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Hans' Bein besserte sich etwas. Er hatte sehr energisch Bewegungsübungen mit dem Knie gemacht und massiert, und er sagte einmal zu mir: »Der Arzt, der mich in Papenburg behandelt hat, würde nicht glauben, wie weit ich es mit meinem Knie durch energische Selbstbehandlung gebracht habe.«
Eine große Freude war es für mich, als Hans eines Tages zwei gerahmte Bilder, den Bamberger Reiter und die Uta aus dem Naumburger Dom und etwas Stoff verlangte, der anscheinend für eine kleine Tischdecke und für einen Fenstervorhang berechnet war.
Ich erfuhr durch entlassene Schutzhäftlinge, daß diejenigen Leute, die sich schon lange in Schutzhaft befanden, zu zweit in kleine Zellen gelegt worden waren, und daß sie sich dort so gemütlich einrichten durften, wie es der Platz erlaubte. Das war für Hans besonders angenehm, denn er konnte sich in der Freiheit auch manchmal in seine Zelle zurückziehen, um wissenschaftlich zu arbeiten.
Diese Freude war aber von kurzer Dauer. Hans schrieb mir etwa zwei Monate danach: »Ich schicke dir demnächst ein Paket mit all den überflüssigen Dingen, die ich hier habe, unter anderem die Stoffe und die Bilder sowie alle überflüssigen Bücher.« Er schrieb auch, ich solle ihm keine Bücher schicken, überhaupt nichts, was er nicht verlange.
Auch war er in eine andere Kompanie gekommen. Bei meinem nächsten Besuch machte er einen sehr viel weniger befriedigenden Eindruck. Was los war, konnte ich nicht herausbekommen, aber es war mir klar, daß eine ganz andere Atmosphäre herrschte.
Wir standen direkt vor den Wahlen, und ich flüsterte ihm während des Gespräches zu: »Wähle mit Ja.« Er sah mich an, als ob ich den größten Blödsinn von der Welt von ihm verlangte, und sowie sich wiederum die Gelegenheit zu einem Flüstern bot, sagte ich: »Du muß mit ›Ja‹ wählen. Ich weiß Bescheid.«
Es fiel mir auf, daß Hans keinen Stock mehr benutzte. Er antwortete auf meine Frage, sein Bein sei so gut, daß er ihn nicht mehr brauche. Von entlassenen Schutzhäftlingen hörte ich aber, der Stock sei Hans vom Remmert fortgenommen worden. Hans habe das dem Lagerarzt gemeldet, da er den Stock noch dringend brauchte. Sein Knie war immerhin noch so steif, daß er beim Treppensteigen nur mit dem gesunden Bein die Stufe nahm und das steife dann nachzog. Der Arzt erklärte, er müsse sich erst beim Arzt des Hospitals in Papenburg nach dem Fall erkundigen, ehe er ihm wieder einen Stock verordnen könnte. Sein Brief mußte das Büro passieren und wurde dort einfach einbehalten. Daraufhin gab es der Lagerarzt auf, weitere Schritte zu tun, und Hans mußte sich eben ohne Stock behelfen.
Die nächsten Briefe von Hans ließen mich ahnen, daß alles im Lager schlechter geworden war. Auch war er von seinem nächsten Freund getrennt worden, um den er sich anscheinend große Sorgen machte.
Ich suchte mal wieder die ganze Stadt ab, ob nicht kürzlich jemand aus Lichtenburg entlassen worden sei, und hörte schließlich von einem Mann, der nach diesen Ereignissen herausgekommen war. Es war schwer, ihn zu erwischen. Denn er hatte furchtbare Angst, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Ich ging mehrmals an dem Geschäft vorbei, in dem seine Freundin angestellt war, traf sie aber nie an. Mein Kommen fiel schon auf. Schließlich gelang es mir durch eine rein zufällige Verbindung, ihn zu bewegen, zu mir zu kommen.
Er erzählte mir, er würde überwacht und müsse sehr vorsichtig sein, rede mit keinem Menschen ein Wort über das Lager, aber bei der Mutter von Hans Litten fühle er sich doch verpflichtet, von dieser Gepflogenheit abzugehen.
Er berichtete, Hans hätte gerade eine scheußliche Zahnbehandlung. Der Zahnarzt sei ein ganz ordentlicher Mann, wenn er auch nicht gerade sanft arbeite. Aber man müsse schon reichlich Geld haben, um von ihm behandelt zu werden. Käme ein Häftling mit sehr heftigen Zahnschmerzen zu ihm, so ließe er sich erst Geld zeigen. Hätte er kein Geld, so würde der Zahn herausgezogen. Dazu sei der Zahnarzt verpflichtet. Zu einer richtigen Zahnbehandlung nicht.
Mich interessierte natürlich vor allem, worauf die plötzliche Verschlechterung im Lager zurückzuführen war. Zunächst berichtete er, daß ein neuer Kommandant gekommen sei, der wesentlich schärfer wäre als der vorige. Außerdem hatte sich im Lager die Nummer einer illegalen Zeitschrift gefunden, zwar gänzlich belanglos, aber das Entdecken dieser Zeitschrift war der Grund für ein genaues Durchsuchen allen Hab und Gutes der Häftlinge. Alles, was nicht irgendwie zum Bau gehörte, mußte entfernt werden, so auch die Bilder an den Wänden, die Decken und Gardinen, selbst die Tapeten, mit denen sich einige ihre kleinen Räume tapeziert hatten, wurden abgerissen. Auch alle Bücher mußten abgeliefert werden.
Außerdem berichtete mein Besucher, daß bei der Volksabstimmung ein kleiner Teil der Leute sich verabredet und mit »Nein« gestimmt hatte. Man hatte aber die abgegebenen Stimmen kontrolliert und die »Nein«sager in eine Strafkompanie versetzt, in der sie furchtbar geschunden wurden.
Auch war Himmler im Lager gewesen und hatte angeordnet, daß alle diejenigen, die zum zweitenmal im Lager waren, in eine Spezialkompanie kämen, in der sie besonders schlecht behandelt wurden. So konnte Hans' Freund, der tatsächlich zum zweitenmal im Lager war, sowohl als Rückfälliger als auch als »Nein«sager in die Strafkompanie versetzt worden sein. Hans hatte überhaupt keinen Stimmzettel erhalten. Weshalb – darüber war nichts bekannt.
Ich beklagte mich bei Hauptmann Frodin, daß sich die Zustände im Lager verschlechtert hätten, daß auch mein Sohn einen sehr niedergedrückten Eindruck mache. Sein körperliches Befinden habe sich ebenfalls sichtlich verschlechtert.
Hauptmann Frodin gab zu, daß Verschärfungen im Lager eingetreten wären. Da seien eben ein paar Schweinehunde, die sich schlecht benommen hätten. So was zöge immer verschärfte Bestimmungen nach sich. Leider müßten dabei auch immer die Unschuldigen leiden, daran könne man nichts ändern. Ich solle meinem Sohn Mut zusprechen. Er versprach, mir zu diesem Zweck alle zwei Monate Besuchserlaubnis zu geben.
Bereits zweimal hatte ich nun nach zwei Monaten meine Besuche in Lichtenburg gemacht. Als ich das drittemal kam, um mir in dem zuständigen Zimmer die Bescheinigung für den Besuch ausstellen zu lassen, redete mich auf dem Flur ein Gestapobeamter an, mit dem ich zwar nichts direkt zu tun gehabt, den ich aber öfter gesehen hatte: »Frau Litten, Sie machen zu oft Besuche in Lichtenburg.«
Ich: »Natürlich mache ich so oft Besuche, wie ich die Erlaubnis dazu bekomme.«
Er: »Das äußerste, das es sonst gibt, ist jedes Vierteljahr eine Besuchserlaubnis. Hier unten wird schon gemeckert, daß Sie es viel öfter durchsetzen. Ich darf Ihnen darüber nichts sagen, und es darf auch niemand wissen, daß ich es Ihnen sage. Aber hören Sie auf mich und gehen Sie nicht öfter als jedes Vierteljahr hin.«
Ich: »Aber ich habe eben von Hauptmann Frodin das Versprechen bekommen, daß mein nächster Besuch an Weihnachten stattfinden darf, also schon in sieben Wochen. Das kann ich doch gar nicht mehr ändern.«
Er: »Hören Sie auf meinen Rat und gehen Sie erst nach einem Vierteljahr wieder hin.«
Ich hatte nicht die Absicht, mich nach seinem Rat zu richten, aber mein Mann riet mir, auf den Sekretär zu hören. Er wüßte vom Militär her, daß die untergeordneten Stellen oft mehr Einfluß hätten als die hohen. Jedenfalls könnten sie mich sehr schikanieren, wenn sie sich über mich ärgerten, und vor allem blieben sie viel länger in ihren Stellungen. Ein persönlicher Adjutant pflege nicht jahrelang zu bleiben. Das letztere leuchtete mir ein, und ich ging erst wieder nach einem Vierteljahr zur Gestapo. Als ich dann unten die Bescheinigung erhielt, bemerkte ich, daß nur eine dreiviertel Stunde für den Besuch vorgesehen war, während mir die letzten beiden Jahre immer eine ganze Stunde bewilligt worden war. Ich beschwerte mich bei dem Kommissar und behauptete, ich hätte ein Anrecht auf eine Stunde. Er sagte: »Ein Anrecht haben Sie auf überhaupt nichts, und wenn Sie alle acht Wochen Besuche machen, so kann es Ihnen mal passieren, daß Sie überhaupt keine Besuchserlaubnis mehr bekommen.« (Das war also der Meckerer, vor dem mich der Sekretär gewarnt hatte.) Ich war nun sehr froh, ihm sagen zu können: »Das muß sich um ein Mißverständnis handeln. Ich komme jedes Vierteljahr, nur die beiden letzten Male war ich aus besonderen Gründen nach zwei Monaten dort. Bitte prüfen Sie in Ihren Akten nach, ob meine Angaben richtig sind.« Er mußte (anscheinend zu seinem Bedauern) feststellen, daß es stimmte. Aber es blieb diesmal und für alle späteren Besuche bei einer dreiviertel Stunde. Und er setzte mir noch auseinander, daß er eigentlich nicht einsehe, weshalb ich nicht wie alle anderen Leute mit einer Viertelstunde zufrieden wäre. Da mußte ich mich also noch bei ihm bedanken, daß er nicht wieder auf eine Viertelstunde zurückging.
Als ich nach einem Vierteljahr wieder anrief, war Hauptmann Frodin nicht mehr bei der Gestapo, und man verwies mich an einen Assessor Berndorfer, der mir jede Besuchserlaubnis abschlug.
Darauf wandte ich mich an einen Adjutanten Himmlers, an Hauptmann Suchannek, der mich von da an jedesmal empfing, wenn ich ihn anrief, aber prinzipiell nur auf dem Flur. Vielleicht um auf diese Weise jeder eingehenderen Unterhaltung aus dem Wege zu gehen. Das hinderte mich aber gar nicht daran, ihm meinen Fall ausführlich auseinanderzusetzen.
Ich sagte ihm: »Herr Hauptmann Frodin war sehr erfreut, daß ich – ohne dazu aufgefordert worden zu sein – falsche Nachrichten in England über meinen Sohn richtiggestellt habe, und hat mir daraufhin versprochen, daß ich meinen Sohn jedes Vierteljahr besuchen dürfe. Ich sehe ein Wort, das ein Offizier gibt, als ein Ehrenwort an, und da Herr Hauptmann Frodin nicht mehr in der Lage ist, sein Ehrenwort einzulösen, so halte ich es für selbstverständlich, daß Sie, an seiner Statt, sich dazu verpflichtet fühlen.« Er gab mir daraufhin auch sein Wort, daß ich jedes Vierteljahr meinen Besuch machen dürfe, warnte mich aber davor, die geringste Unvorsichtigkeit zu begehen. Denn dann müsse er mir die Besuchserlaubnis ein für allemal entziehen.
Er schickte mich zu Herrn Berndorfer, an den ich mich in Zukunft immer wenden sollte.
Herr Berndorfer war sichtlich erstaunt, als er den Befehl von Suchannek erhielt, mir die Besuchserlaubnis zu geben, ließ mich in sein Zimmer kommen und verwickelte mich in ein Gespräch. Er entließ mich ziemlich huldvoll. Ich hatte den Eindruck, Gnade vor seinen Augen gefunden zu haben. Denselben Eindruck schien mein unbekannter Warner zu haben, der sich gerade im Zimmer befand. Wenigstens warf er mir immer wieder befriedigte Blicke zu und brachte mich höflich bis an die Tür.
Von nun an ging es wieder glatt mit der Besuchserlaubnis, die mir jedesmal von Herrn Berndorfer persönlich erteilt wurde.
*
Von der ersten Verschlechterung an begann ich wieder stärker mit dem Ausland zu arbeiten. Ich gab Nachrichten über jede Veränderung heraus. Ich sorgte dafür, daß keine falschen Gerüchte aufkommen konnten, daß aber jede Verschlechterung bekannt wurde, und daß man sich nicht zufrieden gab mit dem Gedanken, daß es immer weiter so gut wie in dem einen Jahr unter Reich geblieben sei. Diese Arbeit war nicht leicht. Ich durfte mich natürlich unter keinen Umständen herausstellen, ich mußte immer die loyale Frau bleiben, als die ich mich auf der Gestapo aufspielte. Hätte man mir irgend etwas nachweisen können, so hätte es mich nicht nur die Freiheit gekostet, sondern auch Hans wäre damit völlig von der Außenwelt abgeschnitten worden.
Immer wieder mußte Heinz ins Ausland fahren, sei es nach Holland, sei es nach Prag, um von dort aus wieder mal zu versuchen, das Weltgewissen wachzurufen. Es war eine gefährliche Arbeit für ihn, aber er hat niemals daran gedacht, eine Gefahr zu scheuen, wenn es sich um seinen Bruder handelte.
Man bot uns verschiedentlich große Aktionen an, etwa in der Art, wie die für Ossietzky. Wir standen aber auf dem Standpunkt, daß man vorsichtig sein und nichts Aufreizendes tun sollte, solange die Situation erträglich war. Selbstverständlich wurde weiter für Artikel in ausländischen Zeitungen von Bedeutung gesorgt. Selbstverständlich wurden prominente und einflußreiche Leute, auf die man in Deutschland Wert legte, mit der Sache befaßt. Es hätte genügt, ein Wort herauszugeben, um eine große Aktion zu entfesseln. Es war für alles Vorbereitung getroffen, nur schien uns dafür der Zeitpunkt noch nicht der richtige zu sein.
Erst jetzt habe ich erfahren, wie gefahrvoll die vielen Reisen waren, die Heinz dafür unternehmen mußte, und wie seine Freunde im Ausland ihn bei jedem Besuch beschworen, draußen zu bleiben. Sie befürchteten jedesmal seine Verhaftung nach seiner Rückkehr. Aber selbst wenn ich es gewußt hätte, ich hätte ihn fahren lassen. Wir standen wie unter einem Zwang: Hans mußte geholfen werden, ganz gleich, was aus uns wurde. Und mich beschwerte dabei nicht einmal der Gedanke (was an sich wirklich meiner Natur widerstrebt), daß ich alles Gefahrvolle auf Heinz abwälzte. Denn es war klar: ich hatte in Berlin die wichtigere Arbeit zu leisten, die mir niemand abnehmen konnte. Und für Hans war es schlimmer, wenn ich eingesperrt wurde.