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Wir waren mitten im sechsten Semester.
Eines Nachmittags nach der augenklinischen Vorlesung wurde ich beim Verlassen des Hörsaals von einem Kollegen angehalten, der Sangkyu hieß und mit mir befreundet war. Er fragte mich in leisem Ton, ob ich am nächsten Abend zu einer wichtigen Besprechung ins Speisehaus »Auf den Südwolken« kommen wolle. Ich versprach es ihm und fragte, was es denn zu besprechen gäbe. Sangkyu zog mich ein wenig zur Seite und antwortete fast flüsternd, daß er von mehreren Studenten der einheimischen Hochschulen etwas Merkwürdiges gehört hätte, worüber wir sprechen müßten. Das koreanische Volk würde bald eine Art Kundgebung gegen die ungerechte japanische Politik veranstalten, an der sich die Studenten aller einheimischen Schulen beteiligen würden. So wollte er zuerst einige zuverlässige koreanische Kollegen unserer Anstalt fragen, ob auch wir uns anschließen sollten.
Igwon, der auch von Sangkyu eingeladen war, schien sehr nachdenklich geworden zu sein. Er sprach kein Wort auf dem Weg nach Hause. Nach der schnellen Erledigung unserer abendlichen Arbeit fragten wir uns, was das Volk von der Regierung verlangen würde. Vielleicht das Wahlrecht? 170 Vielleicht eine eigene Wehrmacht? Vielleicht die Selbstverwaltung?
»Es handelt sich jedenfalls um etwas Politisches«, sagte Igwon mürrisch.
»Das ohne Zweifel.«
»Denkst du auch daran, daß wir bestraft werden, wenn unsere Teilnahme von den Behörden entdeckt wird?«
»Natürlich denke ich daran.«
»Wir um so mehr, weil wir an einer Anstalt studieren, die der Regierung direkt unterstellt ist. Wir sollten schon aus Dankbarkeit an keiner politischen Kundgebung teilnehmen.«
Nun war die große Frage die, ob wir uns anschließen oder fernhalten sollten. Wir waren der Anstalt dankbar, die uns in die hohe Wissenschaft einführte, ohne uns, wie wir annahmen, zu etwas zu verpflichten. Man zeigte uns auf Staatskosten alles, was es an Sehenswürdigkeiten gab, und führte uns zu den berühmtesten Gelehrten, Priestern und Staatsmännern.
Igwon schwieg lange und grübelte. »Was meinst du also, was wir tun sollen?« fragte er mich.
»Ich weiß es selber nicht.«
»Wenn aber etwas geschieht, was das ganze Volk angeht, zu dem wir ja gehören, so müssen wir doch mitmachen.«
»Eigentlich schon.«
»Was ist also deine Ansicht?« 171
Ich schwieg.
»Eine verfluchte Situation!« murmelte er. »Wir beide tun aber auf alle Fälle dasselbe.«
»Ja, das ist klar.«
Als wir am nächsten Abend ins Speisehaus »Auf den Südwolken« kamen, fanden wir etwa zehn Kollegen versammelt. Sangkyu erzählte uns, daß die Kundgebung bereits weitgehend vorbereitet sei, und daß nur die Studenten der staatlichen Anstalten nichts davon gewußt hätten, weil man uns, den »Halbjapanern«, nicht getraut hätte. Alle hörten ihm gespannt zu, und alle waren dafür, mitzumachen. Keiner sprach dagegen. Man wußte zwar noch nicht, wer die Kundgebung ins Leben gerufen hatte, wie sie organisiert war und was sie von der japanischen Regierung fordern würde. Anschließen aber wollten sich alle Kollegen.
Danach sprach man lange Zeit von unserer alten Kultur und von den kulturellen Errungenschaften unserer Ahnen, und daß die Japaner nichts als Emporkömmlinge seien. Man sprach von der ersten Druckerei mit beweglichen Lettern, von dem Unterseeboot, von der Porzellankunst, von einer besonderen Papiersorte und vielen anderen Dingen, die unsere Ahnen vor allen anderen in der Welt erfunden hatten. Selbst Igwon, der der ruhigste und besonnenste von uns allen war und die ganze Zeit nur den anderen zugehört hatte, sagte zum Schluß: »Gut, wir machen mit.« 172
Es schien, als ob wir, die Medizinerschaft, der letzte hindernde Damm gewesen wären; die in Bewegung gekommene Masse drängte nun dem Ziele zu, das nicht mehr weit entfernt schien. Sangkyu brachte uns oft Nachrichten von den neuen Vorbereitungen für die Kundgebung, von Fahnen, Flugschriften, Marschordnungen und so weiter. Schließlich brachte er die wichtige Botschaft, daß die erste Kundgebung am ersten März, nachmittags um zwei Uhr, von dem sogenannten Pagodenpark aus beginnen sollte.
Es war ein wunderschöner, warmer und sonniger Frühlingstag. Igwon stand bereits in seiner Uniform da, als ich aufwachte. Ich ging heute nicht ins Kolleg, weil ich seit einigen Tagen wegen einer Wundinfektion beurlaubt war. »Komm zeitig in den Park«, sagte er, mir die Hand reichend, »damit wir uns dort treffen können, wir marschieren zusammen.«
»Ja, natürlich!«
Er lächelte etwas, als er aus dem Zimmer ging.
Wir hatten fast die ganze Nacht nicht geschlafen. Bleierne Müdigkeit fesselte mich ans Bett, so daß ich nur schwer aufstehen konnte.
Als ich um zwei Uhr nachmittags zum Park kam, war dieser bereits von Schutzleuten umzingelt und der kleine Raum innerhalb der Mauer so dicht gedrängt voll Menschen, daß ich kaum zehn Schritte gehen konnte. Weder Igwon, noch irgendeinen 173 Kollegen konnte ich in meiner Nähe entdecken. Ich stand in einer Mauerecke und sah zu, wie immer mehr Studenten durch den Eingang strömten. Plötzlich trat eine tiefe Stille ein und ich sah, daß jemand vom Podium des Pavillons aus die Kundgebung des koreanischen Volkes vorlas. Ich war zu weit entfernt, um etwas verstehen zu können. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann donnerte der »Manse«-Ruf, der nicht mehr aufhören wollte. Der kleine Park zitterte und schien bersten zu wollen. In der Luft wirbelten Flugblätter verschiedener Größe und verschiedenen Inhalts und die ganze Menschenmenge strömte nun aus dem Park und trat den Marsch in die Stadt an; immer noch mit dem grollenden »Manse«-Ruf und nach allen Seiten Flugblätter verteilend.
Ich erhielt auch ein Blatt und las die Kundgebung. Das Volk verkündete, daß die Annektion Koreas durch Japan ein Irrtum gewesen wäre und von heute ab keine Gültigkeit mehr besäße. Die Koreaner verlangten ihr Recht zurück, als freies Volk ihr Schicksal selber zu bestimmen. Ich las die Kundgebung wiederholt durch und schloß mich dem Zug an. Am Eingang des Parks drückte mir jemand ein Päckchen Flugblätter in die Hand und rief kurz befehlend: Verteilen!
Die Straße war bereits von unzähligen Menschen umsäumt, die überrascht und erstaunt dastanden und nach den Flugblättern griffen. »Na, endlich!« 174 riefen einige. »Ja, unsere Studenten, unsere Kinder!« riefen einige andere. Frauen weinten, zitterten, boten uns zu trinken und zu essen an.
Die Polizei mischte sich nicht ein, sie ließ uns völlig freie Bahn durch die Stadt. Nur die behördlichen Gebäude und Konsulate waren von schwer bewaffneten Schutzleuten umstellt, die scharf beobachteten, ob die Studenten zu irgendeiner Gewalttat schritten.
Erst gegen Abend fühlten wir uns gehemmt. Unsere Bewegungsfreiheit wurde immer kleiner. Jeder Bezirk, den wir durchmarschiert und verlassen hatten, wurde von Polizei und Soldaten besetzt, so daß wir immer enger und enger eingeschlossen wurden. Als wir nun von dem französischen Konsulat aus, vor dem wir ungehindert erklärt hatten, daß wir ein freies Volk seien, zum Generalgouvernement marschieren wollten, gerieten wir endlich in eine Sackgasse. Der Weg war gesperrt. Die ganze Straße war an beiden Seiten dicht mit schwer bewaffneten Schutzleuten und in der Mitte mit Soldaten in vier Reihen besetzt. Einen kurzen Augenblick lang standen sich die beiden Parteien unentschlossen gegenüber, bis die erste Reihe der Soldaten mit ihren blank gezogenen Säbeln auf die Menge losstürzte. Während die Vordersten noch tapfer dastanden, entstand hinten eine Panik und die ganze Menge wich zurück. Damit war das Spiel für uns verloren. Es war nur noch Jammern und Wimmern zu hören. 175 Die Soldaten jagten uns in einem Augenblick in die Hauptstraße zurück, wo wir von einer anderen Truppe empfangen und weitergetrieben wurden.
Ich kam unverletzt nach Hause und schlief gleich ein. Es war dunkel geworden, als ich wieder aufwachte. Igwon war noch nicht zurückgekehrt. Von Schreck getrieben ging ich wieder fort, um nach ihm zu forschen. Draußen wurde es mir unheimlich zumute; alle Straßen waren menschenleer und kaum noch beleuchtet, und an beiden Seiten standen Soldaten mit Maschinengewehren. Jeden Augenblick rasten schwarze Panzerautos vorbei.
Vorsichtig tappte ich von einer Seitengasse zur anderen und suchte meine Kollegen auf; aber keiner wußte, was mit Igwon geschehen war. Vergebens ging ich von einer Pension zur anderen. Da begegnete mir an einer Straßenecke Sangkyu, der auch gerade seinen Kontrollgang unternahm. Er hatte nahezu alle Freunde aufgesucht und festgestellt, daß wir mit Igwon zusammen fünf Kollegen vermißten.
Nach Mitternacht kehrte ich heim und fand das Zimmer immer noch leer.
Langsam verstrich die öde Nacht.
Am nächsten Morgen brachte mir Sangkyu die Nachricht, daß Igwon und die anderen vier mit geringen Verletzungen im Gefängnis gelandet wären, und beauftragte mich, den Gefangenen das Essen zu bringen. 176
Die Volkserhebung hatte sich inzwischen mit Windeseile von den Großstädten über die kleineren Städte bis zu den Marktflecken und Dörfern verbreitet. Von meiner Heimat kam die Nachricht, daß unter anderen Freunden Kisop und Mansu im Gefängnis saßen. Nach den Studenten und Schülern wurden die Kaufleute von der Bewegung erfaßt, dann die Handwerker und Bauern und zum Schluß die koreanischen Beamten. Das Generalgouvernement geriet in Schwierigkeiten und ließ weitere japanische Divisionen entsenden. Die Truppen marschierten wieder Tag und Nacht, wie damals vor zehn Jahren, als unser Land annektiert wurde. Überall floß Blut. In einem zumeist von Christen bewohnten Dorf wurde die ganze Bevölkerung in einer Kirche eingeschlossen und lebendig verbrannt. Alte Gefängnisse und Kerker wurden erweitert und neue gebaut, und die Polizei folterte Tag und Nacht. Die Studenten in Seoul hatten sich nach der vierten Kundgebung von der Öffentlichkeit zurückgezogen und verrichteten nur noch Geheimdienste für die Bewegung. Ich wurde der Abteilung für die Herstellung der Flugblätter zugeordnet.
Tokyo setzte dann nach der militärischen Niederwerfung des Aufstandes doch den Generalgouverneur Hasegawa ab und schickte den Admiral Saido als seinen Nachfolger nach Korea, der in der Tat eine Politik der Versöhnung einleitete. Er entwaffnete zuerst alle Beamten, die bisher, gleichgültig, ob 177 Steuerbeamte oder Lehrer, Dolmetscher oder Ärzte alle mit Uniform bekleidet und mit einem Säbel versehen gewesen waren. Die Gendarmerie, das Schreckbild des Volkes wurde aufgelöst, und der Polizei verbot man das Foltern. Die Gehälter der Koreaner wurden denen der Japaner gleichgesetzt und die Pressefreiheit wurde proklamiert. Koreanische Schulen wurden den japanischen gleichgestellt und in Seoul wurde eine Reichsuniversität ins Leben gerufen.
In seltsamem Gegensatz zu dieser Politik, die versöhnlich wirken sollte, standen die harten Strafen, die den Teilnehmern an der Märzbewegung auferlegt wurden. Das Gericht fuhr fort, die »Unruhestifter« zu verurteilen, und die Polizei raste umher, um alle Teilnehmer der Bewegung zu entdecken und in Haft zu nehmen. Die Verfolgten ergriffen die Flucht ins Ausland. Ich legte die Studentenuniform ab und fuhr in meine Heimat.
Meiner Mutter hatte ich durch die ganze Zeit der Unruhe nur einige Male berichten können, was in Seoul vorgekommen war und das auch nur andeutungsweise. So war sie um mich sehr besorgt. Als ich ihr nun alles genau erzählte, was ich selber erlebt und getan hatte, wurde sie etwas blaß; sie sagte kein Wort und ging aus dem Zimmer.
Ich verfiel in einen tiefen Schlaf. Ich war sehr müde, weil ich während der letzten Monate fast keine Nacht hatte ruhig schlafen können. 178
Abends kam meine Mutter zu mir. »Du mußt fliehen!« sagte sie. »Fliehen?« sagte ich ihr nach, ohne dieses Wort erfassen zu können. Ich war außerstande, über etwas nachzudenken, ich fühlte nur eine große, unüberwindliche Müdigkeit. »Ja, du mußt fliehen!« sagte sie noch einmal. »Ich habe gehört, daß am Oberlauf des Grenzflusses Yalu die Wache nicht so streng ist. Dort wird eine Flucht nach dem Norden noch möglich sein.«
Ich schwieg. Ich hatte keinen Mut zur Flucht, weil so viele Studenten auf der Flucht verhaftet und viele erschossen worden waren.
Meine Mutter schien die Gefahr aber nicht so ernst zu nehmen. Sie meinte, daß es schon mehreren Studenten gelungen sei, den Grenzfluß zu überqueren und drüben weiterzukommen. Ich sollte es auch so machen und jenseits der Grenze versuchen, mir irgendwo einen Paß zu verschaffen und nach Europa zu reisen, um dort mein Studium fortsetzen zu können.
Selbst das Wort Europa gab mir keinen Mut. Ich wußte, daß das Studium in Europa über alle Maßen schwer und die Sprache allein schon für die meisten Asiaten ein unüberwindliches Hindernis war.
Meine Mutter sprach mir aber immer wieder zu, und ich sah ein, daß ich die Flucht doch versuchen mußte, um sie zu beruhigen, und daß ich ihr weniger Sorge bereitete, wenn ich von ihr fortging, als wenn ich in ihrer Nähe in ständiger Gefahr bliebe. Es 179 reute mich fast, mich an der Kundgebung beteiligt zu haben.
Schon der nächste Abend brachte den Abschied. Meine Mutter riet mir ab, noch länger zu Hause zu verweilen. Niemand sollte von meiner Abreise erfahren, bevor ich über der Grenze war.
Sie händigte mir ein kleines Körbchen aus Weidenzweigen aus, in dem nur ein leichter Anzug, eine silberne Taschenuhr mit Kette und ein Päckchen Geld war. Das war alles, was ich für die große Reise in die andere Welt mitnehmen konnte, von der ich als Kind so oft geträumt hatte. Trotz des Nebels und der Dunkelheit begleitete mich meine Mutter ein großes Stück Wegs aus der Stadt hinaus. »Du bist nicht mutlos«, sagte sie, nachdem wir die ganze Zeit schweigend gegangen waren. »Du warst nur oft verzagt; doch bist du deinem Weg treu geblieben. Ich habe großes Vertrauen zu dir. Hab nur Mut! Du wirst leicht über die Grenze kommen, und schließlich wirst du auch nach Europa kommen. Sei unbesorgt um deine Mutter! Ich werde ruhig warten, bis du wieder hier bist. Die Jahre vergehen ja so schnell. Sollten wir uns aber nicht wiedersehen, so sei nicht allzu traurig darüber! Du hast mir in meinem Leben viel, sehr viel Freude gemacht. So, mein Kind, jetzt gehe allein weiter!« 180