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Das Dörfchen Songnim lag an einer entlegenen und einsamen Bucht, an deren Eingang dem Ufer viele Austernfelsen vorgelagert waren. Am Strand und tief hinter der Bucht verborgen standen etwa zwanzig Bauernhäuser mit Strohdächern. Tagsüber sah man aber fast keinen Menschen im Dorf, weil alle Bauern und Bäuerinnen auf den Feldern hinter den Hügeln arbeiteten. Man erntete jetzt nacheinander Gerste, Weizen und Hirse. So ging ich bald zu diesem, bald zu jenem Feld, um zuzusehen, wie man das Korn schnitt, garbenweise band und mit Ochsengespannen nach Hause fuhr.
Abends kehrte ich in meine Stube zurück, in die Gaststube beim Hauptbauern. Das war ein einfaches, lehmwandiges Zimmer, in dem nur ein kleines Schreibtischchen aus rohem Holz in einer Ecke stand. Im Dorf war für eine kurze Weile reges Leben. Die Kühe muhten überall, und die am Strand spielenden Kinder wurden von den Müttern zum Essen nach Hause gerufen. Danach wurde es still und das ganze Dorf schien zu schlafen. Nur der Hauptbauer blieb noch eine Weile in meiner Stube und plauderte mit mir. Er nötigte mich dann, mich an die wärmste Stelle des Zimmers zu legen und dort auszuruhen. Er selber setzte sich dicht vor das 120 Licht und flocht sein Strohseil. Er sagte, daß er es zur Erneuerung des Strohdaches im Herbst brauche. Als Lampe diente ein dickschaliger Becher mit klarem Pflanzenöl und einem Docht, der nur eine sehr schwache Flamme hergab. Das monotone Strohgeräusch und die Wärme am Boden schläferten mich oft gegen meinen Willen ein. Wenn ich aufwachte, war meistens das Licht gelöscht und der Toldari-Onkel – wie ich ihn nannte – war nicht mehr da. Es war totenstill im Haus und im ganzen Dorf; nur die nächtliche Flut rauschte und brandete in der Bucht.
An Tagen, wo keine wichtige Erntearbeit verrichtet wurde, sparte ich mir das Zusehen und ging angeln. Ich tat es gerne, weil das eine schöne Abwechslung von den einförmigen Feldarbeiten war. Mit Korb und Angelrute ging ich den Strand entlang bis zum Eingang der Bucht zu den Austernfelsen, die auch bei Ebbe noch vom Meereswasser umspült waren. Auf einem solchen Felsen sitzend, konnte ich ungestört angeln, bis die Flut wieder heranrollte. Der Hauptbauer sagte mir jedesmal genau, wann ich vom Felsen herunterzusteigen und zum Strand zu gehen hatte, um nicht von den ansteigenden Wassern eingeholt zu werden.
Da saß ich allein und angelte den ganzen Tag. Am meisten bissen die sogenannten »Leinfische« an; die waren nur fingerdick und schmeckten nicht 121 besonders gut Selten konnte ich einen besseren Fisch fangen, und von den Brassen, die die Bauern am meisten schätzten, bekam ich den ganzen Herbst keinen zu sehen. Dennoch ging ich jeden freien Tag dorthin und saß geduldig auf meinem Felsen; nicht nur wegen des Fischens, sondern auch wegen der weiten Sicht, die mir so wohl tat. Hier war ich außerhalb der engen Bucht und vor mir dehnte sich das Meer ins Unendliche. Wasser und Himmel schienen am Horizont ineinander überzugehen. Im Westen stand nur die felsige Yenpinginsel in der klaren Luft des Herbstes und im Norden lief ein schmales Sandufer um die niedere Hügelkette in die Ferne. Weit und breit war kein Schiff zu sehen; nur eine kühle Brise wehte ab und zu um die nassen Austernfelsen.
Die Bauern angelten nie, obwohl in jedem Haus gute Geräte dazu vorhanden waren. Sie fingen ihre Fische nur mit Netzen, die, weit außerhalb der Bucht, in der Nähe der sogenannten Hauptfurche ausgelegt wurden. Die Beute waren aber nicht die kleinen Leinfische, sondern ganz andere, größere, wie Flundern, Seezungen, Brassen oder die langen weißen Säbelfische, die auch sehr geschätzt wurden. Ich hatte noch nie gesehen, wie man Fische mit einem Netz fing und wie ein Netz gespannt wurde. So schloß ich mich gerne an, als man mich einmal aufforderte, mit zum Netzlegen zu gehen. Die Bauern hatten die Nachtebbe gewählt, so daß 122 es mir zuerst nicht ganz geheuer zumute war. Ich erfuhr aber, daß sich gerade in der Nacht die besten Fische im Netz verfangen sollten.
Es war dunkel auf dem Watt, weil kein Mond schien, und das seichte Wasser, durch das wir oft waten mußten, war schneidend kalt. Langsam erhellte sich der Meeresboden durch das Licht der Sterne, die zahllos vom klaren Himmel herunterfunkelten. Ich konnte allmählich Tangblätter und herumkriechende Krabben von der noch dunkleren Umgebung unterscheiden. Wir überquerten viele enge Furchen, in denen das Wasser um diese Zeit noch in Richtung zur offenen See abfloß, und erreichten nach langem Waten endlich die Hauptfurche, in der eine gewaltige Wassermenge sich dahinwälzte wie ein großer reißender Strom. Das Netz war dicht daneben wie ein Wandschirm hufeisenförmig gespannt. Schon bald schnellte hier und dort ein großer armlanger Fisch empor, um über das Netz zu springen, aber vergebens. Je seichter die Flut wurde, um so verzweifelter versuchten die Hartbedrängten ihrem Schicksal zu entkommen. Die Fische rasten wild durcheinander, schnellten sich immer wieder empor, bis sie schließlich alle flach auf dem wasserlosen Boden lagen und unter dem nächtlichen Himmel wie Silber glänzten.
Schnell sammelten wir sie in unsere Körbe und traten den Heimweg an. Jetzt herrschte tiefe Stille auf dem Watt, weil sich das Rauschen der 123 Brandung weit entfernt hatte. Nur leise hörten wir die Stimmen anderer Menschen, die wohl auch mit ihrem Fang zurückkehrten; sehen konnten wir sie nirgends. Man konnte glauben, daß es die Geister der Ertrunkenen waren, die umgingen und miteinander flüsterten, weil die Nacht so schön und so still war.
Das gute Herbstwetter hielt an. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend drosch man das Korn. Linsen, Bohnen, Buchweizen, Rüben wurden geerntet und ganz zum Schluß der Reis. Das Korn wurde mit Hilfe des künstlichen Windes staubfrei gemacht und zu je zwanzig Scheffel in Strohsäcke gefüllt. So führte mich der Hauptbauer bald zu dieser und bald zu jener Bauernfamilie und erklärte mir genau den Vorgang der Arbeit und den Unterschied in der Güte der verschiedenen Kornsorten.
Der Toldari-Onkel war sehr bemüht, daß ich mich in seinem Dorf nicht einsam fühlte. Für die abendlichen Stunden hatte er mir mehrere handgeschriebene Bücher in die Stube gelegt, damit ich etwas zu lesen hätte, wenn ich nichts anderes zu tun wüßte. Es waren ein Bändchen alte Gedichte, eine Anekdotensammlung und zwei dicke Romane. Bei all diesen Büchern waren die dunkelbraunen, geölten Papiere so stark abgenützt, daß ich die kleinen Schriftzeichen bei dem schwachen Licht kaum mehr entziffern konnte. 124
»Es ist sehr still für dich, hier zu leben«, sagte er einmal, als er mich wieder von einer Bauernfamilie abholte, »weil du bisher in der Stadt gelebt hast. Denke aber immer an die vielen Gelehrten der alten Zeit, die sich ins Gebirge zurückzogen, wenn die Welt schlecht wurde. Tagsüber standen sie hinter dem Pflug, um nur nachts wieder zu ihrem Pinsel zu greifen. So sollst auch du hier in der Stille leben, bis die Barbaren weggegangen sind und die alte gute Zeit zurückkehrt.«
Alle Bauern und Bäuerinnen glaubten, daß bald die alte gute Zeit zurückkehren würde, sobald ein neues Königsgeschlecht in unserem Land erschiene. Ich konnte mir das nicht denken. Doch sagte ich nichts dagegen, weil auch ich mir keine bessere Zukunft für unser Volk vorstellen konnte; auch wäre es mir unhöflich erschienen, Erwachsenen zu widersprechen, die ich Onkel und Tante nannte. Es galt als gute alte Sitte, daß die Familie des Gutsbesitzers und die Bauernfamilien sich als verwandt betrachteten und auch als solche anredeten. Ich tat es gerne und fügte jeweils den sogenannten Hofnamen dazu, um die vielen Onkels und Tanten unterscheiden zu können. So hieß einer UdgoI-Onkel, seine Frau Udgol-Tante und ein anderer Tuissom-Onkel und seine Frau Tuissom-Tante. Mich nannten sie allgemein »Neffe aus der Stadt« und behandelten mich auch wie einen wirklichen Neffen. Der Hauptbauer erklärte mir, daß 125 dieser Brauch gut sei, weil die Bauern sich dadurch der Gutsbesitzerfamilie wirklich zugehörig fühlten. Alle miteinander bildeten eine große Sippschaft, von der die Gutsbesitzerfamilie nur das Oberhaupt war und deshalb auch reicher sein durfte als die anderen.
Der Herbst hatte Abschied genommen und es fing an zu schneien. Große weiße Flocken wirbelten Tag und Nacht über die Bucht, die Felder und Wege. Die Erntearbeit war vorüber und das Lagerhaus wurde nach dem Dankgebet mit einem großen Schloß zugesperrt. Die Dächer waren mit neuem Stroh bedeckt und die Fenster mit neuem Seidenpapier bespannt. Nun saßen die Leute in den warmen Zimmern und verrichteten nur noch Handarbeiten. Man drehte Seile und flocht Matten, knüpfte Netze und machte Sandalen. Die Frauen spannen und webten, und die Kinder wurden zum Dorflehrer geschickt, der auch ein Bauer war und nur im Winter die Kinder um sich sammelte, um ihnen das Schreiben und Lesen beizubringen.
Abends kamen hie und da die Bauern der Nachbarschaft mit ihren Handarbeiten zusammen, um dabei plaudern zu können oder gemeinsam einem Roman zuzuhören, den man abwechselnd vorlas. Es waren meistens Romane alten Stils, in denen der Held unschuldig verfolgt wurde. Verleumdet und verstoßen mußte er seine Heimat verlassen und wanderte von Ort zu Ort, Hunger und Kälte 126 erleidend, bis er endlich zu einem weisen Einsiedler fand und von ihm aufgenommen wurde. Später wurde der Held selbst ein Weiser, so daß ihn der König berief und zu einem mächtigen Mann machte. Er heiratete eine kluge und schöne Frau und kehrte wieder in seine Heimat zurück, wo er, von allen anderen bewundert, ein glückliches Leben führte. Alle Romane fingen so an und gingen so aus. Dennoch wurden sie immer wieder gelesen, und jedesmal erregten sich die geduldigen Zuhörer von neuem über das widrige Schicksal, das über den braven Unschuldigen hereinbrach. Man trug den Roman auch sehr feierlich und in halb singender Weise vor, einmal mit hoher, einmal mit tiefer Stimme, bald heiter und dann wieder sehr wehmütig. Je tiefer der Schnee lag, je stiller die Nacht wurde, desto gefühlvoller wurde der Vortrag, so daß man schon von weitem erraten konnte, wie schlecht es dem Helden der Geschichte erging. Ich blieb oft vor einem solchen Haus stehen und lauschte, nicht um zu erfahren, wie die Geschichte weiterging, sondern nur um diese Stimme zuhören, weil sie mich an meine sorglose Kindheit erinnerte, in der in unserem Land der Friede geherrscht hatte. 127