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8. Kapitel.
Papenburg: KZ-Lazarett und Marien-Hospital

Endlich, am 1. Februar 1934, erhielt ich eine Nachricht von Hans, er sei nach Esterwegen transportiert worden. Eine Bemerkung in dem Briefe machte mich unruhig:

»Die Arbeit hier im Moor ist ungeheuer anstrengend, ich habe aber nach den anderthalb Wochen, die ich hier bin, den Eindruck, daß ich sie mit den Muskeln schaffe. Wie lange allerdings das Herz durchhält, weiß ich nicht. (Bitte schicke mir im nächsten Paket wieder mein Mittel gegen Herzkrämpfe.) Ein Trost ist für mich, daß ich den Sinn der Arbeit bejahe (Moorkultur) und vor allen Dingen die wunderschöne Landschaft: ganz weite Ebene, fast ohne Baum, unbegrenzter Blick nach allen Seiten. Das wirkt auf die meisten niederdrückend. Aber du weißt ja, wie ich gerade solche Ebenen liebe. – Es erinnert stark an unsere ostpreußischen Ebenen. – Zum geistigen Arbeiten komme ich natürlich gar nicht, weil ich viel zu müde bin. Höchstens lese ich abends ein paar Zeilen Hölderlin oder Shakespeare.«

Ich bat Dr. Conrady sofort wieder um Besuchserlaubnis. Er fand meine Idee, daß ich bis Esterwegen fahren wollte, anscheinend sehr komisch und hatte keine rechte Lust, mir die Besuchserlaubnis zu geben, die für dort ziemlich unüblich zu sein schien. Ich nahm ihn aber bei seinem Wort: »Sowie die Untersuchung zu Ende ist, dürfen Sie wieder mit Ihrem Sohn in Verbindung treten.« So setzte ich schließlich die Erlaubnis durch.

Ich kam in Papenburg gerade noch am Abend, kurz vor Schluß der Bürostunden, an. Der Beamte der Kommandantur – anscheinend ein Polizeibeamter – war sehr reizend zu mir, erklärte, daß ich eine weite Autofahrt machen müsse, daß er mir aber das Auto besorgen wolle, weil es dann billiger würde und daß er mich begleiten wolle. Ich meinte, es wäre doch schade um seine kostbare Zeit, ich könne doch alleine fahren, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Er beriet mich noch väterlich, wo ich wohnen solle. Ich solle ja ein geheiztes Zimmer nehmen, hier wäre es kalt und nebelig. Kurz und gut, es herrschte eine liebenswürdige Atmosphäre.

Als ich ihn am anderen Morgen abholte, hatte er bereits mit dem Lager telefoniert und dabei erfahren, daß mein Sohn einen kleinen Unfall gehabt habe. Das wäre ja aber ganz günstig, so brauche er nicht erst von der Arbeit hereingeholt zu werden, und ich könne ihn sofort sprechen.

Wir unterhielten uns während der ganzen Fahrt sehr freundlich miteinander. Ich hatte Bedenken, ob man mein schönes Paket mit Eßwaren durchlassen würde; er versprach mir, dafür werde er schon sorgen. Wir kamen an einem endlosen Stacheldrahtzaun vorbei, das wirkte trostlos. Arbeitende Gefangene konnte ich nirgends sehen.

Als wir in das Lager kamen, dessen Eingang schwer bewacht war, wurde ich nach meinem Paket gefragt. Mein Begleiter nahm es mir aus der Hand und sagte: »Es ist in Ordnung, ich habe es schon kontrolliert.«

Hans lag als einziger in einer Krankenbaracke. Er machte einen fiebrigen Eindruck und erzählte mir: »Ich habe in letzter Zeit sehr häufig infolge von Herzkrämpfen Ohnmachtsanfälle gehabt. Einen solchen bekam ich auch auf einer fahrenden Lore. Was dann geschehen ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß, als ich wieder zu mir kam, das Unglück mit meinem Bein geschehen war, über das das Rad einer Lore hinweggefahren ist.«

Ich fragte ihn, ob er nicht bitten könne, mit Rücksicht auf seine Herzbeschwerden von der schweren Arbeit befreit zu werden. Er meinte: »Ach, das hat doch gar keinen Zweck.«

In diesem Augenblick betrat ein junger Arzt den Raum. Hans nahm sofort im Bett eine stramme Haltung an, und lag während der ganzen Dauer des ärztlichen Besuches mit ausgestrecktem Heil-Hitler-Arm in militärischer Haltung im Bett.

Der Arzt schlug die Bettdecke zurück. Ich sah, daß das eine Bein in einen festen Verband gewickelt war. Der Arzt schnauzte ihn an: »Wie geht es heute?«

Hans sagte: »Ich habe wahnsinnige Schmerzen!«

Der Arzt: »Dann werden Sie ja doch wohl ins Krankenhaus müssen, dann wird es ja wohl ein Bruch sein.«

Fünf Tage lang hatte Hans mit wahnsinnigen Schmerzen und Fieber gelegen, bis der Arzt zu diesem Entschluß kam.

Ich sagte zu dem Arzt: »Darf ich diese Gelegenheit benutzen, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß mein Sohn an einem Herzfehler leidet, der sich während seiner Gefangenschaft sehr verschlimmert hat. Es ist für ihn unmöglich, in diesem Zustand schwere körperliche Arbeit zu leisten. Was für schlimme Folgen das hat, hat ja eben sein Unfall bewiesen.« Er schrie mich an: »Ach was, er kann arbeiten!« Und verschwand. Hans warf mir einen Blick zu, als wolle er sagen: »Verstehst du nun, warum ich mich nicht krank melde?«

Der Beamte, der mich begleitet hatte, bewachte auch unser Gespräch. Sonst war niemand im Raum. Er nahm jetzt das Paket vor: »Ich muß ja noch das Paket nachsehn, so ganz unkontrolliert kann ich es ja doch nicht durchgehen lassen.« Er vertiefte sich so ostentativ in diese Arbeit, daß ich das Gefühl haben mußte, er kümmere sich gar nicht mehr um unsere Unterhaltung.

Hans legte vorsichtig den Finger auf den Mund und sah mich mit warnendem Blick an. Ich fing nun vorsichtig an ihn auszufragen, und als er nicht recht antwortete, sagte ich kurzerhand: »Also, ich möchte wissen, ob du auch hier mißhandelt wirst.« Hans sagte, seit der »Begrüßung« wäre nichts vorgekommen. Ich konnte an keinem Zeichen erkennen, ob das der Wahrheit entsprach.

Der Beamte gab Hans das Paket und mahnte zum Aufbruch. Er hatte uns eine reichliche Stunde miteinander sprechen lassen. Ich hatte etwas Gewissensbisse wegen meiner Frage nach den Mißhandlungen, obwohl der Beamte in keiner Weise darauf reagiert hatte. So sagte ich während der Rückfahrt: »Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich meinen Sohn nach Mißhandlungen gefragt habe, aber Sie werden es begreiflich finden, wenn Sie hören, daß er schon wiederholt schwer mißhandelt worden ist.«

Der Beamte tat, als höre er so etwas zum ersten Male. Er konnte es gar nicht glauben. Bei ihnen käme so etwas jedenfalls nicht vor, das sei ganz ausgeschlossen. Die Gefangenen fühlten sich außerordentlich wohl hier. Als ich meinte, ob er wirklich so zuverlässig darüber Bescheid wisse, da er doch nicht im Lager lebe, erzählte er mir den rührenden Fall von einem bekannten Professor, der dort gesessen habe. Seine Familie habe ihn durchaus heraus haben wollen, weil ihm eine gute Stelle im Auslande angeboten worden sei. Es habe ihm aber so gut im Lager gefallen, daß er sich geweigert habe, herauszugehen.

Ich erkundigte mich später bei Bekannten dieses Professors und hörte, daß er alle Hebel in Bewegung gesetzt habe, um von Esterwegen fortzukommen, und die fürchterlichsten Dinge berichtet habe.

Wir plauderten sehr freundlich weiter, und ich ließ mir meinen Verdacht nicht merken, daß der Mann von der Gestapo beauftragt sein könnte, es in liebenswürdiger Form zu versuchen, mich zu vertraulichen Äußerungen zu bringen.

Er zeigte mir während der Vorbeifahrt das Marienhospital, in das mein Sohn eingeliefert werden würde, und meinte, wenn er erst mal dort sei, würde er wohl eine ganze Weile dort bleiben, weil der Transport zu unbequem sei.

Ich kam gerade so nach Papenburg zurück, daß ich den Abendzug nehmen konnte. Die Reise war langwierig, mit vielem Umsteigen. Kaum saß ich im fahrenden Zug, so machte ich mir Vorwürfe, nicht im Krankenhaus den Versuch einer Fühlungnahme gemacht zu haben. Sollte ich an der nächsten Station wieder umkehren? Aber es war zu wichtig, möglichst schnell wieder in Berlin zu. sein, um Erkundigungen nach Arzt und dem Krankenhaus einzuziehen, um nötigenfalls gleich wieder auf der Gestapo Krach zu machen.

Es kam auch schon am übernächsten Tag ein Brief von Hans, daß er noch am Tage meines Besuches ins Krankenhaus geschafft worden sei.

»Nach der Röntgenaufnahme liegt ein Bruch nicht vor, nur das Wadenbein ist angebrochen, und außerdem besteht ein starker Bluterguß im Kniegelenk. Die Sache ist nach wie vor sehr schmerzhaft, ich kann daher auch nicht so ausführlich schreiben, wie ich möchte. Bitte schicke mir vorläufig keine Pakete, das Essen ist hier ausgezeichnet und reichlich, viel besser, als ich es mir in den letzten Jahren vor meiner Verhaftung habe leisten können.

Dann hörte ich nichts mehr.

Meine Erkundigungen nach dem Arzt des Krankenhauses hatten ergeben, daß er früher Garnisonsarzt gewesen sei, daß er in Ärztekreisen einen guten Namen hätte, daß Hans also, soweit es in einem so kleinen Hospital möglich war, sachkundig und sorgsam behandelt werden würde.

Ich schrieb an den Arzt und machte ihn in einem sachverständigen, von einem Arzt aufgesetzten Brief darauf aufmerksam, daß Hans ein Herzleiden habe. Ich bat ihn, das während des Krankenlagers mitzubehandeln und dafür Sorge zu tragen, daß Hans nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in einer seinem Gesundheitszustand entsprechenden Weise beschäftigt würde. Eine Antwort darauf erhielt ich nicht.

Später einmal hat mir Hans geschrieben, der Arzt ließe mir sagen, er hätte das Herz untersucht und fände es nicht so schlimm.

Da ich nach der ersten Nachricht von Hans nichts mehr hörte, wandte ich mich an die Kommandantur. Als diese mir nicht antwortete, schrieb ich an die Leitung des Krankenhauses. Ich erhielt eine kurze, offizielle Mitteilung, daß ich mich mit derartigen Fragen an die Kommandantur zu wenden hätte. Dem Krankenhaus wären keine Mitteilungen über Schutzhäftlinge gestattet. Es lag aber außerdem ein kleines Zettelchen im Briefumschlag:

 

»Sofort vernichten, und niemandem sagen. Ihr Sohn ist bei uns in besten Händen. Wir tun alles, was in unseren Kräften steht, um seine Lage zu erleichtern.

Schwester …«

 

Meine Antwort:

»Liebe Schwester! Ich habe Ihren Zettel sofort vernichtet und Ihren Namen, aus Angst, ihn bei einem meiner vielen Verhöre über meine Informationsquellen zu verraten, so verdrängt, daß ich ihn später nicht mehr habe wiederfinden können. Sollten Sie diese Zeilen lesen, so setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung. Ich würde Ihnen gern persönlich sagen, wie tief mich Ihre Hilfsbereitschaft und Ihr Mut gerührt haben. Und daß ich, wenn ich an der ganzen Menschheit verzweifeln wollte, an Sie gedacht habe.«

 

Als ich weiter keine Nachricht von Hans bekam, wurde ich trotz dieses Zettelchens so unruhig, daß ich von nichts anderem mehr sprach. Heinz meinte: »Rufe doch einfach mal in der Mittagszeit das Krankenhaus an, tu, als ob das überhaupt selbstverständlich wäre, und erkundige dich so, als ob dein Sohn gar nicht Schutzhäftling, sondern einfach ein Patient wäre, nach dem Befinden des Rechtsanwalts Litten. Vielleicht lassen sie sich überrumpeln und geben dir Auskunft.«

Es geschah genau so, wie er gesagt hatte. Die Schwester, die das beruhigende Zettelchen beigelegt hatte, wurde ans Telefon gerufen und gab mir eingehend und nett Auskunft. Mein Sohn habe zwar hohes Fieber und Eiterungen an der Quetschwunde, aber es bestünde keine direkte Lebensgefahr mehr. Er werde mit Moorumschlägen und Diathermie behandelt.

Als ich sie dann fragte, warum ich absolut keine Nachricht von ihm bekäme, spürte ich direkt durchs Telefon, wie sie erschrak; dann sagte sie mit scharfer, lauter Stimme: »Nein, ich bin durchaus nicht in der Lage, irgendeine Auskunft zu geben. Da müssen Sie sich schon an die Kommandantur wenden.«

Allmählich kam der Briefwechsel wieder in Gang. Das Befinden läßt noch sehr zu wünschen übrig, aber »im übrigen ist Behandlung und Verpflegung weiter großartig«. Dieser Satz ist – anscheinend von der Kontrolle – blau unterstrichen.

Am 13. Mai 1934, also fast nach einem Vierteljahr, wurde Hans wieder nach Esterwegen zurückgeschickt, noch nicht arbeitsfähig, als Rekonvaleszent. Er schrieb mir, daß er wiederhergestellt sei bis auf ein völlig steifes Knie. Der Arzt habe ihm gesagt, das Knie könne nur nach langer Zeit bei sehr sorgfältiger Behandlung, Bestrahlung, Massage, Bewegungsübungen mit bestimmten Apparaten usw. beweglicher werden; dazu sei ja aber im Lager keine Möglichkeit.


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