Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Examen

Meine Schulfreunde freuten sich sehr, als ich wieder zum Studium zurückgekehrt war, und berieten sich, wie ich die versäumte Zeit einholen und am schnellsten mit dem Hochschulstudium beginnen könnte. Wenn ich noch unsere heimatliche Schule absolvierte und danach einige Jahre eine bessere Mittelschule in Seoul besuchte, um mich auf das Examen für das Hochschulstudium vorzubereiten, würden noch drei bis vier Jahre vergehen. Alle rieten mir, diese Zeit durch Selbststudium abzukürzen und mit Hilfe von Unterrichtsbriefen jetzt schon für das Examen zu arbeiten. Der Plan gefiel mir. Ich ließ mir die Unterrichtsbriefe für alle Mittelschulfächer von einem berühmten Institut für Fernunterricht kommen und fing an zu studieren.

In der ersten Zeit ging es mir gut. Die Briefe waren leichtverständlich abgefaßt, so daß ich in allen Fächern, sogar in Mathematik, leidlich gut vorwärts kommen konnte. Nur die englische Sprache, die einige Monate nach dem Unterrichtsbeginn anfing, machte mir Schwierigkeiten. Weder die umständliche Bezeichnung der englischen Laute durch die japanischen Silbenzeichen, noch die Erklärungen der Grammatik konnte ich klar verstehen, auch wenn ich sie unzählige Male las. Ich hatte bisher keine 141 Kenntnis dieser Sprache, weil es in unserer Heimatschule keinen englischen Unterricht gegeben hatte. Es war wie bei vielen höheren Fächern kein Lehrer dafür dagewesen. Die wenigen einheimischen Lehrkräfte für Englisch wurden alle von den besseren Schulen in der Königsstadt beansprucht. So konnten mir auch meine Schulfreunde nicht helfen, weil sie selber keine Ahnung davon hatten. Das entmutigte mich sehr. Gerade die englische Sprache war doch das wichtigste Fach, weil man ohne ihre Kenntnis nicht an die eigentliche europäische Kultur herankommen konnte.

Yongma half mir bei der Chemie und Physik, Kisop bei der Mathematik und ein anderer Schulfreund namens Kaksong half mir bei der europäischen Geschichte, die mir wegen der vielen fremden Namen Schwierigkeiten machte. Sie kamen jeden Abend und lernten mit mir, so lange ich nur arbeiten konnte. Sie hatten alle unsere heimatliche Schule absolviert, konnten aber aus verschiedenen Gründen nicht zum Studium nach Seoul fahren. Dafür wollten sie mit allen Mitteln erreichen, daß es wenigstens einer von uns zum Hochschulstudium brächte. So verwandelte sich mein Zimmer jeden Abend in ein Schulzimmer, in dem aber im Gegensatz zu anderen Schulzimmern nur ein einziger Schüler lernte und drei oder mehr Lehrer unterrichteten. 142

Der einzige Freund, der mir nicht beim Studium half, war Mansu. Er hatte sich nicht verändert. Immer lief er noch so herum von einem Freund zum andern, ohne etwas zu lernen oder an einen Beruf zu denken, obwohl er bereits siebzehn Jahre alt war. Doch entwickelte er sich zu einem Musiker des alten Stils.

Er kam auch jeden Abend zu mir, aber erst spät, wenn alle anderen fortgegangen waren und ich allein bei den Büchern saß. Er sah ein Weilchen zu, wie ich arbeitete, dann sagte er, daß ich in seine Stube kommen und mit ihm etwas musizieren solle. Er hatte nämlich ein Kayago, das lange Saiteninstrument, das bei allen Musikern und Sängerinnen beliebt war. Wenn ich sagte, daß ich noch länger arbeiten müsse oder daß ich müde sei und lieber schlafen wolle, meinte er, daß das viele Lesen mich nur ermüde. Er hatte immer Gegengründe zur Hand: daß das viele Lesen dem menschlichen Geist schade, daß ich als einziger Sohn meiner Mutter nicht geisteskrank werden dürfe. Wenn ihm das nichts half, sagte er, daß ich sein einziger Freund sei und ihm deshalb die Bitte nicht abschlagen dürfe.

Ich ging mit ihm in seine Stube, die in einem engen steingepflasterten Hof lag und einen eigenen Eingang hatte, so daß man auch in der Nacht ungestört ein- und ausgehen konnte. In dieser Stube waren weder Bücher, noch ein Schreibtischchen, noch 143 ein Wecker, Dinge, die doch zu jedem Schüler gehörten. Das kleine Zimmer war fast leer. Nur in einer Ecke waren die Schlafdecken aufgerollt und in der anderen stand ein Feuerbecken mit einem Leimtopf darauf. In einem Wandschrank bewahrte er sein Hab und Gut auf. Daraus holte er zuerst einen Krug Wein und etwas Obst in einer Messingschale hervor. »Da trink, ich habe ihn heute eigens für dich geholt«, sagte er jedesmal. Dann holte er sein Saiteninstrument und legte es auf meinen Schoß und schlug das dicke, alte, handgeschriebene Notenbuch auf, in dem alle klassischen Musikstücke enthalten sein sollten. Wie er zu diesem teueren Instrument kam und wo er das alte Buch aufgetrieben hatte, wußte ich nicht. Er deutete auf eine Zeile und summte die Noten. Ich zupfte vorsichtig und langsam, bis meine Finger wieder eingeübt waren und ein Stück ziemlich fehlerfrei spielen konnten. Er summte die Noten geduldig weiter, korrigierte meine Fingerhaltung, und wenn er einigermaßen zufrieden war, begleitete er mich auf einer Flöte und wir spielten endlos lange.

»O Mirok«, sagte er einmal, »mußt du denn wirklich nach Seoul fahren und studieren?«

»Ja, ich werde es tun, wenn ich das Examen bestehe.«

»Wäre es nicht schön, wenn du hier lebtest und wir immer so zusammen musizieren könnten? Du brauchst nicht zu arbeiten, nicht zu sorgen, du 144 brauchst nur zu leben, wie ein glücklicher Mensch leben soll. Du kannst dir Freunde kommen lassen, wenn du willst, und mit ihnen plaudern vom Himmel und von der Erde, von der Welt und vom Menschenherzen. Du kannst dir ein Häuschen im Gebirg bauen lassen, dem Murmeln der Gebirgsbäche lauschen und den vorüberziehenden Wolken zusehen. Deine Mutter wird glücklich sein, du wirst glücklich leben und ich kann immer bei dir bleiben.«

»Nein, ich muß studieren.«

»Du bist doch seltsam«, sagte er seufzend.

 

Ein Jahr verging schnell und es wurde wieder Winter, ein schneearmer, aber sehr kalter Winter. Da warf mir das Schicksal einen verführerischen Köder in den Weg. Es war die Bekanntmachung der medizinischen Hochschule über das Aufnahmeexamen für das kommende Jahr. Da sollte man nur in fünf Fächern, in Mathematik, Chemie und Physik und in den beiden Sprachen, Japanisch und Chinesisch, geprüft werden. Also weder im Englischen noch in Geschichte, den Fächern, die ich immer am meisten gefürchtet hatte. Dieses Examen zur Aufnahme an der medizinischen Hochschule war für mich eine große Verlockung, der ich um so schwerer widerstehen konnte, als alle meinten, daß die Medizin für mich das geeignete Fach sei. Nur war das Examen dieses Instituts wegen des großen Andrangs seit jeher die schwerste von allen 145 Aufnahmeprüfungen. Nur jeder zehnte von allen Kandidaten, die die Mittelschule schon mit guten Noten absolviert hatten, bestand sie.

Ich überlegte mehrere Tage lang und unterlag schließlich der Verlockung, da auch meine Schulfreunde mich ermutigten. Ich reichte mein Gesuch ein. Eine Woche darauf erhielt ich die Mitteilung, daß ich zum Examen zugelassen sei und an den genannten Examenstagen mit Pinsel und Tusche, einem Bleistift und einem Federmesser in unserem Städtischen Krankenhaus erscheinen sollte, in welchem alle Kandidaten unserer Stadt geprüft würden.

Es dämmerte noch und es war bitter kalt, als ich am Morgen des ersten Examenstages ins Städtische Krankenhaus ging. Eine Schwester führte mich in einen kleinen Saal, in dem bereits drei andere Kandidaten in einer Ecke standen und auf das Kommende warteten. Ich kannte sie nicht. Alle drei lächelten, als sie mich sahen, alle hatten aber blasse besorgte Gesichter. Da kam der Kommissar herein, rief unsere Namen auf und verglich unsere Gesichter mit den Bildern, die unserem Gesuch beigefügt waren. Dann ermahnte er uns, bei den Examensfragen die innere Ruhe zu bewahren, zuerst klar zu überlegen und dann die Antworten niederzuschreiben. Danach erhielt jeder von uns eine Examensordnung, wonach wir in fünf Tagen geprüft wurden. 146

Heute wurden wir nur ärztlich untersucht. Wir wurden dazu in einen größeren Saal geführt und von zwei Ärzten auf Größe, Gewicht, Sehkraft, Gehör, Rückgrat, auf Lunge, Herz, Magen, Nieren und sonstige Organe geprüft. Während die anderen drei zuerst entlassen wurden, wurde ich aus irgendeinem Grunde noch einmal genauer auf das Herz untersucht und nach langer Beratung zwischen den zwei Ärzten doch als gesund entlassen.

Im schriftlichen Examen mußten wir uns jeden Morgen zu früher Stunde in dem kleinen Vortragssaal einfinden und mehrere Stunden schreiben. Am ersten Tag kam Mathematik, am zweiten die Sprachen und am dritten Physik und Chemie daran. Während ich die Mathematik kinderleicht fand und auch Physik und Chemie nicht schwer, waren die altjapanischen und klassisch-chinesischen Texte, die wir ins Neujapanische übersetzen mußten, unvergleichlich schwerer, so daß wohl die meisten in diesen beiden Fächern durchfallen mußten. Der Kommissar saß still in der Nähe des Ofens mit dem Rücken gegen uns, um uns vielleicht kleine gegenseitige Hilfen zu ermöglichen. Aber keiner von uns wagte etwas anderes zu tun, als still für sich zu arbeiten. Nur am dritten Tag kam ein kleines Papierkügelchen sachte auf meinen Tisch hergerollt. Als ich es vorsichtig auseinanderfaltete, standen die verschiedenen Schmelzpunkte des gelben und roten Phosphors darauf. 147

Im mündlichen Examen am letzten Tag fragte mich der Kommissar, warum ich das Medizinstudium gewählt hätte. Ich sagte, daß ich gerne die Ursache von Leben und Tod erfahren wolle. Er sah mich lächelnd an und spielte lange mit seinem Bleistift. »Das ist ein hohes Ziel«, sagte er anerkennend, »nur müssen wir vorläufig sehr viele praktische Ärzte heranbilden, besonders in eurer Heimat, weil bei euch die Hygiene sehr vernachlässigt worden ist.«

Während unseres Gesprächs verließ er einen Augenblick das Prüfungszimmer, so daß ich seine Liste lesen konnte. Es waren unter unseren Namen in verschiedenen Kolonnen besondere Bemerkungen niedergeschrieben. Unter dem meinen stand: Sprache: schlicht, klar. Charakter: ehrlich, sanft, höflich. Unter »Ziel des Studiums« stand nichts.

Der Kommissar kam bald zurück und sagte nach kurzem Schweigen: »Du hast ein gutes Examen gemacht. Du kommst in unsere engere Wahl, aber selbst bei der engeren Wahl hat vielleicht nur jeder Fünfte die Hoffnung, als Schüler in unser Institut aufgenommen zu werden. Falls du eine enttäuschende Antwort bekommst, brauchst du deshalb den Mut nicht zu verlieren. Die endgültige Wahl ist so gut wie ein Lotteriespiel.«

Beim Abschied lächelte er wieder und sagte: »Wenn du ›unser Land‹ sagst, meinst du nicht nur Korea allein, sondern das ganze japanische Reich. Und wenn du ›unsere Landsleute‹ sagst, mußt du 148 immer denken, daß nicht nur die Koreaner, sondern alle Menschen im japanischen Reich gemeint sind.«

Ich schwieg darauf.

Etwa drei Wochen danach kam die endgültige Mitteilung, daß ich als Schüler der medizinischen Hochschule in Seoul angenommen worden sei und mich Anfang April der Institutskanzlei vorstellen solle. Ich war an diesem Tage bei meiner ältesten Schwester zum Abendessen eingeladen. Nach Hause zurückkehrend, fand ich die ganze Familie und alle meine Freunde in meinem Zimmer versammelt und fröhlich plaudernd. Als ich ins Zimmer trat, schwiegen alle, und Yongma gab mir die Mitteilung zu lesen. Alles gratulierte mir. Auch meine Mutter schien sich zu freuen. Sie sagte nichts zu mir, berührte aber wiederholt meine Hände. Dann trat ein langes allgemeines Schweigen ein.

Meine Freunde schienen zu denken, daß nun etwas erreicht war, wozu sie mir Abend für Abend geholfen hatten. Ich würde bald in die weite Welt hinausgehen, während sie weiter in der engen Heimatstadt bleiben mußten. Die Angestellten des Hauses dachten vielleicht, daß ich nun endgültig unserem Haus verloren gegangen sei. Kuori betrachtete sorgenvoll die Mitteilung des Instituts, die sie nicht lesen konnte.

 

An einem milden Frühlingsabend ging ich, von den Freunden begleitet, zur Bucht Drachenweiher, 149 wo der Dampfer vor Anker lag, der mich nach Seoul bringen sollte. Fröhlich plaudernd gingen Mansu, Yongma und Kisop voran, während ich ihnen mit meiner Mutter folgte. Sie kam auch ein Stück des Weges mit mir aus der Stadt und gab mir Mahnungen für die Reise und für das Leben in der großen Stadt.

»Denke nicht zu sehr an die Vergangenheit«, sagte sie zum Schluß, »die Zeit hat sich verändert, wie du mir's oft erklärt hast. Die anderen sind uns voraus in der neuen Kultur, sie begehen oft Taktlosigkeiten, aber bewahre deine Sanftmut und nimm ihre Roheit mit in Kauf, wenn du schon etwas von ihnen lernen willst.«

Meine Freunde gingen mit mir bis zur Bucht, die in hellen Mondschein getaucht war. Der weiße Dampfer hob sich magisch von dem dunkeln Felsenriff ab. Ich verabschiedete mich von jedem einzelnen und stieg in ein kleines Boot, das bald über die rauhen Wellen zu dem weißen Schiff hinüberschaukelte. Die Freunde blieben auf dem Steg stehen und warteten, bis sich der Dampfer langsam drehte und mit einem wehmütigen Sirenengeheul aus der engen Bucht auslief. Es tat mir leid zu sehen, wie die drei allein, ohne mich, den Heimweg über den Hügel antraten. Worüber plauderten sie wohl? Sprach Yongma? Sprach Mansu? Sprachen sie von meiner Reise, von der Musik? Bald würden sie 150 wieder zwischen dem Südhügel und dem Feenberg durch unsere lieben heimatlichen Gefilde wandern.

Auf dem Schiff begrüßten mich die anderen Studenten mit großem Hallo. Jeder gratulierte mir zu meinem Examenserfolg und jeder versprach, mir in Seoul behilflich zu sein.

Die Bucht Drachenweiher entschwand unserer Sicht. Der hohe Suyangberg sank in die Tiefe. Die Suabinseln glitten in greifbarer Nähe an uns vorbei und wir schwammen bald danach auf der offenen See. Nur das Meer wogte im Mondenschein von Horizont zu Horizont. 151

 


 << zurück weiter >>