Rudolph Lindau
Erzählungen aus dem Osten
Rudolph Lindau

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IV.

Es war im Monat Januar, etwa drei Monate nach der Ermordung der englischen Offiziere, als mein japanischer Diener mir eines Morgens die Mitteilung machte, er habe in Hondjodori, der Hauptstraße von Yokohama, ein Schild gelesen, auf dem angezeigt sei, daß Schimidso Sedschi im Laufe des Tages durch die Stadt geführt und vor Sonnenuntergang auf dem Richtplatze von Tobi, eine Viertelmeile von Yokohama, enthauptet werden solle.

Ich war begierig, den Mann, der meine Gedanken während der letzten Wochen oft beschäftigt hatte, von Angesicht zu Angesicht zu sehen und trug dem Diener auf, mich rechtzeitig von Schimidsos Ankunft in Yokohama zu benachrichtigen.

Gegen zwei Uhr nachmittags erfuhr ich, daß der Mörder in der Vorstadt Benten angelangt sei und in wenigen Minuten durch die Straße geführt werden würde. – Ich verließ meine Wohnung und begab mich eiligen Schrittes nach Benten. Der Zug hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Ich traf ihn in der großen Straße von Yokohama. Ich bahnte mir, nicht ohne Mühe, Weg durch eine dichte Menschenmasse und gelangte in die unmittelbare Nähe des Pferdes, auf dem Schimidso festgebunden saß. Vor und hinter dem Mörder gingen japanische Soldaten. Einige waren bewaffnet, andere trugen große Schilder, auf denen in japanischer Sprache Schimidsos Verbrechen und Verurteilung verzeichnet waren. Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf sie und richtete sodann meine Aufmerksamkeit auf den zum Tode Verurteilten. Ich habe den Ausdruck des kalten, grausamen, stolzen Gesichtes nicht vergessen können, und die ganze Gruppe steht mir noch heute lebhaft vor Augen.

Schimidso saß auf einem hohen Sattel. Er konnte von allen Seiten gesehen werden und nach allen Seiten hin sehen. Arme und Beine waren gefesselt; aber die Bande waren locker genug, um ihm, dem Anschein nach, die freie Bewegung seiner Gliedmaßen zu gestatten. Er war sauber gekleidet und frisch rasiert, sein Haupthaar, ein höchst wichtiger Schmuck bei der japanischen Toilette, war mit Sorgfalt geordnet. Er war blaß und abgemagert; aber auch nicht eine Spur von Furcht oder Bewegung war auf dem eisig kalten Gesichte zu lesen. Er saß in anscheinend ungezwungener Haltung auf dem breiten Sattel und drehte sich langsam bald nach dieser, bald nach jener Seite, um die umwogende Menge zu mustern. Sein Blick schweifte ruhig und gleichgültig über das bunte Gewühl, so ruhig und kalt, daß es den Anschein hatte, die Menge diene ihm zum Schauspiel.

Von Zeit zu Zeit – vier- oder fünfmal während der Stunden, wo ich ihn nicht aus den Augen verlor – öffnete er den Mund und sang mit lauter Stimme. Es waren Rezitative, mit eigentümlich ergreifendem Pathos vorgetragen. Der Ausdruck seines Gesichts blieb dabei unverändert ruhig, der Mund allein mit den geraden schmalen Lippen bewegte sich, während die langgezogenen Klagetöne hell und klar durch die Luft zogen. Seine Improvisationen waren einfach und so deutlich vorgetragen, daß viele von den Fremden seinen Worten folgen konnten.

»Ich heiße Schimidso Sedschi,« sang er, »ich bin ein Lonin aus Awomori, und ich sterbe, weil ich Fremdlinge erschlagen habe.

»Heute abend fällt mein Haupt, und morgen wird es auf dem Marktplatze von Yokohama ausgestellt sein. Die Fremden werden dann ein Gesicht sehen, das bis zum Tode Furcht vor ihnen nicht gekannt hat.

»Es ist ein bitterer Tag für Japan, da ein Edelmann sterben muß, weil er einen Fremdling erschlagen.

»Starken Mutes würde ich wie ein Edelmann zu sterben gewußt haben; aber die Gnade des Herrschers von Japan hat mich den Feinden des Vaterlandes überliefert, und der Tod eines gemeinen Verbrechers erwartet mich.

»Männer von Yokohama, die ihr mich hört, erzählt den Patrioten von Japan, daß der Lonin Schimidso Sedschi angesichts des Todes nicht gezittert hat.«

Es war ein kalter Wintertag, und schon näherte sich die Sonne dem Gipfel von Fusi-yama und rötete mit ihrem Feuerlichte die ungeheuren Schneefelder, die den ausgebrannten Vulkan umhüllen. Ich hatte mich zu Polsbroek, dem holländischen Minister, einem alten Freunde von mir, gesellt, und wir hatten beschlossen, Schimidso bis zur Richtstätte zu begleiten. Der Zug bewegte sich schnell vorwärts. Um vier Uhr war der Gang durch die Straßen beendet.

Auf dem Wege nach Tobi, wo die Hinrichtung stattfinden sollte, nahm Schimidso Sedschi seine letzte Mahlzeit ein. Er schien ausgehungert und aß begierig alles, was man ihm gab. Er trank auch mit sichtlichem Behagen mehrere Gläser warmen japanischen Branntweins (Sakki) und unterhielt sich ungezwungen mit dem ihn bedienenden Henkersknechte.

Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, war es bereits dunkel geworden, und als er in Tobi anlangte, herrschte finstere Nacht. Es war auch empfindlich kalt geworden. Man zündete Feuer und Fackeln an. Einige Soldaten der Wache hoben Sedschi vom Pferde und lockerten seine Bande. Er rieb sich Arme und Beine, die durch Kälte und Bewegungslosigkeit steif geworden waren, und näherte sich langsam einem der Feuer. Dort blieb er einige Minuten stehen und starrte, in tiefes Nachdenken versunken, regungslos in die flackernde rote Flamme. Dann stieß er einen tiefen, lauten Seufzer aus, und sich nachlässig umwendend, fragte er einen der ihm nahestehenden Soldaten, wie spät es sei.

»Sieben Uhr,« gab man ihm zur Antwort.

»Sieben Uhr,« wiederholte er bedächtig. »Man hatte mir in Yeddo versprochen, daß um vier Uhr alles vorbei sein würde. Es ist kalt, mich friert; weshalb läßt man mich so lange warten?«

Wir hatten uns Platz in der unmittelbaren Nähe des verurteilten Mannes zu verschaffen gewußt. Ich konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Ich sah jede seiner Bewegungen und hörte jedes seiner Worte. Er ließ sich schwerfällig vor dem Feuer nieder und verlangte eine Tasse heißen Tee, die man ihm auch reichte. Er bemühte sich augenscheinlich, ruhig und unbekümmert zu erscheinen: er wandte den Kopf nach rechts und links, als beschäftige ihn der Anblick der stummen Menge, die ihn umringte. Bisweilen jedoch unterlag er in dem Kampfe gegen seine natürlichen Gefühle. Wie ein Schleier zog es dann über das dunkle Gesicht, der Blick wurde starr, und ein Ausdruck unbeschreiblichen Entsetzens lagerte sich über die abgemagerten Züge. Aber diese Augenblicke der Schwäche waren selten und kurz. Man konnte sehen, wie der starke Wille wieder Herr des Fleisches wurde. Dann richtete sich Sedschi in die Höhe, warf den Kopf trotzig zurück, und sein herausfordernder Blick hatte einen furchtlosen, bösen Ausdruck. Seine Absicht, angesichts seiner Feinde ohne Schwäche zu sterben, war dann so deutlich in allen seinen Zügen zu lesen, daß es mir schien, als hörte ich ihn sich selbst Mut zurufen.

Meine Aufmerksamkeit wurde plötzlich von Schimidso abgelenkt. In der Ferne klang das wohlbekannte Rufen, womit die Bettos, die vor den Pferden der japanischen Offiziere laufen, die Ankunft ihrer Herren anzeigen und ihnen freien Weg bahnen. Es näherte sich, und bald konnte man die großen Laternen des Gouverneurs von Yokohama erkennen, die, von den Bettos getragen, über den Boden zu fliegen schienen.

»Der Gouverneur, der Gouverneur!« tönte es von allen Seiten. Ein Soldat legte die Hand auf Schimidsos Schulter: »Mache dich bereit,« sagte er. – Kein Muskel bewegte sich in des verurteilten Angesicht: »Saïo« (in der Tat) war seine einzige Antwort. – Er stand ruhig auf und schaute spähend nach dem andern Ende des Richtplatzes, wo die Pferde des Gouverneurs und der Leibwache halt gemacht hatten. Ein Unterbeamter kam dahergelaufen und sprach leise mit den wachthabenden Soldaten.

»Die Hinrichtung ist auf morgen verschoben,« hieß es plötzlich. »Sir Rutherford Alcock verlangt, daß das 20. Regiment derselben beiwohne.« Und so war es. – Als Schimidso diese Mitteilung gemacht wurde, schien er zusammenzuschrecken, und das bleiche Gesicht wurde noch bleicher. »Morgen, morgen,« (mionitschi, mionitschi) wiederholte er. Dann ließ er sich ruhig nach dem Tragstuhl führen, in dem er nach dem Gefängnis zurückgebracht werden sollte, und dort verlor ich ihn während der Nacht aus den Augen.


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