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IX. Die geschichtliche Persönlichkeit
§§ 52-55.

Les places que la postérité donne sont sujettes, comme les autres, aux caprices de la fortune.

Montesquieu, Condidérations ch. 1 p. 5.

§ 52. Über die Biographie.

Jeder Zweifel an Wirklichkeit des historisch gewordenen Lebens scheint eine sichere Grenze zu haben an der Tag um Tag, Zug um Zug nachprüfbaren Wirklichkeit des einzelnen Menschenlebens. Angesichts der biographischen Geschichteschreibung scheint anerkannt werden zu müssen, daß eine unmittelbare Wirklichkeit gefühlten, erlittenen, erbluteten Lebens in ihr niedergelegt und der Nachwelt überliefert wird. Die Biographik scheint nicht nur die lauterste, sondern auch die aufschlußreichste Quelle von Geschichte zu sein. Andrerseits aber ist auch gewiß, daß Biographie oder Autobiographie, mögen sie noch so redlich, sachlich, selbstlos, ohne Eitelkeit und Absicht niedergeschrieben sein, immer doch das vom Denken reproduzierte, nicht aber unmittelbar gelebtes Leben wiedergeben; weswegen jede unmittelbare Ausdrucks- und Gebärdenkunde, insbesondere eine allgemeine Formenlehre des Lebens, mehr von der Natur eines Wesens verrät, als die Erzählung seiner Zustände und Abenteuer. Sind doch sogar Tagebuchblätter und Briefe, also das intimste Material der Geschichteschreibung ein schon sachlich gewordenes, vom Persönlichen abgerücktes Leben.

§ 53. Die Unwirklichkeit der historischen Person.

So wenig die von Petrarca besungene Laura jene wirkliche Laura ist, die er angeblich 1308 in Avignon sah, so wenig die Beatrice Dantes, die in der Geschichte fortlebt, jenes kleine Mädchen Bice Portinari ist, welche der Dichter einmal bei einem Frühlingsfeste gesehen haben soll, bevor sie in jungen Jahren starb, so wenig ist Würde und Wert der Geschichte an konkrete Wirklichkeit gebunden oder ihr Geist an empirische Tatbestände. Der Wert historischer Wirklichkeit liegt einzig darin, daß sie großen Dichtern Gelegenheit bietet, zeitliche Wirklichkeit in zeitlose Wahrheit umzulügen und die unermeßliche Verworrenheit des Lebens in wenige dauernde Typen aufzusammeln; sollten sie selbst mit Geschichte umspringen wie Shakespeare und Lope de Vega.

Die bestgekannten Gestalten der Geschichte sind nicht jene, über die wir noch zu viel wissen, als daß sie schon historisch festgestellt sein könnten, sondern jene anderen, deren reale Menschlichkeit in Dämmerfernen der Legende verschwimmt und eigentlich nichts ist als Illusionsfassade, an welcher Sehnsucht und Wunsch, Bedürfnis und Wille strebender Menschengruppen aufrankt, gleich Efeu an Ruinen. Die Gestalten von Lykurg, Solon, Pythagoras, Sokrates, Buddha, Laotse, Moses, Jesus strahlen klar durch die Jahrtausende, weil sie keine geschriebenen Worte hinterlassen haben und weil somit nicht der widerspruchsvolle, wandelbare empirische Mensch dem historischen Menschen im Lichte steht.

§ 54. Die historische Aufahmung.

Psychologie der Ahmung. Philosophie als Tat S. 127 ff.

Ich bezeichne den Vorgang, durch den empirische Menschen zu historischen Menschen werden, als Aufahmung und vergleiche ihn mit gewissen ästhetischen Vorgängen einerseits, erotischen und religiösen Vorgängen andrerseits. Vor allem hat der Vorgang seine Gutsprechung an der Auferhöhung empirischer Personen zur Göttlichkeit (worüber im Altertum Euhemeros merkwürdige Betrachtungen anstellte). Daß z. B. die Präkonisation der Heiligen, die Infallibilität des Papstes, die Majestät des Monarchen auch dann zu gelten habe, wenn ihr zufälliger Träger sich als fehlbar und unwürdig erweist, das ist nur unter der Voraussetzung verständlich, daß Persönlichkeiten der Geschichte eben nicht mit den empirisch-leibhaften Menschen zusammenfallen, vielmehr diese nur als Rohmodell zur Gestaltung der historischen Figuren benötigt werden. Wohlgemerkt aber findet die Auferhöhung der Person in der Geschichte sowohl nach der positiven, wie nach der negativen Seite hin statt. Der Mensch ist geneigt, immer nur Endpunkte, Gipfel von Taten, Leistungen, Lebensläufen in Erinnerung zu behalten; er will sogar vor sich selber am liebsten Engel oder Teufel sein. Alles Mittlere, Mittelmäßige, woraus in bunter Mischung sein eigentliches Dasein gewoben und worauf es angewiesen ist, sinkt schnell wieder in den Abgrund der Vergessenheit. Da nun nicht Erfolg an Wert, sondern umgekehrt Wert an Erfolg gebunden ist, so pflegt die bloße Tatsache des Erfolges alsbald Akte der positiven oder negativen Wertbildung nach sich zu ziehen. Jeder Erfolg macht bei den einen Mißgunst und Neid, bei den andern Beifall und Nachfolge, immer aber Werthaltungsakte rege. Der historisch gewordene Mensch erhält somit Wertakzente, die zwar den Zügen des empirischen Menschen nachgehn, aber nicht diesem selber zukommen.

Man kann diesen Vorgang der oft komischen Veränderung vergleichen, die ein bis dahin unbeachteter Mensch für seine nächste Umgebung erfährt, wenn er für diese zur ›Berühmtheit‹ geworden ist. Ein liebenswürdiges Lustspiel (von Paul Lindau) zeigt einen plötzlich zur historischen Persönlichkeit gewordenen biederen Familienvater, dessen entschiedene Schrullen für seine nächste Umgebung unvermittelt zu Kainszeichen des Genius werden; er kann fortan tun, was er will, man macht ihm alles nach und fällt ihm um den Hals mit dem Ausruf ›O du bedeutender Mann!‹ – Darum pflegen Männer von wirklichem Wert und echtem Verdienst, wenn der Zufall, meistens erst im späten Alter, wirklich einmal echtem Verdienst und Wert zu Anerkennung und Geltung verhalf, unfehlbar einem tiefen Ekel vor den Menschen und ihrer Geschichte zu verfallen: so wie ihn Goethe ausdrückt:

›Ruhm kommt zu der Frist
Wo man nicht mehr trachtet,
Weil man die verachtet,
Deren Stimm’ er ist.‹

Oder sie pflegen in jener Stimmung zu leben, aus welcher die Gattin eines unsrer erfolgreichen Generale die Lobsprüche für ihren unerwartet zum Ruhm gelangten Gatten mit dem tiefen Wort zurückwies: ›Mein Mann war nur Gebet des deutschen Volkes.‹

§ 55. Distanz in Raum und Zeit.

Wie man große Münster, um von ihnen rechte Wirkung zu empfangen, nicht aus der Nähe betrachten darf, so benötigen die Gestalten der Geschichte, um recht zu wirken, der zeitlichen und räumlichen Entfernung. Denn jede Charakteristik fließt aus bestimmter Beziehung; was Goethe mit dem Worte meint: ›Niemand ist für seinen Kammerdiener ein Held.‹ So geschieht es, daß ein und derselbe Mensch völlig andere Wesenszüge trägt als Vorgesetzter oder Untergebener, als Berufsfigur oder als Privatmann. Wer einen Mann als prächtigen Kriegskameraden schätzt, ahnt nicht, wie unerträglich derselbe Mann als Liebhaber, oder wer ihn als Liebhaber liebt, weiß nicht, wie ganz anders er als Ehemann oder als Vater einzuschätzen wäre. Kurzum, man müßte auch die persönlichen Relationen kennen, aus denen heraus die geschichtliche Gestalt ihre Züge empfängt, um zu wissen, wie weit man dem Bild in der Geschichte trauen darf. Aber erst nach einigen Jahrhunderten steht die Gestalt beziehungslos da. Denn zuletzt ist das empirische Leben auch der erfolgreichsten Person so vollkommen verblaßt, daß sie nur noch als mythisches Symbol dauert, so wie Abraham, Dschemschid, Theseus, Romulus zu Stadt- und Volksgeschichte geworden sind. Diese legendäre Geschichte wird in bestimmten Fällen vollends ideologisch. Die Schicksale einer Gemeinde, die Eigenschaften einer Gruppe gerinnen in naiver Freude am eigenen Leben, stolz oder auch selbstironisch, zu halb der Dichterfantasie, halb der Tageswirklichkeit entnommenen Gestalten. Jeder Deutsche fühlt in Faust und Siegfried, jeder Grieche in Achill und Odysseus, jeder Spanier in Cid und Don Quichote sein eigenes Wesen eingeformt. Und zuletzt sind sogar die Stadt- und Landschaftstypen, durch welche Nationen, Gruppen, Städte, Dörfer sich selbst verklären oder ihrer Enge spotten, mindestens zur Hälfte als historische Wirklichkeiten anzusehen. Der deutsche Michel, Marianne, John Bull, Uncle Sam, Tünnes, Hännesche u. dgl.

Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob die Gestalten welche man Geschichte machen läßt‹ nicht eigentlich erst von hinterdrein Produkte der Geschichte sind.

Man denke z. B. an die römische Geschichte zwischen 753 und 510. Alle ihre Figuren sind (wie die Forschung sichergestellt hat) nur gleichsam Symbole für Einrichtungen, welche man eben vorfand und erklären wollte. Romulus soll die Existenz Roms erklären, Numa Pompilius das Sakralwesen, Tullus Hostilius die Tatsache, daß Rom der Vorort von Latium wurde, Ancus Martius, daß es die beiden Stände der Patrizier und Plebejer gab, Servius Tullius die Existenz der Zenturienverfassung. Die Geschichte läßt aber umgekehrt diese Einrichtungen durch die Personen begründet werden. Es dürfte somit die Frage zu lösen sein, ob historische Personen am Ende oder am Anfang vermeintlicher geschichtlicher Entwicklungen stehn, d. h. ob nicht etwa Gestalten, welche man Geschichte wirken läßt, in vielen oder gar in allen Fällen, (mit jener ökonomischen Konstruktion, die ich nur den generellen Formeln der Naturwissenschaft zu vergleichen wüßte), alles Geschehen und Werden, das am Menschen vorgeht, knapp und scharf zusammenfassen? Denn sobald nur ein sogenannt geschichtliches Ereignis sich festgestellt hat, tritt auch schon die Gestalt aus dem unpersönlichen Geschehen hervor und in der Fantasie der Masse pflegt alles, was im Fluß der Dinge sich für sie veränderte, an die Gestalt einiger weniger Persönlichkeiten anzuknüpfen, die, sei es durch Zufall, sei es durch Geburt, Kraft oder Macht, im Mittelpunkte der Ereignisse standen. So wird Dschengiskhan der Begründer seßhafter Geschichte, Peter der Schöpfer Rußlands, Gregor der Stifter der katholischen Kirchenmacht, Napoleon Gestalter Europas, Bismarck Baumeister Deutschlands. Wenn man sie hätte fragen können, sie hätten selbst nicht gewußt, wie und warum sie das geworden sind.


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