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Nach unserem ersten Besuch im Krankenhaus hatte Conrady weitere Besuche von Margot bei Hans verboten. Bei meinem zweiten Besuch war sie zwar doch noch einmal mit hineingeschlüpft. Ich sah auf ihren Wunsch sehr alt und gebrechlich aus, so daß der Wärter ihr am Eingang gestattete, mich bis an die Tür des Krankenzimmers zu bringen. Der Krankenwärter oben, der den Besuch überwachte, ließ sie ahnungslos mit hinein. Aber Conrady schien es erfahren zu haben und erklärte mir das nächste Mal, wenn Frau Fürst noch einmal ohne Erlaubnis mitkäme, würden auch mir keine Besuche mehr gestattet. Er wünsche unter keinen Umständen, daß Frau Fürst meinen Sohn noch einmal besuche.
Als ich Margot das erzählte, sagte sie: »Dann heirate ich ihn. Seiner Frau kann man die Besuche nicht verbieten.« Und ihr Mann stimmte zu: »Wenn es für Hans gut ist, selbstverständlich!«
Inzwischen hatte Margot in Erfahrung gebracht, daß man neuerdings auch direkt im Krankenhaus Moabit Besuchserlaubnis erbitten könne, und daß der zuständige Beamte es nicht so genau damit nähme. Sie beantragte also Besuchserlaubnis bei ihm für sich.
Als Margot am andern Tag den Besuch machen wollte, sagte ihr der Beamte, er müsse leider die Besuchserlaubnis zurücknehmen, da Litten gerade aus dem Krankenhaus entlassen würde. Auf dringende Fragen verriet er ihr, daß der Befehl vorliege, ihn nach dem Columbia-Haus zu befördern, und daß er jeden Augenblick abgeholt werden könne.
Margot stürzte aufgeregt zu mir. Sie hatte rasch noch einen früheren Klienten von Hans, der sehr an ihm hing, bestellt. Er stellte sich mir mit seinem Auto den ganzen Tag zur Verfügung. Wir wußten, daß Eile Not tat, und daß es kein leichter Tag werden würde. Schlegel hatte sein Wort nicht gehalten. Er hatte die Entlassung von Hans aus dem Krankenhaus gebilligt, wiewohl Hans noch vor Schwäche zitterte und er noch alles, was er zu sich nahm, ausbrach.
Zunächst telefonierte ich zu der Gestapo. Weder Conrady noch Diels waren zu erreichen. Blomberg befand sich in einer Sitzung, und sein Adjutant wußte, daß er in den nächsten Stunden nicht zu erreichen sei. Außerdem könne mir Herr von Blomberg nicht helfen. Ich hätte doch sicher in der Zeitung den Erlaß gelesen, daß die verschiedenen, nicht zuständigen Behörden sich nicht um Angelegenheiten von Schutzhäftlingen kümmern dürften.
Der Erlaß triefte von sozialem Empfinden: Es widerspräche der nationalsozialistischen Weltanschauung, daß die »feinen Leute« alle ihre Beziehungen in Bewegung setzten, um etwas für ihre Schutzhäftlinge zu erreichen. Für die Arbeiter täte ja auch niemand etwas. Es müßte gleiches Recht sein für alle!
»Was soll ich also tun?«
»Wenden Sie sich direkt an den Adjutanten von Göring. Göring ist zuständig.«
Ich fürchtete, daß mich der Adjutant von Göring ohne Einführung nicht empfangen würde; Blombergs Adjutant versprach mir, ihn selber sofort darum zu bitten.
Als ich dem jungen Adjutanten Görings meinen Fall vorgetragen und an ihn das Ansinnen gestellt hatte, Hans sofort aus dem Columbia-Haus herauszuholen, fragte er mich: »Aber gnädige Frau, glauben Sie denn wirklich, daß der Herr Ministerpräsident ausgerechnet einem Kommunisten helfen wird?«
Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte ihn an: »Allerdings, davon bin ich überzeugt. Diese Herren reden alle dauernd von der deutschen Ehre. Und wenn Herrn Göring wirklich etwas an der deutschen Ehre liegt, muß er sich sagen, daß Fälle wie dieser hier beseitigt werden müssen. Denn all das, was hier dauernd passiert, und besonders der Fall meines Sohnes, ist der Grund dafür, daß kein Hund mehr von einem Deutschen ein Stück Brot nimmt. Soweit ist es mit unserer deutschen Ehre gekommen!
Er wurde blaß und sprang auf. Ich dachte: »Jetzt werde ich eingesperrt.« Aber zu meinem Staunen sagte er: »Jawohl, da haben Sie recht«, und rannte aus dem Zimmer, kam bald wieder zurück und sagte: »Ich habe eben mit Dr. Diels (Leiter der Gestapo) telefoniert. Er hat mir versprochen, Ihren Sohn sofort und ohne vorherige Anmeldung aus dem Columbia-Haus abholen und nach Spandau befördern zu lassen.«
Ich hatte nämlich vorgeschlagen, als ich den Fall vortrug, er solle sofort mit mir nach dem Columbia-Haus fahren und mich meinen Sohn persönlich abholen lassen. Als er über diese Idee lachte und meinte, ich müsse doch selber einsehen, daß ich Unmögliches von ihm verlange, hatte ich gesagt: »Das klingt auch sehr merkwürdig, aber wenn die Leute nur den Befehl bekommen, meinen Sohn an einen anderen Ort zu bringen, schlagen sie ihn tot, ehe dieser Befehl ausgeführt werden kann. Solche Fälle habe ich auch schon kennengelernt.« Deshalb hatte er das unangemeldete Abholen bei Diels durchgesetzt.
Zum Schluß vertraute er mir noch an, daß Herr v. Blomberg ihm bei seinem Anruf habe erklären lassen, daß er an diesem Fall nicht im mindesten interessiert sei. Dieses unanständige Verhalten Blombergs, der sich bisher so ritterlich benommen hatte, wurde mir von Sachverständigen dahin erklärt, daß seine Stellung zur Zeit gerade wacklig sei. Aber von diesem Augenblick an begann er, sich – sagen wir – vorsichtig zu benehmen, auch anderen Bekannten gegenüber, die weniger belastend waren als ich.
Nach einer Stunde – solange dauerte meiner Ansicht nach der Transport – rief ich in Spandau an, ob mein Sohn dort angekommen sei. Man sagte mir, er sei nicht da, könne auch gar nicht dort aufgenommen werden, weil Schutzhäftlinge überhaupt nicht mehr dort untergebracht würden.
Ich rief in meiner eigenen Wohnung an, nur um über mein langes Ausbleiben zu beruhigen und erfuhr, daß dort ein Eilbrief von Hans eingetroffen sei mit der Mitteilung, er würde wegtransportiert, wohin wisse er nicht, ich solle auf jeden Fall alle mir möglichen Schritte dagegen tun. Die Beförderung dieses Briefes war mir ein Beweis, daß sich ein hilfsbereiter Mensch im Krankenhaus befand.
Deshalb rief ich sofort wieder in Moabit an, hörte dort wieder ziemlich verlegen und verworren, man sei nicht in der Lage, mir telefonische Auskünfte zu geben. Wir fuhren nach Moabit, gelangten auch zu einigen netten Beamten, die uns erzählten, es sei der Befehl erteilt worden, Litten nach dem Columbia-Haus zu bringen. Dieser Befehl sei aber in letzter Minute wieder rückgängig gemacht worden (wohl als Folge meiner Unterredung mit Görings Adjutanten), und man warte nun, was für ein neuer Befehl herauskommen würde. Derselbe Beamte versprach mir, Hans einen Zettel zu bringen, in dem ich ihm mitteilte, daß ich den ganzen Tag für ihn unterwegs gewesen sei, und daß ich hoffe, alles in Ordnung gebracht zu haben.
Am anderen Morgen war Margot wieder in Moabit und erfuhr von dem Beamten unter strengster Diskretion, daß Hans nach Brandenburg transportiert worden sei. Wieder rief ich Conrady an, der behauptete, von nichts zu wissen. Ich erklärte es für einen Skandal, daß man einen so kranken Menschen schon wieder ins Lager schaffe. Er versprach mir, dafür zu sorgen, daß mein Sohn, wenn auch nicht in ein Krankenhaus, so doch in eine Krankenabteilung in einem Lager käme.
Ich sagte: »Ich weiß, daß mein Sohn nicht mehr im Krankenhaus ist, ich habe das Gefühl, daß Sie ihn nach Brandenburg geschafft haben, und das ist ein Lager, das sogar in einem besonders schlechten Ruf steht.«
Er wünschte energisch zu wissen, woher ich wisse, daß mein Sohn in Brandenburg sei.
Ich sagte: »Mir fällt nur zufällig Brandenburg ein. Auf jeden Fall weiß ich, daß es etwas Scheußliches ist.«
Trotzdem war er zu keiner Auskunft zu bewegen und erklärte, mein Sohn würde mir schon seine Adresse mitteilen, sowie er angekommen sei.
Nach einigen Tagen erhielt ich auch einen Brief von ihm mit der neuen Adresse: Brandenburg. Außerdem teilte er mir im Kode mit: »Ich werde stündlich schwer mißhandelt.«
Wieder ein Telefongespräch mit Conrady. Ich mache ihm die schwersten Vorwürfe, daß er sein Versprechen mit der Krankenabteilung nicht gehalten habe, und erkläre ihm, ich wisse genau, daß mein Sohn mißhandelt würde. Er lacht mich aus und gibt mir keine Besuchserlaubnis, die dürfe erst einige Zeit, nachdem der Gefangene dort sei, erteilt werden.
Im nächsten Brief erbittet mein Sohn ein paar Schuhe, die durch Schnallen geschlossen werden können, da sie keine Schnürsenkel tragen dürfen. Was war der Grund für dieses Verbot? Bloße Schikane oder die Befürchtung, daß man sich schließlich auch mit einem Schnürsenkel umbringen könne?
Ich fahre nach Brandenburg, werde aber unverrichteterdinge wieder weggeschickt und nicht beim Kommandanten vorgelassen. Ich schreibe dem Kommandanten, ich müsse ihn unbedingt sprechen und bitte ihn, mir eine Zeit zu einem Besuch anzugeben. Er antwortet mir, er sei so besetzt, daß er sich auf keine Zeit festlegen könne, und es sei doch peinlich, wenn er mich dann zur angegebenen Zeit nicht empfangen könne. Ich müsse also aufs Geratewohl hinkommen.
Inzwischen erhalte ich wieder einen Brief von Hans, in dem er von schrecklichen Mißhandlungen spricht. Auch verlangt er wieder Gift; Zyankali, aber reichlich. Wir sollen ihm einen Anzug schicken und es in die Ärmelnaht unter dem rechten Schutzblatt einnähen.
Es dauert acht Tage, bis wir das Gift haben. Sein junger Apothekerfreund muß es regelrecht stehlen, weil es nicht anders zu beschaffen ist.
Das unsichtbare Einnähen ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe. Nachdem ich mich einige Stunden vergeblich damit geplagt habe, gebe ich es der Frau eines zuverlässigen Klienten, die Schneiderin ist. Sie näht es in einen langen Streifen feinen Billrothbatists ein, es schmiegt sich gut ein. Nichts ist zu sehen, nichts zu fühlen. Aber die Jacke strömt einen starken Blausäuregeruch aus. Der ist durch kein Lüften wegzubringen. Bekommt ein intelligenter Kontrolleur die Jacke in die Hand, so weiß er, was sie enthält, auch wenn er den eingenähten Streifen nicht findet. Wird das entdeckt, so hört jede Verbindung auf. Wir wagen es nicht, die Jacke zu schicken. Hans sieht das ein und da sich die Verhältnisse inzwischen gebessert haben, verschieben wir die Sendung, um etwas Unauffälligeres ausfindig zu machen.
Als es ihm dann später in Lichtenburg gut ging, waren wir froh, daß es nicht geglückt war, ja, seine Freunde glaubten, daß er noch zu großen Taten bestimmt wäre, weil er immer wieder mit seinen Versuchen, sich das Leben zu nehmen, keinen Erfolg hatte.
Wieder setzte ich mit vieler Mühe einen Besuch bei Dr. Conrady durch und erklärte ihm geradeheraus, ich wisse genau, daß mein Sohn mißhandelt würde.
Er: »Entnehmen Sie das den Briefen Ihres Sohnes?«
Ich: »Seine Briefe sind völlig nichtssagend und inhaltslos. Das ist schon ein Beweis dafür, daß es ihm schlecht geht.«
Er: »Sie müssen doch aber unbedingt Informationen haben, wenn Sie das so fest behaupten.«
Ich: »Nein, ich habe keine Informationen, aber ich bin hellseherisch veranlagt.«
Er sah mich eine ganze Weile verdutzt an, starr über meine Unverschämtheit. »Glauben Sie an so was?«
Ich: »Nein, durchaus nicht, aber ich erlebe so was.«
Ich erzählte ihm einige meiner dahingehenden Erlebnisse und mit der größten Ausführlichkeit mein Erlebnis mit dem von der SA ermordeten Lehrling. Ich behauptete, derselbe Blutgeruch, den ich damals verspürt hätte, stiege jetzt aus den Briefen meines Sohnes auf.
Er wurde nachdenklich und überlegte anscheinend, ob ich eine freche Lügnerin sei oder ob an der Sache doch etwas Wahres sein könne. Dann: »Sie können doch unmöglich erwarten, daß ich auf solche Dinge eingehe.«
Ich: »Das erwarte ich auch nicht, ich will Sie ja nur über meine Informationen aufklären, für die Sie sich so interessieren. Ich erwarte aber, daß Sie eine Untersuchung einleiten.«
Er: »Ihr Sohn ist bei der SS so verhaßt, daß man sich über eine etwas unfreundliche Behandlung nicht zu wundern braucht. Ich kann doch nicht immer dabei stehen und aufpassen.«
Ich: »Genau dasselbe hat mir Dr. Mittelbach seinerzeit gesagt, als mein Sohn in Sonnenburg mißhandelt wurde. Er hat dann aber doch meine Bitte erfüllt und ihn dort fortgeholt.«
Conrady grinste, als er mir antwortete: »Das werde ich nicht tun.« (Ich wußte, daß er in diesem Moment dachte: »Das hat ihn ja auch seine Stellung gekostet.«)
Ich: »Ich an Ihrer Stelle würde die Sache schon in Ordnung bringen, auch wenn ich nicht immer dabeistünde.«
Er: »Was würden Sie denn an meiner Stelle machen?«
Ich: »Ich würde eben untersuchen und den ersten Mann, der überführt wird, mißhandelt zu haben, erschießen lassen. Wenn das nichts hilft, so würde ich zehn erschießen lassen. Wenn das auch nicht helfen sollte«, fuhr ich, gereizt durch sein höhnisches Lächeln, fort, »würde ich fünfhundert aufhängen, rund um den Lagerhof herum, bis sie stinken. Sie können sicher sein, daß das hilft.«
Er strich sich unbehaglich über den Hals, als ob er sich mit baumeln sähe. Dann lachte er wieder sein kaltes, höhnisches Lachen.
Am nächsten Tag erhielt ich einen anonymen Brief mit Maschinenschrift geschrieben: »Werte Frau Litten! Ihr Sohn wird täglich im Konzentrationslager Brandenburg mißhandelt. Wir wissen, daß Sie hohe Beziehungen haben, warum tun Sie nichts, um Litten zu helfen? Sind Sie zu feige, oder wissen Sie nicht, was in aller Munde ist?«
Ich hatte und habe noch heute den Verdacht, daß er von Freunden geschrieben worden ist, die mir eine Unterlage für Schritte und eine Art »Beweis« geben wollten. Aber ich habe nie etwas darüber erfahren können.
Jedenfalls rief ich Conrady an, und als ich hörte, daß er auf einer Dienstreise sei, schickte ich den Brief an den Leiter der Gestapo, Dr. Diels, da er sich weder telefonisch noch persönlich von mir sprechen ließ. Ich bat ihn, sofort Untersuchungen in Brandenburg anstellen zu lassen.
Noch am selben Tag fuhr ich nach Brandenburg und verlangte den Kommandanten zu sprechen. Ich legte die Aufforderung des Kommandanten vor, »aufs Geratewohl« herauszukommen. Man lachte mich aus. Ich erklärte: »Ich setze mich jetzt hier hin und rühre mich nicht weg, bis ich den Kommandanten gesprochen habe. Kommt er heute nicht, so sitze ich morgen wieder hier. Das werde ich solange tun, bis ich ihn gesprochen habe.«
Nach einiger Zeit erschien jemand, der sich als den Vertreter des Kommandanten bezeichnete. Ich sagte nur: »Ich muß den Herrn Kommandanten persönlich sprechen!« Mit meiner Hartnäckigkeit setzte ich durch, daß der Kommandant nach etwa einer Stunde erschien. Ich überreichte ihm eine Abschrift des anonymen Briefes. Er brüllte mich an: »Sie sind ja eine ganz unverschämte Person! Wie können Sie es wagen, mit solchen Dingen zu kommen! Es ist eine Beleidigung, zu behaupten, daß so etwas in meinem Lager vorkommt!«
Ich: »Ich bin ganz Ihrer Meinung, ich finde, daß es Ihre persönliche Ehre tangiert, aber ich ziehe daraus den Schluß, daß Sie mir dankbar sein müssen, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache und Ihnen dadurch die Möglichkeit gebe, nachzuprüfen und derartiges abzustellen.«
Er brüllte wieder: »Ich denke gar nicht daran, nachzuprüfen! Solche Dinge kommen überhaupt nicht vor!«
Ich: »Aber natürlich kommen solche Dinge vor. Ich habe bereits in anderen Lagern solche Dinge erlebt, und ich habe den Nachweis führen können, daß sie geschehen sind. Man hat mir sogar auf der Gestapo ganz ehrlich zugegeben, daß solche Dinge geschehen sind. Weshalb sollte also so etwas nicht auch in Ihrem Lager vorkommen?«
Er brüllte wieder: »Andere Lager gehen mich nichts an. Hier handelt es sich um mein Lager. Und es fällt mir nicht ein, Untersuchungen anzustellen.«
Nach einigem Hin und Her sagte er mir schließlich: »Also meinetwegen, Sie sollen Ihren Sohn sehen. Dann werden Sie selber von ihm hören, daß es ihm gut geht.«
Ich: »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Aber ich bitte Sie natürlich darum, daß ich ihn unter vier Augen sprechen kann. Unter Bewachung wird er mir ja nie die Wahrheit sagen.«
Er: »Das ist schon wieder eine Unverschämtheit. Sie wissen ganz genau, daß jede Unterhaltung mit einem Gefangenen unter Bewachung stattfinden muß.«
Ich: »Und Sie wissen ebenso genau, daß mir mein Sohn doch nichts Vernünftiges sagen kann. Es wäre zum Beispiel sehr möglich, daß einer der Leute die Unterredung überwacht, der selber mißhandelt.«
Der Kommandant: »Nun, dann werde ich selber die Unterhaltung überwachen.«
Da konnte ich nichts weiter einwenden und nahm es dankbar an.
Wie ich später von einem entlassenen Mithäftling hörte, hat der Kommandant meinen Sohn gefragt: »Litten, werden Sie Ihrer Mutter sagen, daß Sie mißhandelt werden?« Und als er mit »Nein« antwortete: »Werden Sie ihr sagen, daß Sie gut behandelt werden?«, und als er mit »Ja« antwortete, sagte der Kommandant: »Dann können Sie Ihrer Mutter vorgeführt werden.«
Hans erschien mit dem Kommandanten zusammen, sah entsetzlich aus, mit dem Blick eines gehetzten Wildes, und hatte am Hals lauter rote Streifen, die nur knapp durch ein umgebundenes Halstuch verdeckt waren.
Ich: »Ich wollte dich gern sprechen, weil ich einen anonymen Brief bekommen habe, der mich beunruhigt.«
Hans in übertriebener Lebhaftigkeit: »Ich habe davon schon gehört. Wie kannst du nur einen solchen Unsinn glauben? Es geht mir hier ausgezeichnet.«
Ich: »Ich finde aber gar nicht, daß du gut aussiehst. Ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit. Du bist doch in einem sehr kranken Zustand aus dem Krankenhaus entlassen worden. Das Versprechen, das mir Dr. Conrady gab, dich in einer Krankenabteilung unterzubringen, scheint nicht eingehalten worden zu sein.«
Der Kommandant: »Wir wußten gar nicht, was mit Ihrem Sohn los war, und haben ihn im Anfang ebenso arbeiten lassen wie die andern. Als wir dann aber gesehen haben, daß er nicht wohl war, ist er sehr sorgsam behandelt worden.« Und mit einem freundlichen Lächeln zu meinem Sohn: »Nicht wahr, Sie haben es jetzt sehr gut?«
Mein Sohn: »Ja, es geht mir ausgezeichnet.«
Ich: »Was hast du denn für rote Streifen am Hals?«
Hans: »Du weißt doch, wie ungeschickt ich im Rasieren bin. Ich habe mich wiederholt geschnitten.«
Ich: »Ich habe durch einen entlassenen Schutzhäftling die Mitteilung erhalten, deine Arbeit bestände darin, auf dem Hofe liegend mit den Fingernägeln die Erde zwischen den Pflastersteinen wegzukratzen.«
Hans lebhaft: »Wie kannst du nur einen solchen Unsinn glauben!«
Ich: »Laß mich doch mal deine Hände sehen. Wie kommt denn das, du hast ja wahnsinnig kurze Fingernägel? Die trägst du doch sonst nicht so?«
Die schön geformten Fingernägel meines Sohnes waren wie abgefressen.
Hans: »Ach, sei doch nicht so lächerlich. Ich habe heute morgen meine Nägel geschnitten, und sie sind etwas kurz geraten.«
Ich: »Was ist denn jetzt deine Arbeit?«
Der Kommandant, wieder aufbrausend: »Nun habe ich aber genug von der dummen Fragerei. Schluß!« Und mein Sohn wurde abgeführt.
Ich hatte während der Unterhaltung sowohl Hans wie den Kommandanten aufs schärfste beobachtet, und Hans hatte einen Augenblick, in dem der Kommandant sich liebenswürdig zu mir wandte, um mich von der guten Behandlung zu überzeugen, ein Zeichen nach ihm gemacht, mit einem so entsetzlichen Gesichtsausdruck, daß mir klar wurde: Dieser Kommandant ist die allergrößte Bestie im Lager!
Nachdem Hans abgeführt worden war, und ich mich bemühte, mich liebenswürdig zu bedanken, lief plötzlich das Gesicht des Kommandanten blau vor Wut an. Er schüttelte die geballten Fäuste und knirschte: »Das werden mir aber die Schutzhäftlinge büßen!«
Mir setzte vor Schreck der Herzschlag aus. Ich bemühte mich, ihn zu besänftigen und erklärte, an den unglücklichen Schutzhäftlingen dürfe er das wirklich nicht auslassen. Sie hätten doch nicht das mindeste mit meinem Verhalten zu tun. Es wäre sogar möglich, daß sie mein Verhalten aufs schärfste mißbilligten. Wenn hier jemand zu büßen hätte, so wäre ich das ganz allein. Ich stelle mich zu jeder Genugtuung zur Verfügung. Im übrigen hätte ich mich ja eben davon überzeugt, daß alle diese Gerüchte Unsinn seien. Mein Sohn hätte sie mir ja selber widerlegt. Und die Art, in der er eben mit ihm gesprochen hätte, wäre ganz reizend und hätte mir gezeigt, wie freundlich er mit den Schutzhäftlingen umginge. Er müsse doch eigentlich einsehen, daß mein Besuch nur nützlich und im allgemeinen Interesse sei. Nun könne ich doch die unsinnigen Gerüchte widerlegen.
Ich redete in meiner Verzweiflung das Blaue vom Himmel herunter. Er beruhigte sich auch, und wir verabschiedeten uns freundlich voneinander.
Ich war völlig zerschlagen, hatte das Gefühl, eine Riesendummheit gemacht und den Schutzhäftlingen sehr geschadet zu haben. Das mußte, koste es was es wolle, wieder gutgemacht werden.
Dr. Conrady, der von seiner Dienstreise zurückgekehrt war, war dafür bekannt, daß er niemals Angehörige von Schutzhäftlingen empfing. Auch meine Besuche bei ihm setzte ich immer erst nach langem Zureden durch. Ich rief ihn an: »Herr Doktor Conrady, ich muß Sie sofort sprechen, ich bringe Ihnen die gewünschten Beweise über das Lager Brandenburg.«
Conrady, sehr interessiert: »Dann kommen Sie doch sofort zu mir.«
In einer halben Stunde war ich bei ihm. Zunächst drückte ich ihm wortlos eine Kopie des anonymen Briefes in die Hand. Er las sie, besah sie von allen Seiten, hielt sie gegen das Licht, doch ich unterbrach: »Aber machen Sie sich doch nicht so viele Mühe mit diesem Schriftstück. Das ist mein Papier und meine Schreibmaschine.« Er sah mich verdutzt an. »Natürlich, das Original habe ich doch an Dr. Diels geschickt und dies ist eine Abschrift, die ich gemacht habe.«
Er lachte ärgerlich: »Wissen Sie, daß man Sie hier im Verdacht hat, daß Sie diesen anonymen Brief selber geschrieben haben?«
Ich: »Aber weshalb um alles in der Welt soll ich mich denn hinter einem anonymen Brief verkriechen? Ich sage Ihnen doch andauernd meine Meinung viel deutlicher, als sie hier in diesem Schreiben zum Ausdruck kommt.«
Es entfuhr ihm: »Genau dasselbe habe ich in der Sitzung gesagt. – Im übrigen, wir haben die Schreiber dieses Briefes schon herausbekommen.«
Ich, erschrocken: »Bitte, wer ist es denn?«
Conrady: »Weshalb interessiert Sie das denn so?«
Ich: »Weil mir die Leute leid tun, und weil ich da anscheinend eine große Dummheit gemacht habe. Ich dachte, bei Maschinenbriefen könne man nicht herausbringen, wer der Schreiber ist. Wenigstens können es keine Freunde von mir gewesen sein.«
Conrady: »Warum denn nicht?«
Ich: »Glauben Sie wirklich, daß jemand, der mich persönlich kennt, auf den Gedanken kommen könnte, mir Feigheit vorzuwerfen?«
Bei dieser Vorstellung mußte er herzhaft lachen.
Da man bald danach die Fürstsche Schreibmaschine beschlagnahmte, nehme ich an, daß man die Schreiber nicht gefunden hat.
Ich: »Also ich bringe Ihnen die gewünschten Beweise. Ehe ich rede, muß ich Sie aber um Ihr Ehrenwort bitten, daß derjenige, von dem ich die Beweise habe, keine unangenehmen Folgen zu spüren bekommt.«
Er: »Sie können unmöglich von mir verlangen, daß ich Ihnen mein Ehrenwort gebe.«
Ich: »Warum denn nicht? Ohne Ihr Ehrenwort kann ich Ihnen keine Mitteilungen machen, denn ich habe leider nicht das Zutrauen zu Ihnen, daß Sie denjenigen, von dem ich die Beweise habe, in Ruhe lassen, wenn Sie mir nicht Ihr Ehrenwort vorher gegeben haben.«
Er: »Frau Litten, wie Sie mit Beamten umspringen, so was habe ich überhaupt noch nicht erlebt.«
Ich: »Da müssen Sie mir nun aber wirklich nicht böse sein, ich habe mein Leben lang nur gesellschaftlich mit Beamten zu tun gehabt. Bitte erkundigen Sie sich, jeder wird Ihnen erklären, daß er mich für sehr korrekt und besonders liebenswürdig hält. Aber im dienstlichen Verkehr mit Beamten habe ich noch keine Erfahrung. Sagen Sie mir doch bitte einfach, wie ich mich zu benehmen habe.«
Conrady, besänftigt: »Sie müssen sich doch selbst sagen, Frau Litten, daß das so nicht geht. Dauernd beschimpfen Sie mich, dauernd nehmen Sie mich ins Verhör. Jetzt verlangen Sie sogar noch ein Ehrenwort von mir.«
Ich: »Nun sagen Sie mir doch aber bitte, was ich in dieser Situation machen soll. Beweise verlangen Sie von mir, ohne Ihr Ehrenwort kann ich Ihnen aber meine Beweise nicht geben. Was soll ich nun eigentlich machen, um etwas zu erreichen?«
Conrady, in freundlich zuredendem Ton: »Na, nun schießen Sie mal los und sagen Sie mir alles, was Sie wissen. Sie haben Nachrichten aus dem Lager bekommen?«
Ich: »Sie wissen, daß ich Ihnen bei Ihrem Verhalten keine Beweise geben werde. Aber ich werde Ihnen einen Bericht über meinen Besuch im Lager geben. Ich habe den Kommandanten gestern gesprochen, und mein Sohn ist mir vorgeführt worden. Sowohl der Kommandant wie mein Sohn haben mir erklärt, daß es ihm blendend ginge.«
Conrady: »Was wollen Sie denn dann eigentlich? Der Kommandant ist doch ein zuverlässiger älterer Mann in einer hohen Stellung und mit hohen Kriegsauszeichnungen.
Ich: »Ich habe mir weder die Achselklappen noch die Kriegsauszeichnungen angesehen. Ich habe nur sein Gesicht gesehen, und ich kann Ihnen sagen: Dieser Mann ist eine Bestie!«
Ich schilderte ihm dann unsere ganze Unterhaltung und vor allen Dingen seine Bemerkung: »Das werden mir die Schutzhäftlinge büßen!« Er meinte, ich sei nervös, und der Kommandant sei wirklich ein reizender Mensch.
Ich: »Wenn Sie das im Ernst glauben, dann haben Sie aber keine Spur von Menschenkenntnis. Und das ist bei einem Mann in Ihrer Stellung außerordentlich bedauerlich! Ich sehe, daß ich bei Ihnen nicht zu meinem Recht komme.« Ich verlor die Selbstbeherrschung und sagte langsam und deutlich, jedes einzelne Wort betonend: »Das gemeinste, feigste und ehrloseste Verbrechen, das es gibt, ist, Wehrlose zu mißhandeln und«, indem ich mit dem Finger auf ihn zeigte, »wer das duldet, ist keine Spur besser als diese Verbrecher.«
Er wurde schneeweiß und sprang auf. »Jetzt ist alles verloren«, dachte ich. Aber ich mußte ihn doch irgendwie zum Eingreifen bewegen, nach all dem Schaden, den ich im Lager angerichtet hatte. Bisher hatte ich die Erfahrung gemacht, daß, wenn ich mit Ruhe und Liebenswürdigkeit nicht vorankam, ein Wutausbruch noch am erfolgreichsten war. Ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen und brüllte: »Irgendwie werde ich mir schon mein Recht verschaffen. Ich scheue mich vor nichts. Und wenn es mir auch im Augenblick nicht gelingt, irgendwann werde ich schon zu Hitler vordringen und ihn aufklären über die Verbrechen, die in seinem Staate geschehen. Zunächst aber werde ich mich mal an jede Straßenecke stellen und Volksreden halten.«
Conrady, nun wieder gefaßt und sichtlich amüsiert: »Davor möchte ich Sie aber warnen. Sie würden spätestens nach fünf Minuten verhaftet sein.«
Ich: »Und dann würde eine Gerichtsverhandlung gegen mich eingeleitet werden?«
Conrady: »Selbstverständlich.«
Ich: »Und dann würde ich alle meine Anschuldigungen gegen Ihre Lager vor den Richtern und der Öffentlichkeit vorbringen können? Damit würde ich endlich die Untersuchung der Lager erzwingen, die ich bei Ihnen nicht durchsetzen kann.«
Conrady: »Da täuschen Sie sich aber gewaltig. Man würde nicht untersuchen, und Sie würden wegen Greuelbehauptungen, die Sie nicht beweisen können, sehr lange im Gefängnis sitzen.«
Ich: »Es ist ja immerhin anständig von Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben. Ich weiß im neuen Recht noch nicht Bescheid. Ich bin Juristenfrau, da fällt mir die Umstellung etwas schwer. Selbstverständlich werde ich mich unter diesen Umständen hüten, den Mund aufzumachen. Ich will nicht festgesetzt werden, denn ich will für meinen Sohn kämpfen. Jedenfalls will ich Ihnen kein Recht dazu geben. Daß Sie mich auch ohne ein Recht festsetzen, mißhandeln und totschlagen können, das weiß ich ja ganz genau. Aber irgendwann werden Sie doch einmal Unannehmlichkeiten davon bekommen. Zunächst freue ich mich auf den Skandal, den es dann mal wieder im Ausland geben wird. Es tut mir leid, daß ich nichts bei Ihnen erreicht habe, aber unterkriegen lasse ich mich nicht. Adieu.«
Conrady: »Frau Litten, beruhigen Sie sich, ich gebe Ihnen mein Wort, daß die Mißhandlungen Ihres Sohnes aufhören werden.«
Ich: »Jetzt sagen Sie ja selbst, daß die Mißhandlungen aufhören werden. Damit geben Sie ja zu, daß Mißhandlungen stattfinden.«
Conrady: »Nein, nein, mit dieser Bemerkung habe ich mich nur einmal auf Ihren Standpunkt gestellt. Ich werde mich darum kümmern, daß Ihr Sohn unter keinen Umständen mehr mißhandelt wird.«
Ich: »Nun müßte ich wohl dankbar nach Hause gehen, aber leider muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Versprechungen nicht den mindesten Eindruck auf mich machen. Solche Versprechungen habe ich schon früher von anderer Seite erhalten, ohne daß sich auch nur das geringste geändert hätte. Sie wollen mich einfach los werden.«
Conrady: »Sehe ich Ihnen so aus, als ob meine Befehle nicht befolgt würden?«
Ich, nachdem ich ihn prüfend gemustert habe: »Eigentlich nicht. Sie sehen mir sogar so aus, als ob Ihre Untergebenen Angst vor Ihnen hätten. Aber ich glaube Ihnen einfach nicht, daß Sie die Mißhandlungen ernstlich stoppen wollen.«
Conrady: »Also, Frau Litten, ich kann Ihnen nur mein Versprechen wiederholen, daß die Mißhandlungen aufhören werden.«
Um nicht ungerecht zu sein, möchte ich hier einfügen, daß Conrady auch ab und zu einer menschlichen Regung fähig war. Als ich mich einmal auch wieder zu heftigen Beschimpfungen hatte hinreißen lassen und Conradys Augen wieder grün wurden, entschuldigte ich mich: »Sie müssen mir nicht übelnehmen, wenn ich so heftig werde. Aber es ist zuviel verlangt, wenn eine Mutter bei derartigen Vorkommnissen die Ruhe bewahren soll.«
Er verbeugte sich leicht: »Wenn ich mich in einer solchen Situation befände, wäre ich glücklich, wenn meine Mutter ebenso für mich eintreten würde.«
Ein andermal, als ich mich zu maßlosen Beschimpfungen der Gestapo hatte hinreißen lassen, sagte er in drohendem Ton: »Frau Litten, ich bewundere Ihren Mut.«
Ich, erstaunt: »Woher wissen Sie denn, daß ich Mut habe?«
Er: »Was Sie mir heute gesagt haben, dazu gehört schon allerhand Mut.«
Ich: »Ich habe Ihnen doch nur die Wahrheit gesagt. Das habe ich mein Leben lang getan und nie gefunden, daß dazu Mut gehört. Gehört jetzt im Dritten Reich etwa Mut dazu, die Wahrheit zu sagen?«
Er, sehr drohend: »Ich bewundere Ihren Mut außerordentlich.«
Ich: »Und Sie als Nationalsozialist freuen sich doch natürlich auch, wenn Sie sehen, daß eine deutsche Frau Mut hat.«
Da stand er auf und verbeugte sich. Ich nahm das als eine Verabschiedung und verschwand schleunigst, denn ich wollte doch lieber nicht die etwaigen Folgen seiner Bewunderung ausprobieren.
Tatsächlich enthielt der nächste Brief von Hans im Kode die Mitteilung, daß sich seine Situation wesentlich gebessert habe. Ich nahm an, daß Conrady den mir versprochenen Befehl ans Lager gegeben hatte, die Schutzhäftlinge nahmen an, daß mein Besuch beim Kommandanten günstig gewirkt habe. Beides scheint der Fall gewesen zu sein.
*
Durch einen ehemaligen Brandenburger Schutzhäftling, einen Freund von Hans, wurde ich kürzlich über alles, was damals in Brandenburg vor sich gegangen ist, informiert. Schutzhäftlinge, die im Büro arbeiteten, haben berichtet, daß ein Befehl von der Gestapo gekommen sei, daß Litten nicht mehr mißhandelt werden solle. Der Kommandant war von diesem Tage an freundlich zu meinem Sohn, schwatzte manchmal mit ihm und redete ihn wiederholt an. Er hat Hans nach meinem Besuch gesagt, daß ich mir erlaubt habe, Reden zu führen, die mir doch mal schlecht bekommen könnten, daß ihm aber mein Auftreten sehr imponiert habe.
Durch denselben Freund erhielt ich auch eine sehr eingehende Schilderung der damaligen Zustände in Brandenburg. Am 24. Oktober 1933 wurde er mit einem Schub Gefangener in Brandenburg eingeliefert, einem alten Zuchthaus, das in den zwanziger Jahren unter Severing geschlossen wurde, weil es den hygienischen Anforderungen nicht mehr genügte. Jetzt, für die Schutzhäftlinge, war es wieder gut genug. Es beherbergte etwa eintausendeinhundert Gefangene. Es wurden immer zwei zusammen in eine Zelle gesteckt, Hans, der am selben Tage eingeliefert wurde, blieb in Einzelhaft, weil sich jeder davor drückte, mit ihm zusammen zu sein. Er wurde von den anderen Schutzhäftlingen wie ein Pestkranker gemieden, weil jeder wußte, daß er besonders verhaßt war und fürchtete, sich durch das Zusammensein mit ihm oder durch die Tatsache, daß er ihn kannte, zu kompromittieren. Dies war natürlich sehr deprimierend für Hans, um so mehr, als sich unter den Neuankömmlingen einige Leute befanden, die er gut kannte, und denen er viel Gutes getan hatte. Mühsam ging es übrigens ebenso wie Hans.
Eine besonders scheußliche Behandlung scheint für alle neuen Ankömmlinge üblich gewesen zu sein. Alle wurden schwer mißhandelt. Außerdem durften sie sich in der Zelle nicht beschäftigen, durften nicht lesen, hatten keine Beleuchtung, so daß es vom Nachmittag bis zum Morgen' stockfinster war. Sie bekamen keinen Tropfen Wasser, weder zum Trinken, noch zum Waschen. Sie durften sich nicht rasieren. Man wollte, daß diese politischen Häftlinge möglichst verkommen aussahen, um sich selbst auch möglichst verkommen zu fühlen.
Die Gefangenen waren in ihrer eigenen Kleidung. Sie mußten in rasendem Tempo über die Höfe rennen. Wer zurückblieb, wurde angebrüllt, geschlagen, getreten. Der dreckigste Hof wurde zum Exerzieren ausgesucht, auf und nieder, auf und nieder, man mußte sich in die Pfützen werfen, durch meterlange Pfützen kriechen, in Pfützen Liegestütz machen. Alles bis zur Bewußtlosigkeit.
Hans, der noch immer durch die völlige Ausblutung und den durch das Gift ruinierten Magen in einem äußerst geschwächten Zustand war, hatte schwere Herzkrämpfe und tiefe Bewußtlosigkeiten.
Die übrige Zeit war man untätig in die Zelle eingeschlossen. Hans aber hatte selten Ruhe, dauernd noch Verhöre in der Felsenecke-Angelegenheit, mit Schlägen und Mißhandlungen, auch in der Reichstagsbrand-Angelegenheit, über die er mir in Moabit eine Andeutung machte.
Der Gefangene, der mit ihm im Krankenzimmer in Moabit gelegen hatte, hatte geglaubt, sich dadurch Vorteile zu verschaffen, daß er meldete, Hans habe ihm anvertraut, er sei mit Lubbe befreundet gewesen, und er habe ihn einige Zeit vor seiner Tat bei sich beherbergt. Er gab ganz genaue Einzelheiten an, die glaubhaft klangen, weil er sie sich nach den Zeitungsnachrichten ausgemalt hatte. Hans bekam erst Ruhe, als sich nachweislich durch die Polizei feststellen ließ, daß van der Lubbe sich an den für diese Übernachtung angegebenen Tagen in Holland befunden hatte.
Ich hörte später von Kommunisten, die voll Angst von diesen verschiedenen Verhören vernommen hatten, daß nicht ein einziger von den Leuten, über die Hans Bescheid gewußt hatte, durch ihn verraten worden war. Sie haben häufig sehr genau feststellen können, durch welchen Verrat ihre Genossen »hochgegangen« waren. Sie schworen, durch Hans sei nicht ein einziger gefaßt worden.
Hans wurde zu den schmutzigsten und anstrengendsten Arbeiten kommandiert. Er hatte die Flure und Treppen des Zuchthauses zu scheuern, niemand zeigte ihm, wie er diese, ihm natürlich unbekannte Arbeit zu machen hätte, aber hinter ihm stand ein SS-Mann, der mit Fluchen und Fußtritten, Faustschlägen ins Gesicht und Schlägen mit dem flachen Seitengewehr auf Gesäß, Rücken und Arme glaubte, ihm ein schnelleres und sachkundiges Scheuern beibringen zu können. Einer dieser Schläge verletzte Hans am Arm und schnitt ihm eine Sehne an. Es entstand ein starker Blutverlust, aber die Wunde verheilte allmählich, ohne einen dauernden Schaden zurückzulassen. Trotzdem mußte weitergearbeitet werden. Daß der Verband vor Dreck strotzte und nicht erneuert wurde, erweckte in Hans nur die Hoffnung, daß es eine Blutvergiftung geben könne, die ihn ins Lazarett oder noch lieber ins Jenseits befördern würde. Fragte der Kommandant, weshalb er verbunden sei, so hatte er zu sagen, er habe sich an der Tür gestoßen. Das war überhaupt die Antwort, die jeder Schutzhäftling auf eine Frage nach einer Verletzung zu geben hatte.
Es befanden sich elf Straßer-Leute von der Schwarzen Front als Gefangene im Lager. Sie waren in einer besonderen Abteilung untergebracht und wurden besser als die übrigen Häftlinge behandelt. Hans hatte bei ihnen die schmutzige Arbeit zu übernehmen. Die Leute waren aber anständig und sagten: »Wir machen unsere Arbeit allein. Ruh dich inzwischen aus.« Nur die Fenster mußte er putzen, da man das von außen her beobachten konnte.
Frühere Klienten von Hans mußten ihn »zum Dank« schlagen, alle taten es, weil sie selber schwer mißhandelt wurden, wenn sie sich weigerten. Nur einer sagte: »Schlagt mich tot, aber ich tu es nicht.«
Einmal kam Hans besonders verzweifelt und erschöpft von seinem Exerzieren zurück. Er weigerte sich, darüber zu sprechen, was mit ihm geschehen war.
Hier ist der Bericht eines Augenzeugen:
»Seit dem 9. März 1933 lag ich mit noch zirka fünfundvierzig Mann im alten Brandenburger Zuchthaus schon über einen Monat zusammengepfercht in einer vergitterten Bodenkammer, zitternd unter den nicht endenden physischen und psychischen Mißhandlungen zählten wir Stunden und Tage unserer Pein. Jedesmal, wenn sich eine der beiden zu unserem Verließ führenden schweren Eisentüren auch nur zu bewegen schien, brüllte es: »Achtung!« Unzählige Male waren wir seit unserer Ankunft den schikanösen Vorschriften des Lagers entsprechend wie elektrisiert aufgesprungen und in derselben Sekunde erstarrt. Schlossen sich die Türen wieder hinter den Posten, so sanken wir in uns zusammen. Zwischen jedem Öffnen und Schließen der Türen lagen Minuten oder Stunden neuer Quälereien.
›Wer kennt Litten?‹ wird eines Tages von einem SS-Truppführer in unserer Station gefragt. Zwei Mann melden sich nach kurzem Zögern. Außer mir ist es ein junger Münchener Arbeiter, der zugibt, Litten zu kennen. Die Frage: ›Woher?‹ beantwortet der Münchener mit aller Offenheit und Sympathie für Litten. Dieser hatte ihn in einer Bagatellsache kostenfrei und erfolgreich verteidigt. Meine Bekanntschaft mit Litten war allgemeiner Art. Als sogenannter Kriminalstudent hörte ich und sah ich ihn des öfteren in den Moabiter Gerichtssälen.
Knapp zwei Stunden später ruft ein Posten: ›Die beiden, die Litten kennen, hinaus auf den Flur!‹ In dem unbestimmten Gefühl, mit unserer Meldung eine Dummheit begangen zu haben, bemühen wir uns, diesem Befehl besonders schnell und exakt nachzukommen. Nur nicht anecken, ist unser einziger Gedanke. Wir werden auf den Hof vor das Schlafgebäude kommandiert. Dort nimmt uns ein Doppelposten in Empfang, der uns vor den Lazaretthof jagt. Wie ungern erinnere ich mich an diese Stunden! Alles, was ich bis zu dem Tage erlitten habe, verblaßte vor dem Anblick, der sich mir jetzt bot.
Unter Schlägen und Fußtritten, begleitet von wüsten Schimpfworten, schleppte sich der bis zur Unkenntlichkeit beschmutzte und zerschundene Hans Litten über den Hof. In Kniebeuge und auf dem Bauche rutschend, durchquerte der Bedauernswerte immer wieder den von sechs Meter hohen Mauern umgebenen Lazaretthof. Das Kommando führten dabei abwechselnd zwei SS-Männer. Des einen Name und Zivilberuf: Achim Person, Student.
Littens Zusammenbruch schien nahe. Da erhielt er von Person den Befehl, in die linke hintere Hofecke zu hüpfen. Hier befand sich, wie jeder von uns wußte, ein kleiner Jauchetümpel. Die kurzen Exerzier- und Austretepausen der SS-Männer ließen diese Urinpfützen entstehen. Den Kopf über die Pfütze haltend, wurde Litten gezwungen, Liegestütz zu üben. Um das Durchhängen des Leibes zu verhindern, griff der SS-Mann Person nach seinem Seitengewehr und hielt es, mit der Spitze nach oben gerichtet, unter den Bauch seines Opfers. Abwechselnd schlugen beide Posten dem sich mit der Übung Abquälenden auf Gesäß und Rücken. Mit flachem Bajonett. Das währte so lange, bis Litten zusammenbrach und mit dem Gesicht in die Latrine fiel. Befehlsgebrüll und Fußtritte vermochten nichts mehr gegen seine Apathie. Man schleifte ihn vom Hof.
Der Münchener Kamerad und ich hatten bis zu diesem Augenblick, dem Befehle folgend, in strammer Haltung stehend, zusehen müssen. Nach der Fortschaffung von Litten exerzierte man mit uns.«
Nach meinem Besuch beim Kommandanten wurde vieles besser. Die schwere Arbeit, das Extraschinden beim Exerzieren, das immer noch schlimm genug war, hörte auf. Das Lager war in verschiedene Abteilungen geteilt. Zwei Abteilungen waren mit alten Leuten, Invaliden und Kranken belegt. Durch besondere Protektion kamen auch manchmal andere hinein.
Am 1. November 1933 kam auch Hans in eine solche Abteilung.
Hans taute auf, sah besser aus, und auch sein Magen wurde besser, als die Mißhandlungen aufgehört hatten. Er war manchmal direkt übermütig. Meine verschiedenen Erfolge hatten ihm den festen Glauben gegeben, daß jede Stunde meines Lebens ihm und dem Kampf um Besserung seiner Situation gelte. Er hat mir anscheinend Wunderkräfte zugetraut.
*
Ich hatte in den Tagen, als die schlimmen Nachrichten kamen, auch einen Besuch bei Frau Sonnemann, der Schauspielerin, gemacht, ihr über das Benehmen des Kommandanten berichtet und über die ganzen furchtbaren Zustände dort. Da ich nicht überzeugt war, daß Conrady sein Versprechen halten würde, hatte ich sie schriftlich um eine baldige Unterredung gebeten. Sie rief mich sofort nach Empfang meines Briefes an, sagte, sie müsse in zwei Stunden für längere Zeit verreisen. Wenn ich sofort zu ihr käme, könne sie mich gerade noch empfangen.
Sie war schon fertig für die Reise angezogen, eine vornehme Erscheinung. Trotz meiner Sorge war mein erster Gedanke: »Wie kann diese Frau sich zu einer Freundschaft mit Göring erniedrigen!«
Sie war ziemlich erschrocken, als ich ihr den Grund meines Besuches und den Tatbestand schilderte. Sie hatte geglaubt, es handele sich um meine Theater-Söhne, über die sie Bescheid wußte. Sie hatte nämlich ihren sehr verehrten Lehrer, Leopold Jeßner, besucht, der ihr gesagt hatte: »Sorgen Sie dafür, daß mein Schüler Heinz Litten wieder als Regisseur beschäftigt wird. Es ist ein Jammer, wenn die Kraft dieses begabten Menschen brach liegt.«
Sie war nun sichtlich erschüttert, weinte sogar, und sagte empört: »Es ist doch schrecklich, daß immer wieder solche Dinge passieren, obwohl Göring das aufs schärfste verboten hat. Natürlich muß Ihr Sohn von dort fort. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Sie dürfen nur nicht erwarten, daß das so schnell geht. Zunächst verreise ich für eine Woche. Und dann muß ich eine Gelegenheit abpassen, wo ich mit Göring unter vier Augen bin. Das kommt jetzt sehr selten vor. Der arme Mann ist so furchtbar überlastet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr er alle seine Kräfte dem Wohle des Volkes widmet. Wie er keinen anderen Gedanken kennt als das Wohl des Volkes, wie ihm das Herz blutet, wenn er hart sein muß. Aber auch das geschieht ja nur zum Wohle des Volkes. Außerdem muß ich einen Moment abwarten, wo Göring guter Stimmung ist. Hat Göring sich gerade über einen Kommunisten geärgert, so verderbe ich alles, wenn ich am selben Tage mit ihm über Ihren Sohn spreche.«
Ich bin überzeugt, daß sie wirklich glaubte, was sie sagte, daß Göring sich so in ihrer gläubigen Seele spiegelte. Es ist überhaupt erstaunlich, wie es Göring fertiggebracht hat, sich beim Volke noch immer einer gewissen Popularität zu erfreuen. Noch erstaunlicher, daß er im Ausland vielfach als der gemäßigte Vertreter des Nazi-Regimes angesehen wurde, auf den man sich noch am ehesten verlassen könne. Hat man vergessen, daß dieser Mann den Reichstagsbrand angestiftet und überwacht hat, daß er persönlich für die Ermordung des General Schleicher und seiner Frau verantwortlich ist, daß er unzählige Morde und Selbstmorde in den Konzentrationslagern auf dem Gewissen hat, daß er dafür sorgt, daß in Deutschland das Handbeil nicht zur Ruhe kommt?
Hat man vergessen, daß er seinen prunkvollen Hochzeitstag mit Emmy Sonnemann durch zwei Hinrichtungen einläuten ließ?