Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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1.

Büchner nahm seit einer Reihe von Jahren die Stellung eines Kassierers bei Rawlston u. Co. in Schanghai ein. Er stand daselbst in hohem Ansehen, und man sprach davon, er werde Edith Rawlston, die Schwester seines Prinzipals heiraten und sodann Mitglied des alten und vornehmen Hauses werden, dem er vorläufig noch als erster Angestellter diente.

Edith war ein bildhübsches Mädchen und ein regulärer »Flirt«, die sich damals die Aufgabe gestellt zu haben schien, den jungen Männern von Schanghai im allgemeinen, ganz besonders aber dem langen Holländer und Herrn Francis Morrisson das Leben möglichst schwer zu machen. Francis Morrisson galt für die beste Partie in Schanghai. Er war ein liebenswürdiger, heiterer junger Mann von gutem Aussehen und vortrefflichen Manieren, dazu war er sehr reich und infolge aller dieser Eigenschaften von Müttern und heiratsfähigen Töchtern stark verwöhnt. Daß er in Edith verliebt war, konnte jedermann sehen, der mit den beiden zusammentraf, und wenn er trotzdem noch nicht um die Hand des jungen Mädchens angehalten hatte, so war dies nur dadurch zu erklären, daß Edith ihm bisher wenig oder gar keine Ermutigung gegeben hatte. – Dagegen beschäftigte sie sich viel mit dem langen Holländer.

Hübschen Mädchen wird es leicht gemacht, witzig und geistreich zu sein, wenn eine Häßliche sich so benommen hätte, wie Edith es häufig tat, so würde man ihr den Rücken gekehrt haben; aber Fräulein Rawlston war aller Liebling und galt für witzig und klug. Der schwerfällige Büchner hatte oftmals von ihren Launen und Unarten zu leiden; er ertrug jedoch alles, was von ihr kam, mit unendlicher Langmut, so daß sie schließlich die Geduld verlor und ihn eines Abends gewissermaßen nötigte, ihr endlich in Worten die Liebeserklärung zu machen, die sie seit Monaten in seinen Augen gelesen hatte. Nachdem er gesprochen, wie sie es erwartet, hatte sie ihm herzhaft die Hand gedrückt und gesagt: »Das wäre nun in Ordnung, Georg; von heute ab sollen Sie nur noch Freude an mir haben!«

Dies hatte sich eines Abends zu später Stunde, sagen wir an einem Dienstage, zugetragen. Als der lange Holländer sich am nächsten Morgen bei James Rawlston anmelden ließ, erwartete dieser, Büchner werde um die Hand seiner Schwester bei ihm anhalten: denn Edith, die von ihrem Bruder verzogen wurde und in ihm einen treuen Verbündeten erblickte, war bereits zu früher Stunde in seinem Zimmer gewesen, um ihm zu sagen, sie habe sich mit Georg Büchner verlobt. – Rawlston ging dem Eintretenden mit freundlichem Gesichte und ausgestreckten Händen entgegen, denn er wollte dem schüchternen Menschen eine förmliche Erklärung erleichtern; aber zwei Schritt vor ihm blieb er stehen: »Was ist Ihnen zugestoßen, Mann? – wie sehen Sie aus? – was gibt's?«

»Ein Unglück, Herr Rawlston.«

»Nun, was? Schnell!«

»Wir sind heute Nacht bestohlen worden.«

»Was ist gestohlen worden?«

»Die zehntausend Dollars, die gestern abend von Ki-tschong eingezahlt worden sind.«

Niemand verliert gern zehntausend Dollars, auch wenn er das Zehnfache entbehren könnte, und der Amerikaner machte bei der Mitteilung des Verlustes nicht gerade ein vergnügtes Gesicht. Er stülpte sich aber, ohne ein Wort zu sagen, den Hut auf den Kopf und folgte Büchner zur Kasse, um den Schaden bei Lichte zu besehen.

Das feine Schloß des eisernen Schrankes, in dem das Geld aufbewahrt gewesen war, zeigte keine Spur von gewaltsamer Öffnung. Die Türen und Fenster des Zimmers waren unversehrt. Der herbeigerufene Hausdiener, dessen Pflicht es war, sie am Morgen zu öffnen und am Abend zu schließen, hatte nichts Außergewöhnliches bemerkt. – James Rawlston drehte nachdenklich die Spitzen seines langen Schnurrbartes und ließ sich von Büchner noch einmal zusammenhängend erzählen, was mit dem verschwundenen Gelde in Verbindung stand.

Am Dienstag nachmittag um fünf Uhr, als Büchner gerade zum Essen gehen wollte und seine sämtlichen Genossen das Kontor bereits verlassen hatten, war ein chinesischer Kaufmann, der mit dem Hause Rawlston u. Co. in regem Geschäftsverkehr stand, in das Kassenzimmer getreten, um noch eine Einzahlung von zehntausend Dollars in Barren zu machen. Der Komprador (chinesischer Kassierer) war gerufen worden, hatte das Gold geprüft und gewogen und es, nachdem er es richtig befunden, in den eisernen Schrank gelegt, wo es bis zum nächsten Morgen aufbewahrt bleiben sollte, um sodann in üblicher Weise zur Bank geschafft zu werden. – Büchner hatte darauf einen Empfangsschein ausgestellt, den Schrank geschlossen und sich schleunigst entfernt, um nicht zu spät zum Essen zu kommen.

»Hm!« sagte Rawlston, »sind Sie sicher, den Schrank zugeworfen und abgeschlossen zu haben?«

»Ganz sicher!«

»Und sind Sie sicher, den Schlüssel mitgenommen zu haben?«

»Ebenfalls ganz sicher! Er steckt an demselben Bund wie andere Schlüssel, die ich noch gestern abend in meiner Wohnung benutzt habe.« »Und heute früh?«

»Die Kasse war wie gewöhnlich verschlossen, und ich öffnete sie ohne Schwierigkeit.«

Rawlston setzte sich nieder, gähnte gezwungen und sagte: »Alles wäre demnach in schönster Ordnung: die Schlüssel, das Schloß, die Türen, die Fenster. – Aber das Geld ist fort! Das ist nicht in Ordnung.«

Darauf wandte er sich an den Komprador und den chinesischen Diener, welche stumme und ernste Zeugen dieser Vorgänge gewesen waren, und sagte: »Ihr könnt jetzt gehen.« Und als er mit Büchner allein war, fuhr er fort: »Nun, und welchen Vers machen Sie sich auf die Geschichte?«

»Ich zerbreche mir den Kopf darüber.«

Unterdessen waren auch die anderen Angestellten des Hauses angekommen: ihrer sechs an der Zahl. Sie unterhielten sich kopfschüttelnd über den geheimnisvollen Vorfall, und weder der eine noch der andere war in der Lage, eine Vermutung über den Urheber des Diebstahls auszusprechen. Man ging die Namen sämtlicher Hausbewohner durch, aber hielt sich bei keinem länger als eine Sekunde auf: im ganzen »Hong« (unter dieser Bezeichnung versteht man alle zu ein und demselben Grundstück gehörigen Baulichkeiten) wohnten nur erprobte, zuverlässige Menschen, auf die kaum ein Verdacht fallen konnte, am wenigsten befand sich darunter jemand, dem man die nötige Diebesgeschicklichkeit hätte zutrauen können, in das verschlossene Kontor zu gelangen und dort die feste Kasse zu öffnen, ohne bemerkbare Spuren des Einbruchs zu hinterlassen.

»Ja, Herr Büchner,« sagte endlich James Rawlston, »dann machen Sie nur bei der Polizei Anzeige von der Geschichte und gehen sie lieber selbst aufs Amt und bitten Sie, man möchte die Untersuchung möglichst beschleunigen. – Morgen wird das Gold schon eingeschmolzen sein.«

Büchner, der sich die Sache sehr zu Herzen zu nehmen schien, rief nach seinem »Chair« (Tragstuhl) und begab sich geradeswegs auf die Polizei. Nach einer halben Stunde kehrte er in Begleitung des ersten Inspektors, eines bewährten alten Londoner Beamten, zurück, der den Geldschrank und alle Eingänge zum Kontor zunächst aufmerksam untersuchte und sodann sämtliche Bewohner des Hauses, die chinesischen Diener sowohl wie die Angestellten des Geschäfts, einem kurzen Verhör unterwarf, wobei er sich flüchtige Notizen machte. An alle richtete er dieselbe Frage: wo sie seit Dienstag abend fünf Uhr bis Mittwoch früh acht Uhr gewesen seien, und die darauf bezüglichen Antworten schrieb er auf einem besonderen Bogen nieder. Er machte das geschäftsmäßig und schnell ab; aber es wohnten im »Hong«, die Diener mitgerechnet, an dreißig Personen, und es dauerte wohl vier Stunden, bis die Untersuchung beendet war. Dann unterhielt sich der Inspektor noch längere Zeit im geheimen mit Herrn Rawlston, und darauf entfernte er sich. Die nächsten Tage brachten noch mancherlei Unannehmlichkeiten für die Bewohner des Rawlstonschen Hauses. Einer nach dem andern wurde vor den Untersuchungsrichter gerufen, um Beweise dafür anzuführen, daß er die bewußte Nacht von Dienstag auf Mittwoch in der Tat so verbracht, wie er in dem ersten Verhör ausgesagt hatte. Büchner konnte, bei jener Gelegenheit nicht mehr und nicht weniger zu seiner Entlastung ausführen als seine Genossen: er hatte bei einem Freunde, und zwar in Gesellschaft von James und Edith Rawlston zu Mittag gespeist, und er war am Abend nach seiner Heimkehr, noch eine Stunde etwa, im Garten des Hauses mit Fräulein Rawlston spazieren gegangen. Unmittelbar nachdem er diese verlassen, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen, wo er angab, bis zum nächsten Morgen verblieben zu sein. Zeugen für diese letztere Aussage konnte er nicht namhaft machen. Er hatte die Gewohnheit, sich ohne Hilfe eines Dieners auszukleiden, und er schlief allein in seinem Zimmer. Seine Kollegen befanden sich übrigens in dieser Beziehung in derselben Lage wie er. – Die beiden Chinesen, die während der Nacht im Hofe Wache gehalten hatten, und zwar in Begleitung eines bösartigen Hundes, der jeden Fremden, der sich in den Hong gewagt hätte, angefallen haben würde – die beiden Wächter erklärten, zu keiner Stunde der Nacht ein verdächtiges Geräusch oder eine verdächtige Bewegung bemerkt zu haben. Das Ergebnis der Untersuchung war, daß der Diebstahl aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen fünf und sieben Uhr abends oder sieben und acht Uhr morgens, also am hellen Tage, unmittelbar vor dem Verschließen oder nach dem Öffnen des Kontors durch den Hausdiener, aber während der Abwesenheit der Angestellten, welche die Schreibstube zwischen fünf und sechs Uhr abends verließen und zwischen acht und neun Uhr morgens wieder betraten – ausgeführt worden sei. Der Dieb war augenscheinlich im Besitz eines Schlüssels zur Kasse und somit in der Lage gewesen, diese schnell und geräuschlos zu öffnen. Er hatte dabei nicht zu fürchten brauchen, daß man ihn von außen beobachten werde, denn da man sich im Hochsommer befand, so waren die Stabvorhänge während des ganzen Tages nicht aufgezogen worden.

Büchner hatte während der Untersuchungszeit Edith Rawlston häufig gesehen, aber kaum gewagt, ihre freundlichen Blicke zu erwidern; auch die Unterredung mit dem Bruder hatte noch nicht stattgefunden. James Rawlston zeigte üble Laune und schien es zu vermeiden, mit Büchner allein zu sein. Dieser aber war zu schüchtern, um seinen zukünftigen Schwager unter solchen Umständen um Gehör in seiner Herzensangelegenheit zu bitten.

Am fünften Tage nach dem Diebstahl kam Rawlston eines Nachmittags mit sorgenschwerem Gesichte auf das Zimmer seiner Schwester, um ihr nach einer kurzen Einleitung verlegen, aber doch klar verständlich zu sagen, der Polizeiinspektor sei der festen Überzeugung, Büchner und nur Büchner könne die zehntausend Dollars gestohlen haben.

Edith wurde bleich, ihre großen Augen öffneten sich weit und starrten finster und stumm auf den Überbringer dieser schlimmen Post.

»Wiederhole das noch einmal!« sagte sie endlich langsam.

»Der Inspektor ist der Ansicht, Büchner habe den Diebstahl verübt. Er ist der letzte, den man im Kassenzimmer gesehen hat. Er besaß den Schlüssel zum Geldschrank. Dreißig Pfund Gold nehmen keinen großen Platz ein und können beiseite geschafft werden. Der Diebstahl ist sofort erklärt, sobald man annimmt, Büchner habe ihn verübt; in jedem anderen Falle ist er unerklärlich.«

»Du solltest dich schämen!« sagte Edith leise.

James blickte verwundert auf seine Schwester.

»Du solltest dich schämen!« wiederholte diese langsam mit gepreßter Stimme, »verlaß mein Zimmer, ich mag dich nicht mehr sehen!«

»Aber Edith, hast du den Verstand verloren? Was fällt dir ein?«

»Ich habe den Verstand nicht verloren, weil ich mir klar mache, wie klein und erbärmlich du bist.«

»Ich muß dich bitten, dich zu mäßigen, oder ...«

»Nun ... oder was?«

Sie hatte bis dahin mit verhaltenem Grimm anscheinend ruhig gesprochen; jetzt loderten Jugend und Leidenschaft in ihr auf.

»Nun, so vollende doch: oder ... was?«

»Oder,« sagte James Rawlston zornig, »ich packe dich auf den nächsten Dampfer und schicke dich nach Hause.«

»Wie einen Ballen Seide oder eine Kiste Tee! ... Nein, mein Lieber! Du kennst mich noch nicht, gerade wie ich dich noch nicht kannte. Jetzt kenne ich dich – und du wirst mich kennen lernen. Ich kann dir die Tür nicht weisen, ich bin in deinem Hause ... aber ... sieh mich genau an ...« Sie stand vor ihm kerzengerade, die Augen in Feuer, die kleinen weißen Zähne zusammengepreßt, ein Bild der Entrüstung ... »Sieh mich genau an!... So hast du deine Schwester zum letzten Male gesehen!«

Die Heftigkeit des jungen Mädchens wirkte beruhigend auf den reiferen Mann. »Ich bitte dich, Edith, sei vernünftig, höre mich an!«

»Ich will kein Wort mehr von dir hören!«

Sie irrte unstet im Zimmer umher. Sie hatte sich einen Hut aufgesetzt und näherte sich der Tür. Er stellte sich entschlossen davor.

»Wo willst du hin?« fragte er kalt.

Sie antwortete nicht und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen. Als sie sah, daß ihr dies nicht gelingen werde, trat sie einen Schritt zurück und sagte mit bebender Stimme: »Höre, was ich dir sage: wenn du mir den Weg nicht sofort freigibst ... sofort! ... so wahr mir Gott helfe! ... ich stürze mich aus dem Fenster!«

Sie hätte getan, wie sie drohte; er fühlte es und trat beiseite. Sie sprang an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und gleich darauf hörte er ihren eilenden, leichten Schritt auf der Treppe.

Rawlston verzog den Mund zu einem Lächeln, aber es gelang ihm nicht, heiter auszusehen, und er gab den Versuch schnell auf. Er blickte sich eine halbe Minute lang ratlos in dem leeren Zimmer um, dann murmelte er eine Reihe von Flüchen vor sich hin, mit denen er »allen Unsinn« sowie »alle tollen Weiber« und »alle verrückten Liebeshändel« zum Teufel wünschte – und nachdem er auf diese Weise seinem vollen Herzen etwas Luft gemacht hatte, stieg er nachdenklich die Treppe hinunter. Als er über den Hof ging, sah er in der Kassenstube am offenen Fenster das vergrämte Gesicht des langen Holländers, der hinter seinen großen Büchern saß und eifrig zu arbeiten schien.

»Der Halunke!« sagte Rawlston vor sich hin; »sieht aus, als ob er kein Wasser trüben könnte, und hat das Geld so sicher gestohlen, wie ich hier gehe.«

Er wollte den Hof verlassen und sich auf den »Bund« (den Hafendamm des Fremdenviertels in Schanghai) begeben, um seine Nerven durch einen Spaziergang zu beruhigen, als ihm im Torweg ein kleiner, blasser Mann mit dunklem Vollbart und schlichtem, schwarzem, glänzendem Haare entgegentrat, der ihn mit seinen großen, klugen Augen freundlich anblickte und ihm artig lächelnd »Guten Tag« bot.

»Seit wann sind Sie wieder hier, Herr Prati?« fragte Rawlston.

»Ich bin in diesem Augenblick zurückgekommen.«

»Nun, haben Sie etwas mitgebracht?«

»Ich bin ganz zufrieden. Ich habe etwa zwanzig Ballen bekommen. Die Qualität ist nicht schlecht, und jedenfalls ist die Ware sehr billig.«

»Das ist recht angenehm! – Angenehme Nachrichten kommen in diesem Augenblick ganz besonders erwünscht.«

»Weshalb gerade in diesem Augenblick?«

»Nun, wegen des verdammten Diebstahls.«

Herr Prati sah Herrn Rawlston mit seinen beredten Augen fragend an. »Von welchem Diebstahl sprechen Sie?«

»Haben sie von der Sache noch nichts gehört?«

»Ich steige soeben aus dem Boote, Herr Rawlston. Seit acht Tagen habe ich mit keinem Menschen außer mit unseren Chinesen ein Wort gewechselt.«

Herr Prati war der italienische Seideninspektor des Hauses Rawlston u. Co., ein sehr angesehener und der bestbezahlte Angestellte des Geschäfts. Er kehrte soeben, von einer Reise in das Innere zurück, wo er Seideneinkäufe gemacht hatte. »Lassen Sie sich die Geschichte von Büchner erzählen,« fuhr Rawlston fort, »der kennt sie am besten, und seien Sie so freundlich, nach dem Essen zu mir zu kommen, damit wir noch wegen der Seide sprechen. In diesem Augenblick bin ich zu keiner Arbeit aufgelegt. Auf Wiedersehen heute abend!« »Ihr gehorsamster Diener!«

Herr Rawlston begab sich auf den Bund und Herr Prati in das Kontor, wo er von seinen Genossen freundlich begrüßt wurde. Als er an Büchners Pult trat, das im Kassenzimmer allein stand, drückte er die Tür hinter sich zu, und nachdem er mit dem Kassierer einen freundschaftlichen Händedruck gewechselt hatte, sagte er teilnehmend: »Was ist denn das für eine Geschichte, die Rawlston andeutete, – ein Diebstahl?«

Der lange Holländer blickte schwermütig auf den kleinen Italiener hinab und antwortete: »Sie können von Glück sagen, daß Sie die ganze Sache nichts angeht.« – Und darauf erzählte er bereitwillig die Geschichte, die seit vergangenen Dienstag all' seine Gedanken beschäftigte, Prati hörte aufmerksam zu, hie und da die Stirn runzelnd, den Kopf schüttelnd oder die Achseln zuckend, wie das so südländische Art ist.

»Sind Sie ganz sicher,« fragte er endlich vorsichtig, »daß der Komprador das Gold in den Schrank gestellt hat? Sie waren in Eile, so sagen Sie selbst, Sie haben die Kassentür schnell zugeworfen. Die Chinesen sind geschickte Leute, und ich traue keinem von ihnen über den Weg.«

»Der Komprador ist seit zehn Jahren im Hause,« antwortete Büchner verdrießlich, »und wenn er nicht ein Taschenspieler allerersten Ranges ist, so konnte er das Geld unmöglich sozusagen unter meinen Augen verschwinden lassen. Ich habe der Kasse nicht eine Viertelminute den Rücken gekehrt: ich hatte nur ein Formular auszufüllen, zehn Worte zu schreiben.«

»Wie Sie meinen,« sagte Prati, »Sie haben vielleicht recht. Aber wenn Sie soviel mit Chinesen zu tun hätten wie ich, so würden Sie meinen Argwohn nicht unbegründet finden.«

Büchner begnügte sich, darauf mit den Achseln zu zucken, und Prati trat wieder in das Nebenzimmer zurück, wo er noch einige Worte mit den andern Angestellten wechselte; sodann begab er sich in sein Zimmer.

Etwa eine halbe Stunde später ließ sich Frau Onslow bei Herrn Rawlston anmelden. Herr Wallice, der erste Buchhalter, ging hinaus, um der Dame höflich zu sagen, Herr Rawlston sei augenblicklich nicht im Hause. Frau Onslow erklärte darauf, sie wolle ihn erwarten und wurde von Herrn Wallice in das Empfangszimmer geführt, wo sie ihre große knochige Gestalt mit einem tiefen Seufzer auf einen bequemen Sessel niederließ. Die genannte Dame, die Frau eines angesehenen amerikanischen Kaufmanns, war in der Fremdenniederlassung wegen ihrer Wohltätigkeit und Herzensgüte beliebt und wegen ihres seltenen Rednertalents gefürchtet. Wer immer mit ihr zusammentraf, mußte sich darauf gefaßt machen, eine längere Abhandlung aus ihrem Munde über diese oder jene Frage, die Moral oder das allgemeine Wohl betreffend, zu vernehmen. Hatte sie nun aber gar Veranlassung, sich mit jemand über einen von ihm begangenen Fehler oder etwas, was sie für einen solchen hielt, auszusprechen, so war sie sehr ermüdend, und ihre Opfer verschwanden gewöhnlich gänzlich zerknirscht aus ihrer Nähe und gingen ihr sodann während der nächsten Wochen mit ängstlicher Scheu auf weite Entfernung aus dem Wege. Aber das kümmerte Frau Onslow nicht. Sie betrachtete es als eine Pflicht, alle Sünder, mit denen sie zusammentraf, zu belehren und zu bekehren, und ob dies den Unglücklichen gefiel oder nicht, war ihr vollkommen gleichgültig. – Nachdem sie etwa fünf Minuten ungeduldig gewartet hatte, klingelte sie und beauftragte den eintretenden Diener, einige Boten auszusenden, um Herrn Rawlston zu suchen und diesem zu melden, Frau Onslow warte in seiner Wohnung, sie habe ihm eine wichtige Mitteilung zu machen. Der gutgeschulte Diener tat, wie ihm geheißen, und einer der Ausgesandten hatte das Glück, seinen Herrn in der Nähe des Hauses anzutreffen und Frau Onslows Bestellung schnell ausrichten zu können. Rawlston begab sich darauf eiligen Schrittes zu ihr, denn er vermutete, sie werde ihm Nachrichten von seiner Schwester bringen.


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