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Noch immer wird die Novelle im Publikum nicht für voll angesehen. Und doch ist es eine Kunst von geschlossener Eigenart mit einer ganz andern Technik als der Roman, und da, wo sie von einem Künstler geübt wird, von einer Kraft und Schönheit, die sie der gebundenen Form näher bringt. Man hat zwar zu lange die Novelle als Romanskizze behandelt, um nun gleich alle Reize dieser Prosaform entfalten und verstehen zu können. Die Zukunft wird erst lehren, daß in der Kunst der Novelle Kräfte schlummern von märchenhafter Schönheit und einem Sprachglanz, der das poetische in konzentrierter Form zu geben vermag.
Auf dem Wege zur modernen Novelle und der der Zukunft, die eine Verbindung zwischen epischer Prosa und Lyrik herzustellen berufen ist, begegnen wir einigen Künstlern, die heute, da man solche Zusammenhänge kaum erst ahnt, nur wenig Beachtung gefunden haben. Künstler, die aber erkannt zu haben scheinen, daß die Novelle ihre eigenen künstlerischen Gesetze hat, ein angestrengtes Sehen, ein scharfes Kombinieren und eine dramatische Schürzung des Knotens verlangt, wie sie dem breiteren Roman leider abgeht. Rudolph Lindau ist einer von jenen Autoren, die sich an russischen und französischen Vorbildern einen solchen eigenen Novellenstil geschaffen haben. Und wenn er auch in der Sprachbehandlung noch nicht jenen Reichtum und jene psychologische Beweglichkeit erreicht, die die Novelle erst ganz über ihre Nachbarkunst, den Roman, erhebt, so bleibt doch in seinen Novellen aus dem Osten soviel stilleuchtende Schönheit und Vertiefung des Problems, daß man unschwer seine überragende Stellung unter den Novellenschreibern seiner Zeit erkennen kann.
Vor allem ist es der gute Geschmack, den alle seine Erzählungen verraten und die überlegene Weltmannsklugheit, eine feine, das Romantische streifende Ironie und Kühle, mit der er seine Themen behandelt, die seine Prosa aus dem Durchschnitt der Novellenliteratur herauslöst. Etwas Internationales, wenn wir so wollen, hebt das moralische Niveau seiner Urteilskraft, hier spricht ein Mann zu uns, der viel erlebt und gesehen, der sein halbes Leben in einer ganz anderen Welt zugebracht hat und jene Besonnenheit und Zurückhaltung, jene Vorsicht und Sicherheit in der Beurteilung der Charaktere zur Schau trägt, die man nur draußen in den Kolonien lernt, wo der einzelne so viel und doch so wenig gilt und sich die Europäer auf eine ganz besondere Weise als Vertreter einer anderen Moral und Kultur zusammenschließen. Dort, wo psychologische Probleme unter einem südlichen Himmel gewaltig anwachsen, die Menschen mit ihren noch so gut verborgenen Geheimnissen dennoch ihre Leidenschaften, Schwächen und Charakterstärken nackter zeigen und die brennende, helle Sonne alles so nah und deutlich erscheinen läßt, hat Rudolph Lindau seine Themen gesucht und gefunden. Und da er gesellschaftlich zu den ersten Kreisen der europäischen Kolonien gehörte, hat er sich in ihrer Behandlung an eine weltmännisch diskrete Art gewöhnt, die noch schont, wenn sie enthüllt. Alles Eigenschaften, die man in der Literatur selten genug findet, um ihren Reiz nicht ganz stark zu empfinden.
Rudolph Lindau wurde am 10. Oktober 1829 in Gardelegen in der Altmark geboren. In Gardelegen, Naumburg, Magdeburg und Berlin hat er seine Schulzeit verlebt, in Berlin, Paris und Montpellier Sprachen und Geschichte studiert. Wie seinem Bruder Paul scheint auch ihm der Hang zur Literatur vom Großvater, dem Pastor Heinrich Wilhelm Müller in Wolmirsleben, überkommen zu sein, der als einer der fruchtbarsten Jugendschriftsteller seiner Zeit galt, und dem sein Enkel »ein zierliches, korrektes Deutsch« nachrühmt.
Rudolph Lindau blieb nach der Beendigung seiner Studien noch vier Jahre in Südfrankreich als Hauslehrer, dann wurde er Privatsekretär des französischen Ministers Barthélémy St. Hilaire. 1860 schickte ihn die Schweiz in diplomatischer Mission nach Japan. Er sollte den Handelsvertrag zwischen beiden Nationen vorbereiten, sein Erfolg brachte ihm den Rang eines Generalkonsuls ein. Bis zum Jahre 1869 lebte er abwechselnd in Indien, Singapore, Cochin-China, China, Japan, Kalifornien. Schon in Frankreich hatte er seine literarische Tätigkeit als Mitarbeiter der »Revue des deux Mondes« und des »Journal des Débats« begonnen. Auch seine erste Reisebeschreibung »Voyage autour du Japon« schrieb er französisch. Später gab er in Yokohama die erste englische Zeitung heraus und schrieb einen Band Novellen in englischer Sprache, ohne durch diese Beschäftigung in den Literaturen fremder Sprachen sein Heimatsgefühl einzubüßen. Der Krieg 1870 rief ihn nach Deutschland zurück. Als Berichterstatter für den Staatsanzeiger und Privatsekretär des Prinzen August von Württemberg machte er den Einmarsch nach Frankreich im Generalkommando der Garde mit: »Die preußische Garde im Feldzug 1870/71.« Es war nicht der erste Krieg, dem der Diplomat im Generalstabe als nächster Zuschauer der Ereignisse beiwohnte. 1862 war er Gast des Admirals Charner im cochin-chinesischen Feldzug.
1872 bis 1878 lebte Lindau wieder in Paris als Beamter der deutschen Gesandtschaft und 1878 als Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt in Berlin. 1880 wurde er wirklicher Legationsrat und 1885 Geheimer Legationsrat. 1892 schickte das Reich den erfahrenen Mann noch einmal auf einen schwierigen auswärtigen Posten. Er ging als Vertreter des Reiches bei der Verwaltung der türkischen Staatsschuld nach Konstantinopel. Nach seiner Pensionierung zog er sich nach Helgoland zurück, wo er in stürmischer Einsamkeit, dem Meere nahe, das ihn so oft und weit hinaus in die Welt getragen hat, seinen Lebensabend genießt. 1893 erschienen seine gesammelten Romane und Erzählungen in sechs Bänden. Die wichtigsten seien hier aufgezählt.
Auf dem Gebiete der Novelle versuchte er sich zuerst 1869, 39 Jahre alt, in französischer Sprache. (Eine Sammlung von Novellen, die früher in der »Revue des deux Mondes« und im »Jounal de St. Pétersbourg« erschienen, trägt den Titel: Peines perdues. Seine in englischer Sprache in »Blackwood's Magazine« veröffentlichten Novellen gab er als Buch heraus unter dem Titel: The Philosopher's Pendulum and other stories.) Deutsch erschienen von ihm: Erzählungen und Novellen. 2 Bde. 1. Aus Frankreich. 2. Aus Japan. (1872.) – Robert Ashton. Roman. 2 Bde. (1873.) – Liquidiert. Eine Erzählung. (1874.) – Schiffbruch. Vier Erzählungen. (1874.) – Gordon Baldwin. Eine Novelle. (1875.) – Vier Novellen und Erzählungen. (1876.) – Gute Gesellschaft. Roman. 2 Bde. (1878.) – Kleine Welt. Drei Erzählungen. (1880.) – Wintertage. Drei Erzählungen. (1882.) – Der Gast. Eine Novelle. (1883.) – Zwei Seelen. (1888.) – Marta. Romane. Liebesheiraten. Ein unglückliches Volk. Erzählungen. – Der Flirt. Schweigen. Novellen. Erzählungen eines Effendi. (1896.) – China und Japan. Reiseerinnerungen. – Fonar und Mayfair. Roman. – Zwei Reisen in der Türkei. (1899.) – Türkische Geschichten. (1898.) – Alte Geschichten. (1904.)