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Aus dem Dämmer der Erinnerung taucht das Bild Hans Littens wieder vor mir auf und nimmt Gestalt an.
Ich sah ihn das erste Mal in einer Versammlung der Liga für Menschenrechte, in der ich über eine Mißhandlung oder Vernachlässigung von Fürsorgezöglingen gesprochen hatte. In der Diskussion sprach aus dem Saal heraus auch ein junger Mensch, den ich für einen Schüler hielt. Daß ein Halbwüchsiger sich in einer öffentlichen Versammlung, zumal da es um das Schicksal Jugendlicher ging, äußerte, wäre damals nicht unmöglich gewesen. Der Sprecher hatte einen auffallenden Kopf, ein glattes Gesicht, eine randlose Brille vor den runden hellen Augen. Er trug das Hemd am Halse offen und kurze Hosen, unter denen die Knie nackt waren. Seine Argumentation schien mir klug, aber auch altklug, mit einer etwas kindlichen Überlegenheit vorgebracht. Was er sagte, entsprach der radikalen These der Jugendbewegung: daß die Jugend ein Recht auf ihr eigenes Leben, auf Selbstbestimmung habe und daß wir Erwachsenen, auch wenn wir, wie hier, die Rechte Jugendlicher verteidigten, kein Recht auf Einmischung hätten.
Meine Antwort muß wohl etwas väterlich geklungen haben. Denn nach dem Schluß der Debatte sagte einer meiner Freunde lachend zu mir: »Wissen Sie, wer der ›Junge‹ war? … Der Assessor Litten.«
Assessor, das bedeutete: ein Jurist, der ein jahrelanges Studium und eine jahrelange Vorbereitungszeit einschließlich verschiedener Examina hinter sich hat, der jeden Tag Richter oder Anwalt werden kann, der, ist er auch noch so fleißig gewesen, die Mitte der Zwanziger erreicht haben muß und also kein Kind mehr ist.
Als ich Hans Litten das nächste Mal sah, trug er die schwarze Anwaltsrobe und verteidigte in einem politischen Prozeß. Das Gesicht war auch jetzt kindlich, rein und klar blickten die lichtgrauen Augen durch die Brillengläser, und es war dem ersten Blick erkennbar, daß er, obwohl ein Erwachsener, bei weitem der jüngste unter den anwesenden Verwaltern der Justiz war. Wer aber auch nur kurze Zeit beobachtete, der sah, daß der junge Jurist sich von dem überlegenen Alter der anderen nicht beeindrucken ließ. Er gab keines seiner Rechte, auch das kleinste, nicht auf. Seine Art, zu befragen, war ruhig und gemessen, dabei sehr eingehend, lieber wiederholte er denselben Sinn in anderen Worten, als daß er irgendeine Einzelheit im dunkeln ließ. Man kennt die Art kontinentaler Richter: sie sind stets darauf bedacht, den Fortgang des Prozesses zu fördern, zu Ende zu kommen; nur zu leicht geschieht es, daß sie die Anwälte hemmen, ihr Verhör abzukürzen versuchen. Das war schwierig mit diesem gründlichen Verteidiger, der offenbar unbegrenzte Zeit und unbegrenzte Geduld hatte und auch Geringfügiges wichtig nahm, wenn es im Interesse seines Mandanten zu liegen schien. Schwer war es auch, ihn vom Wort abzudrängen, weil er ein vorzüglicher Kenner des Prozeßrechts war, und so hieß es oft für die anderen Beteiligten, sich in Geduld zu fassen.
Es gab damals in Moabit, in dem häßlichen roten Berliner Strafjustizhaus – beileibe kein »Palast«, wie in lateinischen Hauptstädten – einen Typus Verteidiger, der Mängel seiner Sache oder auch seiner Person durch Erregtheit, auch durch Stimmaufwand, auszugleichen versuchte; dieser Typus war besonders unter den Anwälten vertreten, die zur äußersten Linken oder zur äußersten Rechten zählten. Von ihnen unterschied sich Litten deutlich, ja auffallend. Er war hier so radikal, wie er in jener Versammlung bei der Vertretung der Jugendrechte gewesen war; aber sein Radikalismus zeigte sich nicht in den äußeren Mitteln. Er trat zutage in der Formulierung von Fragen und Beweisanträgen, die gelegentlich scheinbar Entferntes, ja den ganzen Staatsaufbau umfaßten, wo die Verhandlung nur um eine Straßenrauferei zu gehen schien; und er erwies sich in jener Gründlichkeit, die auch den scheinbar gleichgültigen Punkt ins Licht zog. Beides, wie wir sehen werden, hat dazu beigetragen, den Rechtsanwalt Litten ins Verderben und in den Tod zu führen.
Die Straßenraufereien, die damals den Strafgerichten von Moabit Beschäftigung gaben, hatten allerdings, das war unverkennbar, nicht wenig mit dem Staat und mit der Staatsform zu tun. Deutschland war in eine revolutionäre, präziser gesagt: in eine konterrevolutionäre Periode eingetreten. Gegen Ende des Jahres 1929 hatten starke Mächte im Hintergrund des politischen Theaters beschlossen, das Schicksal Deutschlands von Grund aus zu ändern. Sie meinten, man habe nun lange genug Demokratie und Erfüllungspolitik spielen lassen, ein neues Programm sei fällig. Dies Programm enthielt als Hauptpunkte: das Ende des Vertrags von Versailles, keine Reparationszahlungen mehr und ein starkes Heer, nicht nur die hunderttausend Mann. Dazu aber zunächst: Diktatur an Stelle der Parlamentsregierung. Denn anders glaubte man so große Dinge und die größeren, die, wenn möglich, danach kommen sollten, nicht durchführen zu können. Um aber zur Diktatur zu gelangen, mußte das demokratische Regime diskreditiert werden, denn aus heiterem Himmel kann man keinen Staatsstreich führen, dazu gehört Sturm und Wolkenbruch. Dazu aber und zugleich, um die Reparationen loszuwerden – das traf sich glücklich –, mußte Hunger und Elend herrschen, statt der Sattheit.
Eine gewisse Rolle in dem großen Drama war der Nationalsozialistischen Partei zugedacht. Das war eine kleine Gruppe von Schreiern und Raufern, die einen fanatischen und brutalen Nationalismus predigte, bisher aber ein wenig beachtetes Dasein gespielt hatte; bei den letzten Reichstagswahlen, im Mai 1928, hatte sie es, trotz allem Bemühen zum Lärmmachen, nur auf zwölf Abgeordnete gebracht. Dieser übel beleumdeten Gruppe leiteten nun die Drahtzieher reiche Geldunterstützungen zu. Die Elends- oder Deflationspolitik aber lieferte ihr, indem sie Massenarbeitslosigkeit produzierte, die Anhänger. Allerdings ging es den Pläneschmieden mit den nationalsozialistischen Ruffianen schließlich wie dem Zauberlehrling mit dem Besen: sie schafften viel mehr als sie sollten. Es ging aber doch alles in der gewünschten Richtung voran. Als erster Schritt auf dem Weg zum Staatsstreich wurde der Reichstag aufgelöst. Bei den Wahlen im September 1930 kamen hundertundsieben Nationalsozialisten ins Parlament. Zugleich schossen überall nationalsozialistische Zeitungen aus dem Boden. Und die Parteitruppe, die immer schon, wenn auch sehr verborgen, existiert hatte, wurde zur Parteiarmee. Plötzlich waren überall die Braunhemden, marschierten, lärmten, provozierten und griffen an. Dadurch, und aus den allgemeinen Gründen der künstlich hergestellten Verwirrung, traten auch die Gegenkräfte hervor: Sozialisten und Kommunisten sahen die Gefahr und waren gezwungen, sich der Technik der Angreifer anzupassen. Denn mindestens strategisch, also dem allgemeinen Zug nach, waren die Nationalsozialisten die Angreifer. Wenn einmal aber ihre Gegner in der Taktik des Alltags zum Angriff schritten, so war das den Nazi um so lieber: ihre Zeitungen konnten dann über »Rotmord« zetern.
So kam es also, daß die drei Jahre bis zum Beginn der Despotie im März 1933 von einem Bürger-Kleinkrieg erfüllt waren, der die allgemeine Verwirrung steigerte. Täglich fanden Überfälle statt, Straßenkämpfe, Schießereien, nicht selten Morde. Die juristische Liquidation wurde dann in Moabit unternommen; nicht immer mit großem Erfolg, wie man leider sagen muß. Es waren zwei Hauptgründe, warum Verfahren und Urteil nur selten befriedigen konnten: erstens fing die große Wendung an, ihre Wirkung auch unter den Moabiter Richtern und Staatsanwälten zu tun, die sich bisher meist um Unparteilichkeit bemüht hatten; zweitens aber sank die Bedeutung des Eides, je mehr die Parteileidenschaft im Kurse stieg. Auf der Unvoreingenommenheit der Richter und der Glaubwürdigkeit der Zeugen beruht aber hauptsächlich Wert und Würde der Rechtsprechung.
In diese Welt des Kampfes und der moralischen Abstumpfung trat Hans Litten, ein junger Mensch, klug, aber ohne Arg, zwischen Parteitrompetern und Intriganten eine anima Candida, vor allem aber erfüllt von der übermächtigen Sucht, Unrecht zu hindern, Bedrohte zu retten, die Beleidigten und Erniedrigten zu erheben; ein Mensch, der sich gelegentlich »revolutionärer Marxist« nannte, »weit links von der Kommunistischen Partei«, der aber seinem inneren Wesen nach einfach ein Christ war, so unerbittlich in seinem Christentum, daß er buchstäblich nach der Bergpredigt leben wollte, seinen Nächsten lieben, selbst seinem Feind gerecht werden und ihm verzeihen. Wo er seinen Stand haben mußte, das war selbstverständlich, wie die Verteilung der Kräfte nun einmal war: links, da doch von rechts, und mit allen Mitteln, angegriffen wurde. Aber auch, daß er zu Schaden kommen mußte, war unvermeidlich.
Der Rechtsanwalt Litten trat in den politischen Prozessen entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten, das heißt der Verwundeten oder der Witwen und Waisen von Getöteten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank saßen. Das letztere war eine besonders wichtige Aufgabe, aus einem Grunde, der wieder mit der politischen Situation zusammenhing. Wie ich schon gesagt habe, begannen auch die beamteten Juristen in Moabit dem Druck von rechts zu weichen. Woran man ja sonst überall im Reich während der ganzen republikanischen Zeit gewöhnt war, das trat auch hier ein: man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, daß das Recht ohne Rücksicht auf die Partei angewendet wurde. Waren Linke angeklagt, so war die Verfolgung unnachsichtlich; sollten sich aber Nationalsozialisten verantworten, so schien die Untersuchung nicht immer lückenlos, manchmal war es, als ob die Staatsanwaltschaft mehr im Interesse der Täter handle als der von der Tat Getroffenen, als ob sie mit der Verteidigung im Bunde sei. Unerklärlich war das schließlich nicht; die Beamten dachten an ihre Zukunft, und die Zukunft gehörte offenbar irgendeiner Art der nationalistischen Reaktion, vielleicht sogar den Nazi selbst.
Litten hatte Erfolg. Der heilige Eifer, den er der Sache widmete, der unermüdliche Ernst, mit dem er sich seiner Aufgabe unterzog, die Ausschließlichkeit, mit der er Zeit und Arbeitskraft opferte – so außerordentliche Anstrengungen machten sich bezahlt. Nicht allerdings im materiellen Sinn; meist verdiente er kaum genug, um sein Büro laufend zu erhalten. Aber juristisch für die Wahrheitsfindung lohnte der Eifer sich. Einmal wurde eine Gruppe von Kommunisten freigesprochen, weil es gelang, nachzuweisen, daß sie überfallen worden waren und in gerechter Verteidigung gehandelt hatten. Ein anderes Mal wurden Nationalsozialisten, ein sogenannter »SA-Sturm«, verurteilt, die einen politischen Gegner getötet hatten.
Litten zog sich schon durch seine forensischen Erfolge die Aufmerksamkeit und Abneigung der Nationalsozialisten zu, auch die seiner nationalsozialistischen Kollegen. Die Abneigung sollte sich zum Haß steigern durch einen folgenschweren Zwischenfall: Hitler wurde in Moabit als Zeuge vernommen. Rechtsanwalt Litten wollte nachweisen – auch hier als Vertreter der durch Nazi-Terror Geschädigten –, daß die Partei selbst Gewalttätigkeiten ihrer Mitglieder dulde, ja sie hervorrufe. Darum wurde der Parteiführer selbst geladen.
Hitler hat schwerlich jemals den Plan gehabt, den Staat geradezu und direkt anzugreifen. Auch sein Putsch von 1923, der sogenannte Bürgerbräu-Putsch, war ja ein Versuch gewesen, Teile der Staatsmacht zu verführen und mit ihrer Hilfe das demokratische Regime zu überwältigen. Sein Gefühl für materielle Macht ist immer sehr empfindlich gewesen. Auch 1923 kam es ihm darauf an, die Verwalter der bewaffneten Macht, damals der bayerischen, »mit sich zu reißen«. Erst als das mißlungen war, ließ er sich andern Tags dazu verleiten, die Polizei herauszufordern, und zwar bestimmte ihn General Ludendorff dazu, der der Überzeugung lebte, kein Deutscher in Uniform könne auf ihn, auf den »Feldherrn«, schießen. Als dann doch geschossen wurde und Hitler auf allen Vieren aus dem Getümmel weggekrochen war, trug er einen tiefen Eindruck davon. Nie hat er sich seither wieder freiwillig in Lebensgefahr begeben. Er war also kein Revolutionär im Vulgärsinn. Andererseits aber war es gerade das, was er wenigstens einem Teil seiner Anhänger, den desperaten Arbeitslosen und den brutalen Straßenschlägern, vorspiegelte. Hätten sie gewußt, daß sie nur eine untergeordnete Rolle in einem feinen Spiel spielten, daß sie nur den Vorwand für den Staatsstreich, für die von oben ins Werk gesetzte Revolution, liefern sollten, so hätten sich gerade die ehrlichen Fanatiker unter ihnen mit Abscheu von dem »Führer« abgewendet. Einige von ihnen hatten das soeben, Frühjahr 1931, getan, weil sie den Glauben verloren hatten.
Hitler hatte also eine schwere Aufgabe. Um sich einem immer noch möglichen Zugriff des Staates zu entziehen, aber auch, um das Gewissen des Reichspräsidenten von Hindenburg zu schonen, mußte er laut versichern, er wolle sich in seinem politischen Kampf nur verfassungsmäßiger Mittel bedienen. Andererseits mußte er die Beteuerungen so halten, daß sie von der SA, von den »rauhen Kämpfern«, für Schwindel, für einen wohlgelungenen Betrug an den großbürgerlichen Geldgebern gehalten wurden. Keine Kleinigkeit, so kompliziert zu lügen. (»Glaubt ihm nicht! Er spricht die Wahrheit«, schrieb ich damals, jene warnend, im Berliner Tageblatt.) Da die schwierige Aufgabe aber unerläßlich war, übrigens dem Talent des gewandten Mannes ganz angemessen, so unternahm er es, sogenannte »Legalitätseide« zu schwören. Er hatte vor kurzem in einem Prozeß in Schweidnitz geschworen; dann den großen, prächtigen, berühmten Eid vor dem Reichsgericht in Leipzig. Und nun wiederholte er sein Auftreten in Moabit. Um das vorwegzunehmen: es gelang ihm auch hier nicht übel. Mit einer Mischung von patriotischem Pathos und sophistischer Dialektik und mit der vollkommenen Verachtung der Realität, die ihm eigen ist, zog er sich aus der Affaire.
Litten hatte ihm aber doch gehörig zugesetzt. Es ging nicht so leicht ab wie in Leipzig, wo ihm die Reichsrichter einfach die Stichworte zu einer Propagandarede geliefert hatten. Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand, – »die Gegner zu Brei zerstampfen«, »von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen«, und anderes mehr, – er vernahm den prominenten Zeugen mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paarmal wütend und ließ ihn zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgend jemand im Saal eine Ahnung hatte, daß er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte? Ich glaube, keiner von uns vermochte so weit zu blicken.
Das war 1931. Litten wurde jetzt immer öfter der Gegenstand von nationalsozialistischen Presseangriffen. Aber man verfolgte ihn auch mit Denunziationen bei der Anwaltskammer, ein altes und manchmal bewährtes Mittel, um sich eines gefürchteten forensischen Gegners zu entledigen. Jedoch versagte das Mittel hier. Der Referent der Kammer kam selbst, Litten in seiner Tätigkeit im Gerichtssaal zu beobachten; er fand, daß der junge Verteidiger im Interesse seiner Mandanten und im Einklang mit dem Gesetz handelte. Ein unangenehmer Gegner, ja das war er, aber er hielt es nicht für seine Aufgabe, angenehm zu sein; opportunistisch wollte er und konnte er nicht handeln.
Der Staatsstreich ging in Etappen vor sich. Wohl das wichtigste Teilstück war die Aktion vom 20. Juli 1932, als der Reichskanzler von Papen mit einer verfassungswidrigen Notverordnung des Reichspräsidenten, aber auch, was mehr bedeutete, mit Reichswehrsoldaten die verfassungsmäßige Regierung des Landes Preußen aus dem Amt jagte, weil in ihr noch immer Sozialdemokraten Minister waren. Wen vertrat eigentlich jetzt der Staatsanwalt, mit dem Litten, diesmal wieder Verteidiger, gerade in langdauerndem erbittertem Streit lag? Das, verlangte Litten, sollte in einer amtlichen Erklärung und durch Vernehmung der Nächstbeteiligten aufgehellt werden, und er wollte, daß auch der Reichspräsident, Generalfeldmarschall von Hindenburg, darüber gehört werde. Man mag sich vorstellen, wie wenig solche Anträge dazu beitrugen, die Beliebtheit des Rechtsanwalts Litten zu vermehren. Zwar war es richtig, daß der Verfassungsbruch, den auch der »ehrwürdige« Nationalheld gefördert hatte, allem Gericht die Rechtsgrundlage unter den Füßen wegzog. Aber sollten die Richter, da sie entschlossen waren, um dem Gehalt weiter zu dienen, vielleicht mit Vergnügen hören, daß das im Gerichtssaal ausgesprochen wurde?
Kann man einen Unbequemen nicht um deswillen beseitigen, was ihn unbequem macht, so sucht man nach Nebensächlichem, womit man ihm eine Falle stellen kann. Littens Erfolge beruhten auch darauf, daß er mit größerem Zeitaufwand, als sonst Anwälte sich erlauben, Erhebungen auf eigene Faust anstellte. Es war unvermeidlich, daß er dabei mit Menschen von geringem bürgerlichen Ansehen, mit Psychopathen, unsicheren Gesellen in Berührung kam. Einer von denen fand sich, der einmal und noch einmal seine Meinung änderte und dann Litten beschuldigte, er habe ihn zu einer falschen Aussage bestimmen wollen. Zwar glaubte das niemand, aber das Gericht beschloß, der Rechtsanwalt Litten sei der Begünstigung verdächtig und er sei von der Verteidigung auszuschließen. Ein solcher Beschluß war noch nicht erhört. Einen Augenblick schien es, als wolle sich die ganze Anwaltschaft vor Litten stellen, seine Sache zu der ihren machen. Auch das Kammergericht besann sich einer besseren Vergangenheit und hob den Beschluß auf. Als aber darauf das untere Gericht – wieder ein sehr ungewöhnlicher Schritt – sich selbst für befangen erklärte, die Verhandlung, die bereits vier Monate gewährt hatte, von neuem begonnen werden mußte und auch das neue Gericht wieder Litten von der Verteidigung ausschloß, wich das Kammergericht zurück und bestätigte den schweren Eingriff in die Rechte der Anwaltschaft. Es war der Herbst des Jahres 1932. Abend lag über der deutschen Republik, und das Ende aller Freiheiten und Rechte dämmerte herein.
Dieser letzte große Prozeß, in dem Litten tätig war, ging um einen Überfall, den Nationalsozialisten auf die Kolonie »Felsenecke« unternommen hatten und dem Kommunisten entgegengetreten waren. In dem Getümmel war ein Nationalsozialist namens Schwartz zu Tode gekommen. Wer den Streich gegen ihn geführt hatte, war nicht zu ermitteln gewesen. Als dann Hitler regierte, griffen die Behörden, von neuem Geist beseelt, viele der blutigen Vorfälle der Bürger-Guerilla wieder auf, stellten neue Erhebungen an, verurteilten Kommunisten und Sozialisten, die mit einer Gefängnisstrafe weggekommen waren, zum Tode, sperrten andere ein, die vorher für unschuldig befunden worden waren; die Nazi-Bürgerkrieger waren seither gebührend geehrt worden und fungierten jetzt als klassische Zeugen. Im Verlauf der Wiederaufnahme des Felsenecke-Prozesses wollte man von Litten, nun Insasse eines Konzentrationslagers, erfahren, wer eigentlich jenen Schwartz vom Leben zum Tode gebracht hatte. Das wußte er wahrscheinlich nicht, wollte es aber jedenfalls, treu seiner Anwaltspflicht, nicht sagen. Darum wurde die Tortur gegen ihn angewendet, und er versuchte Selbstmord, um sich selbst den Mund zu verschließen.
Auf der Höhe seiner Moabiter Tätigkeit habe ich Litten einmal zugeredet, er möge weniger intransigent sein, es manchmal billiger geben und nicht immer alles auf die Spitze treiben; wir würden ihn sonst nicht lange in Moabit behalten und könnten ihn doch gut brauchen. Er hat erwidert, er sei überzeugt, es werde ohnehin nicht lange mehr mit unserem Rechtswesen dauern, schon deshalb sehe er keinen Grund zu Konzessionen. Ich muß gestehen, er sah die kommenden Dinge genauer als ich.
Hans Litten war ein franziskanischer Mensch, und da er einmal in die Juristerei verschlagen war, so stand er fürs Recht, unnachsichtlich, nicht für billigen Vergleich, nicht für Kompromisse. Das Recht ist immer die Sache der Schwachen; die Starken brauchen kein Recht, und nur zu sehr sind sie geneigt, da sie ja die Macht haben, ohne Recht auszukommen.
Der franziskanische Mensch Hans Litten wäre vielleicht unangefochten durch die republikanische Periode und ins Dritte Reich gewandert, hätte ihn nicht sein Beruf zum Kämpfer ums Recht gemacht. So aber kam er, unvermeidlich, wie ich sagte, in Konflikt mit den durch Rechtsbruch Heraufsteigenden wie mit den offiziellen Rechtswahrern, als sie anfingen, weich gegen die Rechtsbrecher zu werden und sich also gegen Rechtskämpfer verhärten mußten. Gefängnis, Tortur und Tod hat er fürs Recht erlitten. Er ward, schon im dämmernden Morgen nach dem Reichstagsbrand, verhaftet.
Frau Litten berichtet, wie man lesen wird, von dem Versuch eines nationalsozialistischen Ministers, eine Milderung des Schicksals ihres Sohnes zu erreichen: »Hitler lief blaurot im Gesicht an, als er den Namen hörte.« Da war es also klar, daß das Gefängnis lebenslang war. Warum? Weil der Rechtsanwalt Litten, seiner Pflicht getreu, nicht nur läßlich, Herrn Hitler verhört hatte. Und der Tortur ward er unterworfen, weil er, ich möchte sagen: übermenschlich pflichttreu, die Anwaltspflicht des Geheimnisses noch wahrte, als schon die ganze Rechtsordnung, auf der solche Pflicht ruhte, im Abgrund der Nazi-Anarchie verschwunden war.
Viele Male wurde versucht, während Litten noch lebte, die Anwaltschaft fremder Länder für den außerordentlichen Fall zu erwärmen. (Von mehreren vergeblichen Versuchen könnte ich selbst, wollte ich bitter sein, erzählen.) Endlich gelang es doch, eine Anzahl von Namen von englischen Juristen unter ein Gesuch zu sammeln, von dem man in Frau Littens Bericht lesen wird. Ich muß gestehen, ich glaube nicht, daß man bis heute verstanden hat, was der Opfergang Hans Littens für uns, für die Juristen, bedeutet, – soll denn unser Beruf mehr sein, als eine bestimmte Methode der logischen Argumentation und als ein Gewerbe, nämlich der breite und feste Quader in der Grundlage abendländischer, christlicher Zivilisation.
Vielleicht wird das mehr verstanden werden, wenn man Frau Littens Bericht gelesen hat, den niemand ohne Erschütterung lesen wird. Und wenn er dazu beitragen wird, Entsetzen und Grauen vor Nazi-Deutschland zu erregen, so mag er auch dazu helfen, daß die Achtung nicht ganz verschwindet vor dem Volk, das eine solche Mutter und einen solchen Sohn hervorgebracht hat. Mich, wenn ich das noch sagen darf, hat das Lesen dieses Buches in dem Glauben gestärkt, daß Deutschland doch nicht verloren ist.
Rudolf Olden
(früher Rechtsanwalt beim Kammergericht)