III 50-71. Philosophie als Tat; Wissenschaft als Kraftökonomie S. 30-74; Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 117 f.)

§ 27. Der Begriff der nachträglichen Sinngebung.

Auf den Begriff der logificatio ( sacrificatio) post festum führten mich vor mehr als einem Jahrzehnt sprachliche Überlegungen, nämlich die Wahrnehmung, daß das griechische αἰτία, das lateinische causa und ebenso das deutsche ›Grund‹ ursprünglich nicht im Sinn logischer Bestimmung, sondern mit einem Hauch von Anklage im Sinn von ›entgegenstehend‹ oder schuldig gebraucht wurde, etwa entsprechend der Definition David Humes › causality is some forcible ‹, sodann die weitere Wahrnehmung, daß in einigen Sprachen, z. B. im Chinesischen, der Schuld- und der Ursachbegriff zusammenfallen, so daß diese Sprachen einen eigenen moralischen Schuldbegriff nicht kennen; nicht etwa darum, weil (wie Antichrist I 41 f. Fr. Nietzsche ausführt) ihnen der christliche Schuld gedanke fremd ist, sondern darum, weil der logische und der moralische Ursachbegriff zusammenfallen und alles Logische ursprünglich von moralischer Art ist.

In dieser Annahme nun, daß dem logischen Kausalbedürfnis ein weit ursprünglicherer moralischer Werthaltungsakt zugrunde liegen müsse und daß die Aufstellung von Ursachen (des Geschehens oder Daseins) also recht eigentlich ein Schuldsuchen (Auswerten) in sich berge, bestärkten mich vielerlei Beobachtungen psychologischer Art. Einiges davon sei im folgenden mitgeteilt. –

Wenn Unglücksfälle, Krankheiten, Beschwerden, Notstände eines Individuums die Umgebung zur Anteilnahme herausfordern, so macht sich in dieser alsbald das Bestreben geltend, den Grund des Notstandes aufzusuchen oder, wie man im Deutschen sagt, ›nachzusehen, woran denn die Schuld liege‹. Überall fordert der Notstand und die Hemmung innerhalb gewohnten Seelenabflusses, das heißt innerhalb des Gewohnheitsablaufes von Vorstellungen zur Aussonderung der Ursache, das heißt des störenden oder abzustellenden Faktors heraus. Ist nun aber diese Ursache entdeckt, so tritt auch eben damit eine Beruhigung oder Entlastung ein. (Ich bezeichne sie als ›Entwirkung‹, vgl. Schopenhauer-Wagner-Nietzsche III S. 107-115.) Kann die Umgebung beim Notstande eines ihrer Mitglieder erst sagen: Hättest Du nicht ...‹ oder ›Wärest Du nur ...‹ oder ›Hättest Du bedacht, daß ...‹, so ist die Schuld auf die leidende Person abgeschoben und die zur Tätigkeit oder Teilnahme herausgeforderten andern können – sich beruhigen.

Eine ähnliche Wahrnehmung finde ich bei allen Gerichtsvorgängen. Sobald die Ursache eines Tatsachenkomplexes, der ausgewertet werden muß, in die Person des Angeklagten abgeschoben werden kann, beruhigt sich ein Rechtsbedürfnis, welches dem Bedürfnis nach Kausalität so ähnlich ist wie ein Ei dem andern. Es handelt sich um ein offenbar noch primitives Rechtsbedürfnis, da man für ein Verbrechen geradesogut die Gesellschaft, die Voreltern, die Erziehung, die zufällige Verwicklung verantwortlich machen könnte, wie die Person des Täters. Wertaxiomatik IV, 13 Epochen der Schuld.

Schließlich aber hat sich in mir die Überzeugung verfestigt, daß Richter ihre Rechtsurteile gar nicht um des Angeklagten willen (etwa aus den vorgegebenen Gründen ethischen Erziehertums), sondern schlechtweg zu ihrer eigenen Beruhigung fällen. Nur dann, wenn die Schuld nicht in die Person abgeschoben werden kann (was übrigens bei den meisten Anklageakten gelingen muß), kommen Richter zu freisprechenden Urteilen. ...

Verfolgen wir diesen Gedanken, so kommen wir schließlich zu der scheinbar unerhört paradoxen, aber dennoch wohl möglichen Annahme, daß alles Moralische oder Soziale recht wohl eine Art Abwälzen von Verantwortlichkeit, ein Sichentbindenwollen von Selbstgesetzgebung der Vernunft, ja ein Sichentschämen der Person (und somit ein Vorwand der Nichtethik) sein könne. Überall gehört es zu den Schutzwehren der Schwäche, daß Handlungen, die sie aus sich selbst nicht verantworten kann, ›im Namen von‹ begangen werden. So legitimiert der Massenwahnsinn alle die hemmungslosen Instinkte jener, die im eigenen Namen ihre Triebe nicht verantworten können; ja er benötigt und organisiert diese Triebe, ein Umstand, der nicht wenig dazu beiträgt, daß Epochen allgemeiner Barbarei, wie die gegenwärtige, als die großen Epochen der Geschichte begrüßt werden.

Das Beruhigungs- und Abwälzungsbedürfnis als Quelle moralischer und logischer Urteile stellt das Störsame meist sehr kurzerhand vom Menschen ab, so wie in China die Hausgötzen aus Holz bei schlechtem Wetter oder bei unliebsamen Ereignissen kurzerhand Prügel bekommen. Möglicherweise sind auch alle wissenschaftlichen Kausalketten viel zu schnelle Abwälzungen und Beruhigungen kurzerhand. Ja vielleicht ist das Kausalbedürfnis selber eine mythologische Ichbezüglichkeit. Jedenfalls steckt in jeder historischen Kausalität etwas von dem alten Schuldgeben und Schuldsuchen, das heißt ein pathisch-anthropopathisches Element, welches Geschichte von aller strengen, das heißt gefühls- und willensfreien Wissenschaft für immer abtrennt. ...

§ 28. Schuld- und Verschuldungsursache.

Die naive Annahme, daß das Schädliche und überhaupt die Hemmung immer einer Schuld entsprechen müsse (die man dann späterhin Ursache nannte), macht nun freilich die Geschichte schreibende Person nicht nur geneigt, Ursachen, im Sinn von Schuld, ausschließlich bei fremden Personen zu suchen, das heißt bekanntermaßen ›historische Sündenböcke‹ aufzustellen (Potentaten, Staatsmänner, verantwortliche Persönlichkeiten), welche doch allesamt keineswegs freischaffende Götter, sondern eben auch nur ein Index von Geschichte sind (selbst dann, wenn sie glauben, Geschichte zu machen). Es geschieht vielmehr ebensooft, daß die Ursache (im Sinn von ›Schuld‹) in der eigenen Person des Feststellenden aufgesucht wird. Man könnte die historische Kausalität daher in zwei Modi zerlegen: in die Sündenbockkausalität und in die Versündigungskausalität.

Im Falle der Versündigungskausalität wird Mißerfolg, Leiden und unabwendbare Hemmung vom einzelnen als Ausfluß seiner Schuld logifiziert. Das ist ein Vorgang, der an die Wurzeln aller Ethik und Logik rührt. Bei allen leidensgewohnten oder passiv erduldenden Gruppen besteht eine Neigung, das Unerträgliche dadurch leichter zu machen, daß eine Art sittlicher Gerechtigkeit und Wille hineingedeutet wird. Auf Grund dieser Neigung haben noch so brutale Regierungen, wie wir z. B. gegenwärtig an der russischen Tyrannei in Polen, an der englischen in Indien sehen, es immer leicht, unglücklich ausgehende Maßnahmen, für die man sie zur Rechenschaft fordern könnte, auf das Versündigungsbewußtsein der Bedrückten abzuschieben. Habt ihr es nicht verdient? lautet die Frage. Denn man beobachtet, daß die Auffassung des Widrigen als einer Art Nemesis oder religiösen Strafe die einfachste Form der Beruhigung über die Hemmungen der Existenz ist. Das ist die einfachste Rechtfertigung unsres Leidens! Ein historisches Unglück, z. B. Verlust und Buße in Kriegszeiten als Strafgericht Gottes anzusehn und aus schlechter moralischer Beschaffenheit des Volkskörpers zu erklären, das entspricht dem spezifischen Kausalaberglauben der Geschichtswissenschaft.

So haben schon die römischen Geschichtsschreiber die Niederlage der Römer an der Allia am 18. Juli 390 als eine Strafe für den von den römischen Gesandten verübten Bruch des Völkerrechts angesehen und bei dieser moralischen Deutung sich beruhigt, wie denn überall der Mensch anfängt, moralisch zu werden, wenn etwas schief geht, so daß man alle Moral mit einem Wortspiel als ein Sichschlechtbefinden definieren könnte. Umgekehrt besteht im Fall des glücklichen, das heißt des erfolgreichen Ausgangs im Sieger die noch plumpere Neigung, sich selber eine Art von Geheimratsstellung zur sittlichen Weltordnung und eine von Gott gewollte Sendung zuzubilligen, womöglich gar mit jener scheinheiligen Demut der Selbstgerechtigkeit, die wir bei allen plötzlichen Machtrauschtaumeln der Geschichte, in Deutschland z. B 1870/71 und nach den ersten Siegen im August 1914 wahrnahmen. Die nationalen Historiker orakeln dann billig als ›rückwärts gewandte Propheten‹ (Treitschke) und geben unaufhörlich ihre vaticinia post eventum zum besten, offenbar immer ganz genau unterrichtet, was die göttliche Weltvernunft eigentlich gewollt hat, während man doch in Wahrheit diese historische Vernunft durchaus eigenbezüglich orientiert und alles, was im Weltall geschieht, recht naiv um das eigenste kleine Mückendasein ordnet oder um das Mückendasein seines Staates, seines Volkes, seiner Kultur.

Die selbe Sinngebung von nachhinein, die gegenüber den Machtwechselzufällen der Geschichte tröstlich geübt wird, dient auch dazu, um die Verschiedenheit der Glückszufälle, Lebensläufe und Schicksale begreiflich und annehmbar zu machen.

Wenn der eine an wohlbesetzter Tafel schwelgt, während der andere jeden Pfennig zehnmal umdrehen muß, ehe er ihn ausgibt, wenn der eine in einer Nacht so viel für Sekt und Zigaretten, Spiel oder Weiber verbraucht, wie der andere benötigt, um sich und seine Nächsten ein Jahr lang zu erhalten, so wagt der Nationalökonom in dieses Chaos der Geburts- und Machtzufälle die Ordnung hineinzusehen. Er greift etwa nach geläufigen Phrasen der Scheinnaturwissenschaft. Er redet von Auslese, Besserangepaßtsein oder orakelt von wirtschaftlicher Notwendigkeit. Auch hierbei handelt es sich um logificatio post festum. Denn alle diese empirischen Gesetze sind eine Erfindung von Optimisten.

Man könnte ja mit dem selben Recht die Verteilung der Wirtschaftsgüter als Funktion der aufsummierten Dummheit oder Gemeinheit erläutern. Man könnte als Gesetz hinstellen: je gewöhnlicher eine Seele ist, um so größere Aussichten besitzt sie, materielle Güter an sich zu ziehen. Am richtigsten aber trifft man den Kern, wenn man mit Schiller eingesteht:

›Ohne Wahl verteilt die Gaben, ohne Billigkeit das Glück.‹

Eine gesetzmäßige Verteilung und Ordnung von Schicksal, Los, Glück, Genuß ist keine Gegebenheit, sondern ist Aufgabe des Menschen. Wo ich von Sinnlosigkeit der Natur rede, ist nicht die der Bewußtseinswirklichkeit (natura naturata), sondern die ihres Elements (natura naturans) gemein. as der Verfasser mit »Inferno CXXVI« meint, muss unklar bleiben; das ›Inferno‹ hat nur 34 Gesänge, und die Deutung C (für Canto, Gesang) XXVI scheitert daran, dass an der betreffenden Stelle vom Einsturz einer Brücke nichts zu finden ist. – Anm.d.Hrsg.

Endlich gehört zur logificatio post festum auch dies, daß man historische Notausgänge oder Zufälle von nachhinein als Wesensgesetze zu betrachten pflegt. Das ist insbesondere die fromme Lüge sogenannter Völkerpsychologie. Jene Wesensseiten, die sich von nachhinein aus den historischen Schicksalen eines Volks abstrahieren lassen, werden durch einen wunderlichen Paralogismus zuletzt als die ›Ursachen‹ des historischen Schicksals bezeichnet. Daß z. B. das römische Imperium schließlich zu einer zentralisierenden Staats- und Volkswirtschaft führte, war unvermeidlich. Dieser Zentralismus ging aus Not der Umstände hervor. Die selbe Not verfügte, daß Kriegs- und Waffendienst zum Hauptinteresse des Volkes gemacht werden mußten. Von nachhinein aber formuliert der Geschichtsschreiber folgendes Wesensgesetz: ›Es steht fest, daß die Römer weniger zu Reformen in Künsten und Wissenschaften als zu praktischen Leistungen veranlagt waren.‹ Es läßt sich nicht einsehen, warum denn die Römer weniger geistig ›veranlagt‹ gewesen sein sollen als die Griechen. Vielmehr dürfte bei den einen der zentralisierende Imperialismus, bei den andern der Zerfall in viele kleine, einander den Rang ablaufende Stadtstaaten die Bahn der Geschichte bestimmt haben. – Die Zerstreuung der Juden unter alle Völker der Erde machte die Fortbildung einer schollenhaften Kultur, zu der doch immerhin starke Ansätze da waren, völlig unmöglich und undenkbar. Von nachhinein aber glaubt der Historiker etwas Wesentliches zu sagen, wenn er konstatiert: ›Es ist ein bekanntes Gesetz, daß der Jude sehr geeignet ist zur Fortführung und Aufnahme der Leistungen andrer, daß er dagegen verkümmert, wo er auf sich selber angewiesen ist.‹ – Von dieser Art sind alle ›Wesensgesetze‹. Die Charaktere, die erst von nachhinein aus Geschichte herausgelöst werden, werden zuletzt als die Ursachen des historischen Geschehens angesprochen. Man könnte auf die Vermutung kommen, daß es sogar mit der Aufstellung historischer Stilformen und Stilgesetze ähnlich sich verhalte. Wenn man nämlich die Überlieferungen jedes Zeitalters unmittelbar vornimmt, so findet man in ihnen immer wieder die selben Urteile und Klagen über die Gegenwart. Immer wird die Vergangenheit als eine Zeit gefestigter und klarer Lebensform der verwirrten und verworrenen Gegenwart gegenübergestellt. Das 19. Jahrhundert klagte genau wie das 18. und 17. über die Charakterlosigkeit und Stillosigkeit aller Lebens- und Kunstformen. Von nachhinein aber entdeckt dann das folgende Jahrhundert an der Vergangenheit einen sehr bestimmten und einseitig charakterisierbaren Lebensstil, wahrscheinlich darum, weil unter Übersehen anderer Richtungen und Strömungen eine besonders sich aufdrängende Richtung von nachhinein aufgegriffen und unterstrichen wird und je weiter die Vergangenheit von uns abrückt und historisch wird, um so leichter haben wir es, ihr den ganz bestimmten und einheitlichen Charakter anzuhängen. Auch das ist Sinngebung von nachhinein.

Der äußerste Notausgang der logificatio post festum ist allemal die folgende Geschichtslogik: Diese Revolution war historisch notwendig, um der Menschheit zu zeigen, daß sie nicht notwendig ist. Der Weltkrieg mußte sein, um die Menschheit zum Kriege gegen den Krieg zusammenzuschmieden. Es war geschichtlich nötig, daß ich mir ein Bein brach, um künftig mich besser gegen Beinbruch in acht zu nehmen.

§ 29. Über vaticinia post eventum.

Alle sinnvollen geschichtlichen Ereignisse verlaufen ausnahmslos nach dem folgenden Schema: Individuum A und Individuum B stehen beide im Kugelregen. Wen wird die Kugel treffen? Wird sie überhaupt einen von beiden treffen? A sagt zu B: ›Bitte hebe meinen Tornister auf‹ und B bückt sich nach dem Tornister. In diesem Augenblick kommt die Kugel und zerschmettert A, während B gerettet ist, weil er für A sich gebückt hat. Hätte dagegen A sich selber gebückt, dann wäre B zerschmettert und A gerettet worden. Das will sagen: Für das Sinnsystem B ist dieser Vorgang durchaus sinnreich; für das Sinnsystem A dagegen ein sogenannter ›blinder Zufall‹; ob wir ihn an sich selbst zufällig oder notwendig nennen wollen, steht ganz in unserm Belieben, da die beiden Worte nur eine bestimmte Relation und Einstellung zu dem historischen Geschehnis, nicht aber Eigenschaften am Geschehen selber bezeichnen.

Die historische Gerechtigkeit, der historische Sinn erinnern somit an jene wunderliche Logik, die ein halbverrückter General namens Derbois während der französischen Revolution bewies. Dieser Narr ließ 1793 die Stadt Lyon einäschern, aus keinem andern Grunde als darum, weil er zwanzig Jahre zuvor bei seinem Debut als Schauspieler auf einem kleinen Vorstadttheater dieser Stadt ansgepfiffen worden war. Oder man kann auch an die Logik jenes Dionys I von Syrakus denken, welcher im Jahre 406 v. Chr. die Stadt Rhegion mit unmenschlicher Härte aufbrennen und alle ihre Einwohner gräßlich zu Tode martern ließ mit der einfachen Begründung, daß einst eine Dame aus jener Stadt seine Liebesbewerbungen zurückgewiesen habe. Ganz dieselbe historische Logik gilt noch heute. Als z. B. im Juni 1916 in Deutschland die Kunde sich verbreitete, daß der englische Großadmiral Kitchener bei einem Schiffsunglück ums Leben kam, wurde in den Straßen der deutschen Städte geflaggt und von den Kanzeln gepredigt, Gott habe an England ein Strafgericht vollziehen und durch den Unglücksfall seinen Willen beweisen wollen. Ganz die selbe Logik wiederholte man im April 1917, als die Kunde verbreitet wurde, daß der verhaßte englische Staatsmann Lord Grey erblindet sei.

Diese unerhört primitive Selbst- und Eigenbezüglichkeit der sogenannten Wirklichkeitswissenschaft Geschichte möchte ich mit dem folgenden gelegentlichen vaticinium post eventum in Dantes Inferno CXXVI, 7 f. vergleichen. Dante weissagt im Jahre 1304 den Florentinern den Einsturz einer Brücke über den Arno und den Brand eines Stadtteils von Florenz als Strafe für die schlechte Behandlung, welche sie ihm zugefügt haben. Diese Weissagung aber schrieb er nieder, nachdem er längst wußte, daß die betreffende Brücke schon im Jahre 1300 eingestürzt und der betreffende Stadtteil abgebrannt war. Er bezieht also nachträglich die Ereignisse der Stadtgeschichte auf sein Schicksal, so wie jedes Wesen die gesamte Weltgeschichte nebst Sonne, Mond und Sternen mit seinem eigenen Leben verknüpfen und in Zusammenhang bringen muß. Dabei können denn freilich Not, Tod, Pein und Untergang unmöglich sinnvoll sein für diejenigen, die daran unterliegend zugrunde gingen. Aber sie sind ausnahmslos sinnvoll für diejenigen, die als Überlebende diese Ereignisse von nachhinein auf ihr Überlebenbleiben beziehen und beziehen müssen.

Nun aber wird Geschichte bekanntlich nur von Überlebenden geschrieben. Die Toten sind stumm. Und für den, der zuletzt übrig bleibt, ist eben alles, was vor ihm dagewesen ist, immer sinnvoll gewesen, insofern er es auf seine Existenzform bezieht und beziehen muß, d. h. sich selbst und sein Sinnsystem eben nur aus der gesamten Vorgeschichte seiner Art begreifen kann. Immer schreiben Sieger die Geschichte von Besiegten, Lebengebliebene die von Toten.

Somit ist Geschichte die egozentrische Selbstbezüglichkeit des Geistes, der aus Geschichte herausgeboren. zuletzt Geschichte als Vorstufen seiner eigenen Gegenwart begreift und die notwendige Lebenskunst übt (die recht eigentlich hervorragendste Fähigkeit aller Geschichteschreiber und Geschichtemacher), unermeßliche Summen von Qualen anderer, unaufhörliche Untergänge anderer heroisch ertragen zu können. Wenn nur er und seine Ideale übrig bleiben, so vermeint er die Vorwelt als Stufe zu ihm hin geheiligt und begründet.

Die Italiener haben das ausgezeichnete Sprichwort: Cosa fatta capo hà, ›Geschehen Ding hat Kopf‹; das will besagen, man muß Menschen vor vollendete Tatsachen stellen; sie werden dann nicht rasten und ruhn, bis sie von nachhinein alles und jedes sinnvoll befanden, weil das Sinngeben von nachhinein eben die Art ist, wie sie sich mit allem und jedem abfinden.


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